Redaktion: Hans-Georg Vorndran

BlickPunkt.e Nr. 6 / Dezember 2015

 

Abraham im Neuen Testament:
Der Vater des Glaubens, der Liebe, der Hoffnung und Jesus Christus, der Diener seiner beschnittenen Nachkommen
von Klaus-Peter Lehmann

1. Bekräftigung der Verheißungen Abrahams durch den Dienst Jesu Christi für Israel
Wir beginnen mit einem Hinweis auf Röm 15,8: Ich sage nämlich, dass der Gesalbte Diener der Beschneidung geworden ist wegen der Wahrhaftigkeit Gottes, um die Verheißungen der Väter zu bestätigen. Mit anderen Worten: Das messianische Werk Jesu ist ein Dienst an Israel, durch welchen er den Verheißungen an die Väter (1Mose 12,1-3) neue Kraft gibt.
Die Landverheißung und die Volkswerdung Israels wurden erfüllt, doch waren unter den Großmächten, auch den Römern, das sichere Wohnen im Land und der Bestand des Volkes immer wieder gefährdet. Die Feindschaft aus den Völkern gegen Israel soll nun beendigt werden (Luk 1,71-75), indem der Messias den von Thora, Propheten und Psalmen immer neu erinnerten dritten Teil der Verheißungen an Abraham, den Völkerfrieden (Apg 3,25), einläutet und auf den Weg seiner geschichtlichen Verwirklichung bringt. (1)  Paulus entwirft aus den Schriften die prophetische Vision eines gemeinsamen Gottesjubels von Israel und den Völkern (Röm 15,9-12). Wenn infolge des Dienstes der Apostel der Lobgesang für den Gott Israels und seine Gerechtigkeit sich unter den Völkern ausbreitet, dann wird auch die feindliche Bedrängnis Israels schwinden und die Verheißungen schließlich verwirklicht werden.

2. Die Berufung von Heiden in die Verheißungsgemeinschaft mit Israel
In dem wichtigen Kapitel 4 des Römerbriefes geht es dem Gesandten zu den Völkern, dem Völkerapostel Paulus, darum dazulegen, dass es eine Möglichkeit gibt, in die Nachkommenschaft Abrahams einzutreten, ohne Jude zu werden: Diese Seligpreisung nun, gilt sie der Beschneidung oder auch der Unbeschnittenheit? (V.9). Ohne einen aus der Thora erschließbaren Hinweis auf eine solche Möglichkeit zu sehen, hätte der rabbinisch gelehrte Paulus diese Frage nicht gestellt. (2) In Röm 4 geht es um die exegetische Erschließung der Möglichkeit dieses auch. Paulus versucht darzulegen, dass die Verheißung für die ganze Nachkommenschaft fest sei, nicht allein für die aus der Thora, sondern auch für die aus dem Vertrauen Abrahams, der unser aller Vater ist (V.16).
Weshalb ist Abraham Vater nicht nur derer, die in der Thora erzogen sind und als praktizierende Juden zum Vertrauen auf die Verheißungen kommen, sondern auch derer, die quasi eine Abkürzung, eine Tür fanden, die direkt zum Vertrauen in die Verheißungen führt (Apg 14,27)?
Paulus hat zwei Argumente: Auch Abraham kam zum Vertrauen auf die Verheißungen als Unbeschnittener (Röm 4,10-12) und auch die Christusgläubigen vertrauen auf den Gott, der Tote erweckt. Sie, so argumentiert Paulus, vertrauen wie Abraham gegen alle Hoffnung auf Hoffnung hin (Röm 4,18; 8,24; Hebr 11,1). Denn indem sie dem vertrauen, der Jesus von den Toten erweckte, vertrauen sie wie Abraham, der gegen die widersprechende Realität von Sarahs und seinem erstorbenen Leib am Wort der Verheißung auf viele Nachkommen festhielt. Beide vertrauen dem Gott, der Tote lebendig macht, und das, was nicht ist, ins Dasein ruft. Abraham vertraute der Verheißung, Vater vieler Völker zu werden, obwohl er in hohem Alter noch keinen Nachkommen hatte, als in Frage stand, ob er überhaupt noch Vater werden könne (Röm 17b-21). Ebenso vertrauen nun Christen aufgrund der Auferweckung Jesu gegen alle Hoffnungauf die kommende Auferstehung der Gerechten bzw. Toten (Luk 14,14; 1Kor15,12ff) oder die Herrlichkeit Gottes (Röm 5,2), auf die Abraham schon zugesagte Völkerversöhnung im Reich Gottes, auf die Herstellung alles dessen, was Gott durch den Mund seiner heiligen, von Ewigkeit her ausgesandten Propheten geredet hat (Apg 3,21). So wie jener trotz widersprechender Realität am Zuspruch der Nachkommenschaft nicht zweifelte, so halten auch diese trotz widersprechender Weltzustände die Hoffnung auf die Kraft des Verheißungswortes, auf die Weltrevolution des Reiches Gottes, dessen Nähe Jesus Christus verkündigt, aufrecht.Ein drittes Argument kommt hinzu. Wer diese Machtfülle der Verheißung, ihr geistliches Wirken unter den Völkern, nicht anerkennt, beraubt sie ihrer eigentlichen Kraft (Röm 4,14). (3)
Warum ist dieser Schrifterweis für den Völkerapostel so wichtig? Welche Intention verfolgt er? Er sucht nach nichtjüdischen Genossen der Verheißung (Eph 3,6) und Dienern der Beschneidung. Es geht ihm um Solidarität mit Israel, die aus den Völkern kommt. Solche Genossenschaft können Heiden aber nicht von sich aus ausüben, als Heiden ohne Hoffnung (Eph 2,12). Nur wenn sie zu Hoffenden und Vertrauenden wie Abraham geworden sind, können sie in das Gotteslob mit Israel eintreten, den Völkerfrieden befördern und taugliche Diener der Beschneidung werden.

3. Der Leib Christi im Dienst der Verheißungen Abrahams und der Befreiung Israels
Im Blick auf Kapitel 4 des Römerbriefes gestaltet sich der Dienst des Messias unter den Völkern so, dass er Menschen aus den nichtjüdischen Völkern zu Verheißungsgläubigen wie Abraham macht. Diese nichtjüdischen Verheißungsgläubigen bilden (mit einigen Juden (4)) im Vertrauen auf die Auferweckung Jesu eine neue Gemeinschaft, einen Leib in Christus Jesus, der mit Israel zusammen unter dem Erwartungshorizont der Verheißungen lebt: Die Heiden sollen Miterben und Miteinverleibte und Mitgenossen der Verheißung sein in Christos Jesus durch das Evangelium (Eph 3,6). In dieser Gemeinschaft der Verheißung ist der Leib Christi, d.h. die Kirche Jesu Christi, dem Volk Israel durch einen Dienst zugeordnet.
Der Leib Christi ist die messianische Gemeinde des Völkerfriedens, in der die sozialen Beziehungen nicht mehr von den zwischenmenschlichen Unterschieden geprägt werden, sondern nur noch die Gemeinsamkeit ihrer Gotteskindschaft, ihre Gemeinschaft unter den Verheißungen Abrahams gilt: Denn ihr seid alle Söhne Gottes durch den Glauben an Christus Jesus. Denn ihr alle, die ihr auf Christus getauft worden seid, habt Christus angezogen. Da ist nicht Jude noch Grieche, da ist nicht Sklave noch Freier, da ist nicht Mann und Weib; denn ihr seid alle einer in Christus Jesus. Wenn ihr aber Christus angehört, seid ihr ja Abrahams Nachkommenschaft, Erben gemäß der Verheißung. (Gal 3,26-29; vgl. Kol 3,9-11). In dieser Vielvölkergemeinde ist der Abraham verheißene universale Völkerfriede, das Reich Gottes, vorwegnehmend verwirklicht.
Dieser Leib Christi ist als lebendige Gemeinschaft des Völkerfriedens Träger der Barmherzigkeit, die Gott durch sie, Abrahams nichtjüdische Nachkommen und unbeschnittene Verheißungsgläubige, Abrahams jüdischen Nachkommen, seinem Volk Israel, zukommen lassen will. Die Kirche Jesu Christi dient dem Gottesvolk Israel, indem sie an seiner Seite durch ihren Herrn wie Abraham in den Verheißungen lebt. So trägt sie Israel Gottes Barmherzigkeit, den verheißenen Völkerfrieden, zu und wird sein Gehilfe bei der Erfüllung der Verheißungen Abrahams.
Von daher verstehen wir auch Römerbrief Kap. 11,28-32: Paulus sagt, Gott erweist allen, Juden und Heiden, Barmherzigkeit (V.32). Letzteren ist sie aktuell in der Einsetzung zu Miterben der Verheißung durch Jesus Christus zuteil geworden (Eph 3,6). Dazu kam es infolge der Ablehnung der Messianität Jesu durch die große Mehrheit der Juden. Deshalb der Umweg der Barmherzigkeit Gottes über die Völker zu Israel. Den Juden, die durch die Erwählung Geliebte um der Väter willen bleiben, kommt die Barmherzigkeit nun durch jene neuen wie Abraham Vertrauenden zu: damit infolge der Barmherzigkeit gegen euch auch sie Barmherzigkeit erlangen.
Die Barmherzigkeit isteinganz konkretes Geschehen: Gott gedachte der Barmherzigkeit gegenüber Abraham, um Israel treu zu bleiben und das Volk zum wiederholten Mal aus der Hand seiner Feinde zu befreien (Luk 1,50ff). Wie damals aus dem Sklavenhaus Ägyptens: Er ließ sie durch Fluten ziehen wie über die Trift. Er half ihnen aus der Hand des Hassers und erlöste sie aus der Gewalt des Feindes (Ps 106,9f), so heute von dem Joch der Römer: Errettung von unsern Feinden und aus der Hand aller, die uns hassen (Luk 1,71). Mithilfe des neu erweckten Erfüllungsgehilfen, des Leibes Christi, kommen der Völkerfriede und damit für Israel dauernde Befreiung näher.
Lukas stellt das Kommen des Messias unter den Horizont der Verheißungen an Abraham. Im Magnificat (Luk 1,46-55) und im Lied des Zacharias (1,67-79) beschreibt er seine Ankunft als Fortführung der mit Abraham begonnenen Geschichte Gottes mit seinem Volk. Gott gedenkt seines Eides, den er Abraham geschworen hat (1,72f), er gedenkt seiner Barmherzigkeit gegenüber Abraham (1,54f). Mit der Sendung des Messias nimmt sich Gott seines Volkes erneut an (1,54.68), indem er durch ihn die Zusagen seines Eides, den er Abraham, unsrem Vater, geschworen hat, ihrer geschichtlichen Verwirklichung entgegenführt. Durch den ewigen Völkerfrieden wird Israel für immer aus der Hand seiner Feinde befreit sein.
Die Verwirklichung des Abraham versprochenen Völkerfriedens bedeutet eine Gabe für Israel: uns zu geben, dass wir ohne Furcht, aus der Hand unserer Feinde befreit, ihm dienen in Heiligkeit und Gerechtigkeit (1,73f). Dementsprechend fragen die Jünger den Auferstandenen: Herr, stellst du in dieser Zeit das Reich für Israel wieder her? Er sprach zu ihnen: Euch gebührt es nicht Zeit oder Stunde zu wissen, die der Vater in seiner eigenen Macht festgesetzt hat (Apg. 1,6f).Der Dienst des Messias an Israel besteht darin, dass er Israel aus dem Würgegriff seiner Feinde befreit und sein Königreich wiederherstellt, indem er durch die Aussendung seiner Apostel bis ans Ende der Erde (Apg. 1,8) für den Völkerfrieden wirkt und auf diesem Wege Israel bei der Verwirklichung seiner Verheißungen zur Seite steht. Das ist die Mission der Völkerapostel des Messias Jesus. Sie sind mit ihren Gemeinden in der Situation des Abraham. Sie vertrauen missionarisch aktiv auf die geschichtliche Verwirklichung der messianischen Hoffnung, ohne in der vorfindlichen Realität dafür einen Anhaltspunkt zu haben. Sie haben nur das Wort, das eidliche Versprechen Gottes (promissio Dei) aufgrund der Väter Israels und bekräftigt in Jesus Christus und denen aus den Völkern, die eine Tür zum Glauben wie Abraham gefunden haben (Apg 14,27).

4. Gott gedachte Abrahams
Gottes befreiendes Handeln an Israel und den Völkern geschieht immer im Blick auf die Erfüllung der Verheißungen an Abraham. Auf ihre Verwirklichung hat Gott sich selber in einem Eid festgelegt (1Mose 22,16; Ps 105,8f; Luk 1,73). Ein Handeln Gottes ohne Bezug auf diese Eidesworte wäre nicht das geschichtliche Handeln des Gottes Abrahams. Der Gott Abrahams und Israels handelt, indem er Abrahams gedenkt.
So bekräftigt Gott seine eidlichen Zusagen immer wieder. Dem Isaak erklärt er: Ich will dein Geschlecht so zahlreich machen wie die Sterne am Himmel... weil Abraham auf mein Wort gehört und alles gehalten hat, was er mir zu halten hatte: meine Gebote, Satzungen und Gesetze (1Mose 26,1-5). Abraham lebte ganz im Hören und Halten, d.h. in vollkommenem Vertrauen auf das Wort Gottes. - Auf dieses Vertrauen bezieht sich Paulus in Röm 4. - Gott erneuert seine Versprechungen gegenüber Abrahams Nachkommen, weil Abrahams Lebensweg sich vollkommen nach den Worten und Weisungen Gottes richtete. Um Abrahams willen rettet er auch seinen Neffen Lot: Und als Gott die Städte in der Niederung vernichtete, da gedachte er Abrahams, und er geleitete Lot hinweg aus der Zerstörung (1Mose 19,29). Auch der Exodus ist ein Geschehen des Gedenkens an Abraham: Er gedachte seines heiligen Wortes, das er Abraham seinem Knechte gegeben. So ließ er sein Volk ausziehen in Freude (Ps 105,43f).Mose bittet Gott sich um der Väter willen seines Volkes weiter anzunehmen und sich nicht an ihren Sünden zu kehren (5Mose 9,26f).
Ähnlich dann bei Lukas: Gott gedachte Abrahams, d.h. um Abrahams willen sendet Gott den Messias, um sich seines Volkes anzunehmen und seine Verheißungen zu verwirklichen. Sowohl das Magnificat wie der Lobgesang des Zacharias sprechen davon, Gott habe Abrahams gedacht (mnästhänai; 1,54.72) und sich seines Volkes (1,68)oder Knechtes (pais, auch: Sohn; 1,54)) angenommen (antelabeto, 1,54; epeskepsato = aufgesucht, 1,68).
Man könnte sagen, Inhalt des Evangeliums ist: Gott nimmt sich seines Volkes Israel zum wiederholten Male an, indem er Abrahams gedenkt, seines Eides, den er ihm geschworen hat (1Mose 22,16; Luk 1,73), und zur Verwirklichung seiner Verheißungen den Messias sendet. Der Messias Jesus ist Gottes Werkzeug zur Inkraftsetzung der Verheißungen an Abraham, der Landzusage, der Volkswerdung und des Völkerfriedens (1Mose 12,1-3). Die neue Strategie des Christos Jesus bzw. seines Apostels Paulus besteht darin, Israel den Völkerfrieden zuzutragen durch den Leib Christi, das sind die vielen messianischen Gemeinden in der römischen Welt, und auf diesem Wege Israel aus seiner Umklammerung durch großmächtige Unterdrücker und Feinde zu befreien und ihm ein ungefährdetes Leben im Land zu ermöglichen.

5. Jesus, Sieger über Tod und Teufel, befreit Israel und die Völker von der Macht des Todes
Eine Frage, die hier aufkommt und nur andeutungsweise beantwortet werden kann, ist: Wieso erblickten die Jünger in Jesus von Nazareth den Messias, für den anders als für die Propheten des Alten Testamentes nicht Jerusalem den Ausgangspunkt für den Weltfrieden darstellte (Jes 2,1-5), sondern die Bewegung für den Frieden auf Erden (Luk 2,14) von den messianischen Völkergemeinden her sich Israel zuwenden sollte?
Wer ist der hartnäckigste Feind einer gerechten Weltordnung und des Völkerfriedens? Der Tod. Tyrannen dünken sich als Herrscher über Leben und Tod, Beherrschte ducken sich aus Angst, den Aufstand fürchten alle. Deswegen verheißt der Prophet Jesaja: Vernichten wird er auf diesem Berge die Hülle, die über alle Völker gedeckt ist. Vernichten wird er den Tod auf ewig (Jes 25,7f). Der ewige Völkerfriede ist nicht denkbar, ohne dass die Macht des Todes gebrochen wird.
Das Neue Testament preist Jesus Christos als den Sieger über den letzten, den eschatologischen Feind (eschatos echthros, 1Kor 15,26): Der Tod ist verschlungen in den Sieg! Tod, wo ist dein Sieg? Tod, wo ist dein Stachel? (1Kor 15,54f). Jesus Christos ist der, der durch seinen Tod den zunichte machte, der die Macht über den Tod hat, das heißt: den Teufel, und alle die befreite, die durch Furcht vor dem Tod ihr ganzes Leben lang einer Knechtschaft verfallen waren (Hebr 2,14f).
Das griechische Wort für Furcht (= phobos) wird auch für Gottesfürchtige (Apg 10,2) verwendet, meint also nicht nur die individuelle Todesangst, sondern, im Gegenbild zur Gottesfurcht, auch die mit Furcht untermischte religiöse Verehrung des Todes als Menschen beherrschende Macht, als Schicksalsmacht. In allen heidnischen Religionen ist eine Art von religiöser Verneigung vor dem Tod Integral ihrer Frömmigkeit. In Israel galt das als Gräuel. Die Fruchtbarkeitsreligionen Kanaans basierten wie auch anderswo auf dem Konzept eines alles Lebendige durchdringenden Werdens und Vergehens. Kinderopfer, Totenbefragung und Geisterbeschwörung waren kanaanäische Praktiken, von der Thora verurteilte religiöse Bräuche (5Mose 12,31; 18,9ff). Aber auch für den Talmud gilt, dass Abraham aus der Sternendeuterei ausgezogen ist (Nedarim 32a). Israels Gottesverhältnis lässt keine Analogiebildungen mit naturgesetzlichen Zusammenhängen zu. Diese laufen immer auf eine religiöse Eingemeindung des Todes hinaus. Das religiöse Verhältnis zum Tod ist Grundlage seiner weltweiten politischen Macht.
Die Juden sind durch den Exodus, den Bund mit dem Gott der Liebe und durch den Glauben an den Gott, der Tote lebendig macht und das, was nicht ist, ins Dasein ruft (1Mose 15,5; Röm 4,17), dem Machtbereich des Todes im Glauben schon entzogen. Israel hat Gottes befreiende Geschichtstaten immer auch als seine Befreiung aus dem Machtbereich des Todes erfahren und geglaubt (Ps 56,14; 116,8f). Die Bundesgemeinschaft Israels mit Gott, ist Gemeinschaft mit dem Gott der Liebe. So wie er Israel aus Liebe erwählt (5Mose 7,8), so soll auch Israel ihn von ganzem Herzen lieben (5Mose 6,5). Das ließe sich mit 1Joh 3,14 auslegen: Wer nicht liebt, bleibt im Tode. Im Bund mit dem Gott der Liebe, ist Israel der Macht des Todes religiös schon entzogen. Gottes Volk hofft auf die Befreiung vom Tod als politischer Macht der Unterdrücker, der Tyrannen (Jes 25, 1-8).
Die Furcht vor der Macht des Todes betrifft beide, Juden und Heiden. Mag bei den Juden seine religiöse Verehrung fehlen, es bleibt für sie, solange die Heiden herrschen, durch deren Feindschaft die Furcht ums Überleben. Hat Jesus die Macht des Todes besiegt, dann geht von ihm die Befreiung aller Völker von der Todesmacht aus, der Juden und der Heiden. Denn die Zerstörung der religiösen Macht des Todes hat auch seiner politischen Macht Grundlage und Legitimation entrissen. Die Entmythologisierung des Todes durch die Botschaft vom gekreuzigten und auferstandenen Messias (Kol 2,13-15) in der heidnischen Völkerwelt wird Israel auch von der politischen Bedrohung endgültig befreien.
Weil Jesus Christus in seinem Tod den Tod bezwungen hat, d.h. als erster Auferstandener das Zeitalter eines von jeder Todesdrohung freien Völkerfriedens eingeläutet hat, ist er Gottes Werkzeug, um die Erfüllung der Verheißungen an Abraham voranzubringen. Der im himmlischen Regiment Gottes sitzende Auferstandene bringt sie durch seinen irdischen Leib (Kol 2) auf dem Umweg über die Völker für Israel voran. In der Völkergemeinschaft seines Leibes ist er unser Friede, der beide Teile zu einem Ganzen gemacht und die Scheidewand des Zaunes, die Feindschaft der Völker gegen Israel abgebrochen hat in seinem Fleisch (Eph 2,13f). Hier leben nach dem Bilde ihres Schöpfers, vereint durch das Band der Liebe zu einem Leibe, Griechen, Juden, Beschnittene, Unbeschnittene, Barbaren, Skythen, Sklaven und Freie (Kol 3, 10bf.14). Hier ertönt vor aller Welt wie in Israel das Lob des Gottes Abrahams. Als eine internationale, Juden und Heiden vereinende Gotteslob- und Liebesgemeinschaft soll die Kirche Jesu Christi Israel aus der antisemitischen Umklammerung lösen, indem sie dem Gottesvolk seine eigenen Verheißungen durch ihre weltweite Verbreitung entgegenbringt. Dann wird Israel erlöst aus der Hand unsrer Feinde ohne Furcht ihm dienen in Heiligkeit und Gerechtigkeit (Luk 1,74f).

6. Abraham – Vater des Glaubens, der Liebe und der Hoffnung
Nur weil Abrahams Glaube, sein unbedingtes Vertrauen in die geschichtliche Verwirklichung der ihm zugesprochenen Verheißungen Gottes, unerschütterlich war, kann er Vater vieler Völker werden, d.h. auch späteren Generationen zu demselben Vertrauen verhelfen. Im Neuen Testament steht für das deutsche Wort Glaube das griechische pistis, das ziemlich genau mit dem deutschen Wort Vertrauen übereinstimmt. Weil bei einer Übersetzung mit Glaube für den heutigen Hörer seine inhaltliche Bestimmung als Vertrauen in die konkreten Verheißungen (1Mose 12,1-3: Land, Volk, Völkerfriede für Israel) verloren geht, wäre ein durchgängiger Ersatz des verselbständigten Wortes Glaube, das im Sprachgebrauch zu einer unbestimmten Chiffre für religiöse Haltung verflacht ist, angeraten. Wir wechseln im Wortgebrauch (Vertrauen = Glaube = Verheißungsglaube = Verheißungsliebe), um deutlich zu machen, was mit Glaube eigentlich, d.h. in der Welt der Bibel gemeint ist.
Außerdem ist zu beachten, dass Glaube, Liebe und Hoffnung zusammengehören und nicht isoliert existieren können. Und wenn ich Vertrauen habe, sodass ich Berge versetze, habe aber die Liebe nicht, so bin ich nichts (kai ean echoo pasan teen pistiv hooste oree methistanai, agapeen de mee echoo, outhen eimi, 1Kor 13,2). Hier wird die zum Verheißungsglauben unabkömmlich dazugehörige Seite angesprochen, eine für das Judentum und Paulus selbstverständliche Sache: Es gibt keinen anderen Glauben als den, der in der Liebe tätig ist. (5) Paulus spricht im Galaterbrief vom Vertrauen, das durch die Liebe wirksam wird (Gal 5,6).
Von daher wird es beinahe unverständlich, wieso manche einen Gegensatz zwischen Paulus und Jakobus zu erkennen meinten. (6) Jakobus schreibt: Ihr seht, dass der Mensch aus Werken gerechtgesprochen wird und nicht aus Glauben allein (Jak 2,14). Ihmgeht es in seinem Brief (Jak 2,14-26) um den Nachweis, dass ein Vertrauen in die Verheißungen ohne tätige Liebe undenkbar ist. Deshalb leitet er den diesbezüglichen Abschnitt mit der Frage ein: Was hilft es, meine Brüder, wenn jemand sagt, er habe Vertrauen, aber keine Werke hat? Ein solches Vertrauen geht ins Leere, ist unwirksam und nichtig. Vertrauen ohne Werke ist tot (V. 26).
Diese Sicht liegt auch der für die Argumentation des Paulus entscheidenden Stelle 1Mose 15,6 zugrunde: Er (Abram) vertraute auf den Herrn, und das rechnete er ihm als Gerechtigkeit an. Gott selber erklärt hier die unabdingbare Zusammengehörigkeit von Vertrauen (ämunah) in seine Verheißungen und Gerechtigkeit (zdakah) als zwischenmenschlicher Pflicht. (7) Indem er die Pflicht dem vertrauenden Abram frei zurechnet, erklärt er sie zur anderen, spontanen, praktischen Seite des Vertrauens. Gott erkennt Abram als einen, der seinem Wort bedingungslos vertraut und betrachtet ihn deshalb auch als einen, der bedingungslos liebt.
Die Erzählungen von Abraham zeigen ihn denn auch als einen, der bedingungslos glaubt und liebt. Gott fordert Abraham zur Vollkommenheit auf (1Mose 17,1); Abraham lacht vor Freude, als ihm, dem 100jährigen, die Geburt eines Sohnes angekündigt wird (17,17); er praktiziert bedingungslose Gastfreundschaft (18,1-8); er plädiert vor Gott für das Überleben der notorischen Sündenstadt Sodom um der dort lebenden Gerechten willen (18,17ff); Gott betrachtet Abraham als Gerechten, sodass er um seinetwillen Lot aus der Zerstörung hinausführt (19,29).
Wegen der zwei Seiten der in sich einigen „Vertrauens-Liebe“ kann Jakobus auf die Frage, welches Vertrauen rettet, antworten, dass unser Vater Abraham aus Werken gerecht gesprochen worden ist:
Was hilft es, meine Brüder, wenn jemand sagt, er habe Glauben, aber keine Werke hat? Kann etwa der Glaube ihn retten? Wenn ein Bruder oder eine Schwester unbekleidet sind und an der täglichen Nahrung Mangel leiden und jemand von euch sagt zu ihnen: gehet hin in Frieden; kleidet euch warm und esset euch satt – ihr gebt ihnen aber nicht, was für den Leib nötig ist, was hilft das? So ist auch der Glaube, wenn er nicht Werke hat, in sich selbst tot... Ist nicht unser Vater Abraham aus Werken gerecht gesprochen worden, als er seinen Sohn Isaak auf den Altar legte? Da siehst du, dass der Glaube zusammen mit seinen Werken wirksam war und aus den Werken der Glaube vollendet wurde und das Schriftwort erfüllt wurde, das sagt: Abraham aber glaubte Gott, und es wurde ihm zur Gerechtigkeit angerechnet, und er wurde ein Freund Gottes genannt (Jak 2,14-17.21-23).
Wenn Paulus vom Gesalbten als dem Diener der Beschneidung spricht,dann dürfen wir diesen Dienst als eine Gestalt der Liebe (agapee) verstehen. Insofern können wir, allerdings nur cum grano salis, von einer den Christen gebotenen Liebe zu Israel sprechen. Doch bleibt die Wortwahl des Neuen Testamentes richtungsweisend. Die geschöpfliche Liebe kann entsprechend dem Doppelgebot als ansprechbarem Gegenüber nur Gott (im Gebet) oder dem Nächsten (in persönlicher Zuwendung) gelten. Israel als gesellschaftspolitische Größe ist für den Menschen – anders als für Gott, der Israel erschaffen hat (Jes 43,1) – kein mögliches Objekt seiner Liebe. Für Israels Bestand oder Wohlergehen kann der Mensch nur dienen, allerdings als unmittelbare und konkrete Auswirkung seiner Liebe zum Gott Israels bzw. seinem Vertrauen in die Verheißungen Abrahams. (8)
Abrahams Vertrauensliebe hat Bedeutung für die Menschheit. Worin können nach Gerechtigkeit Hungernde (Mt 5,6), die immer wieder mit ihrem Ausbleiben konfrontiert werden, Trost und Hoffnung finden, wenn nicht durch einen Menschen wie Abraham, kraft dessen bedingungsloser Hingabe an diese Hoffnung ein Bundesvolk unter der Weisung (Thora) der Gerechtigkeit Eintritt in die Menschheitsgeschichte gefunden hatte? Ein Volk, in dessen Gotteshaus um das Kommen des Reiches der Gerechtigkeit regelmäßig gebetet wird? Dein Reich komme! Ein Volk, dessen messianische Glut nicht erlischt, sondern von ihm auf andere Völker überspringt oder sich wie bei Abraham in Geduld übt? Israel hat sich mit Abraham immer getröstet. Auch die Christen dürfen als Mitgenossen der Verheißung in Jesus Christus (Eph 3,6) durch ihn Hoffnung haben. Deshalb hält der Hebräerbrief seinen Hörern vor: Aus Vertrauen erwies sich Abraham, als er berufen wurde, gehorsam,... und er zog aus, ohne zu wissen, wohin er komme... Aus Vertrauen siedelte er im Lande der Verheißung als in einem fremden... Denn er wartete auf die Stadt, die die festen Fundamente hat, deren Erbauer und Schöpfer Gott ist (Hebr 11,8-10).
Zu dieser Hoffnung gehört der Verzicht, die Ankunft am Ziel zu erleben, zu handeln, ohne das gelobte Land zu betreten. Die Zukunft, für die das Werk unternommen wird, muss von Anfang an gesetzt werden als gleichgültig gegen meinen Tod. (9) Abraham ist das Vorbild für eine Hoffnung, die gleichgültig ist gegen den eigenen Tod. Abraham verzichtet darauf, den Erfolg des eigenen Handelns zu erleben. Das Vertrauen auf die Verheißungen intendiert eine Zeit jenseits des Horizontes der eigenen Zeit. Biblische Eschatologie sieht ihr Ziel nicht (Röm 8,24; Hebr 11,1). Denn Abraham zielt auf den gerechten Äon, ohne Aussicht ihn erleben zu können. Die Hoffnung auf das Reich Gottes ist reine Hoffnung, eine selbstlose Intention, Eschatologie ohne Hoffnung für sich oder Befreiung von meiner Zeit. (10)
Haben wir Christen allein durch Jesus Christus Anteil an der Verheißung des Reiches Gottes? Ist in Jesus Christus allein die Hoffnung für Christen und für die Menschheit beschlossen? Ja. Aber es muss unbedingt dazugesagt werden, wer oder was in Jesus Christus beschlossen ist. Nämlich Abraham und seine Verheißungen. Wenn diese nicht als der Inhalt unseres Reich-Gottes-Glaubens angenommen werden, den Christus für uns erworben hat und uns schenkt, dann mutiert er zu einer inhaltslosen Geschenkhülle, zu einem nichtigen Götzen. Christus ist nicht als isolierte Person der exklusive Inhalt des christlichen Glaubens. Unsere Erinnerung an Abraham als Inhalt des in Jesus Christus beschlossenen Vertrauens will den christlichen Glauben aus seiner Neigung zur exklusiven Fokussierung auf die Person Jesu Christi und damit aus seiner Vergötzung lösen. Gott hat sich durch ihn seines Volkes angenommen (Lk 1,68; 7,16; Mt 15,31) und die Verheißungen an Abraham bekräftigt. Jesus Christus ist für uns der Anker der Verheißungen. Er steht in ihrem Dienst, identifiziert sich mit ihnen und Israel (Mt 14,14; 15,32) und hat für uns Anteil an ihnen erworben. Das Vertrauen in den Messias Jesus ist nicht Ziel, sondern Mittel: Ihr seid alle Söhne Gottes durch den Glauben an Christus Jesus und Abrahams Samen, Erben gemäß der Verheißung (Gal 3,26ff). Wir wenden uns nun den neutestamentlichen Stellen zu, die Jesus als den bezeugen, der in Israel die schwachen Söhne Abrahams wieder aufrichtet.

7. Aufrichtung und Rettung der verlorenen leiblichen Söhne Abrahams
Im Gleichnis vom reichen Mann und vom armen Lazarus (Luk 16,19-31) redet Jesus vom Schoß Abrahams, dem Ort der Seligkeit für die Erlösten, dem Ort des endgültigen Friedens für die Nachkommen Abrahams. Er spricht von Abraham als eschatologischem Richter und Retter. Sein umfassendes Kriterium als Richter kann nur die Frage nach dem Verhältnis sein, in dem das Leben des Lazarus und das Leben des reichen Mannes zu den Verheißungen Abrahams, zum Reich Gottes gestanden haben. Die Zugehörigkeit zum Reich Gottes meint eine sehr enge Beziehung zu Abraham, (11) den mit seinem Namen ergangenen Verheißungen. Lazarus wird nach seinem Tod von Engeln in den Schoß Abrahams getragen, der Reiche findet sich von Qualen geplagt im Totenreich wieder (V.22f). Zwischen beiden Orten liegt unverrückbar fest (esteeriktai) ein unüberbrückbarer Schlund (chasma, V.26). Das konkrete Kriterium für die Zugehörigkeit zum einen oder anderen Ort ist der praktische Gehorsam gegenüber Moses und den Propheten (V.31) bzw. die praktizierte Mitmenschlichkeit (V.19-21). Die ersten drei Verse erscheinen wie ein negatives Spiegelbild von Abrahams Gastfreundschaft (1Mose 18,1-8). Wichtig ist das selbstbezogene Desinteresse des Reichen, was den Elenden vor seiner Tür angeht. Er lebt „sein Leben“ ohne Verantwortung für den Nächsten und die Gesellschaft. Er hat den Horizont verdrängt, unter den er als Sohn Abrahams berufen ist, die lebendige Beziehung zu den Verheißungen verloren: Wehe euch, ihr Reichen, denn ihr habt euren Trost dahin (Luk 6,24). Des kranken und hilflos hungernden Lazarus gedenkt Gott in seiner Barmherzigkeit, indem er ihn, den unschuldig Leidenden, in Abrahams Schoß holt: selig seid ihr Armen, denn euch gehört das Reich Gottes (Luk 6,20). Was Jesus hier durch den Mund Abrahams verkündet, die Aufrichtung und Rettung der verlorenen Söhne Abrahams, bezeugt Lukas in weiteren Erzählungen. (12)
Auch nach der Erzählung vom Oberzöllner (Luk 19,1-9) kommt der Messias, der Sohn des Menschen, um den Söhnen Abrahams zu Diensten zu sein: Da sprach Jesus zu ihm: Heute ist diesem Hause Rettung widerfahren, deshalb weil auch er ein Sohn Abrahams ist. Denn der Sohn des Menschen ist gekommen aufzusuchen und zu retten das Verlorene.
Oft konkurrieren Befolgung verlangende Gebote. So bei der Heilung einer Frau mit verkrümmtem Rücken (Luk 13,10-17). Mit dem rabbinischen Schlussverfahren vom weniger Bedeutsamen aufs Bedeutsamere (Kal Vachomer) rechtfertigt Jesus gegenüber einem Synagogenvorsteher die Befreiung einer Frau von der Fessel ihrer Verkrümmung mit dem Hinweis, sie sei eine Tochter Abrahams. Dass sie nun wieder aufrecht stehend am Lob des Gottes Abrahams teilnehmen kann, in das sie auch sofort einstimmt, sei bedeutsamer und würde dem Sinn des Sabbats noch mehr aufleuchten lassen als das Verbot des Arbeitens.
Jesu Antwort auf die Frage des reichen Synagogenvorstehers, wie er das Reich Gottes erben könne, gehört auch hierher. Den Reichtum an Arme zu verteilen, könnte eine besondere Halacha Jesu für Reiche sein, um die durch Reichtum vom Weg abgekommenen in die Reich-Gottes-Hoffnung zurückzuholen (Luk 18,18-27). In jedem Fall ist der Thora-Gehorsam die enge Tür, die über die Teilhabe am Segen Abrahams entscheidet: Weichet von mir ihr alle, die ihr Ungerechtigkeit übt! Dort wird Heulen und Zähneknirschen sein, wenn ihr Abraham und Isaak und Jakob und alle Propheten im Reiche Gottes sehen werdet, während ihr hinausgestoßen seid (Luk 13,24.27f).
Jesu Dienst an der Beschneidung, an Israel, den leiblichen Söhnen Abrahams, hat nach neutestamentlichem Zeugnis diesen doppelten Aspekt: Zum einen ihre Errettung aus den bedrohlichen Feindschaften in der Völkerwelt unter Zuhilfenahme einer Vielzahl unbeschnittener, geistlicher Abrahamskinder und dann die direkte Aufrichtung der verirrten beschnittenen, leiblichen Kinder Abrahams zum Thora-Gehorsam (V.8) und ihre Heimholung unter die Verheißungen.

8. Das doppelte Werk des Messias Jesus und der priesterliche Dienst des Paulus
Der Messias Jesus setzt die weltweite Aufrichtung der Verheißungen Abrahams in Gang. Das ist Jesu messianisches Werk – in Israel und in der Völkerwelt. Sein Dienst an den Beschnittenen hat diese zwei Seiten.
In Israel bringt er verirrte und verlorene Töchter und Söhne Abrahams auf den Weg der Thora und in die lebendige Gemeinschaft des Gotteslobes zurück. Er tut dies als Messias, der gekommen ist und der wiederkommen wird. In der Zwischenzeit bezeugen seine Apostel wie Petrus sein Werk und seine Gegenwart in Israel (Apg 3). Dabei gilt das messianische Werk Jesu nur Israel: Ich bin nur zu den Schafen des Hauses Israel gesandt (ouk apestaleen ei mee eis ta probata ta apoloolata oikou Israeel, Mt 15,24). Gott hat wie wir gesehen haben in der Sendung Jesu Christi Abrahams gedacht, um sich seines Knechtes Israel anzunehmen (Luk 1,54f). Es geht dem Messias Jesus in der Einheit seines messianischen Doppelwerkes allein um die Verheißungen Abrahams und die Rettung Israels.
Zur zweiten Seite des Werkes Jesu Christi kommt es durch die mehrheitliche Ablehnung seines und seiner Apostel messianischen Wirkens in Israel (Röm 11,28-32). Paulus reagiert sozusagen mit einem Plan B zur Erreichung des alten Zieles, eines vom Völkerfrieden umgebenen Zion (Jes 2,1-5; Mi 4,1-4). Das Völkerapostolat des Paulus beschreibt einen Umweg (Apg 13,46), der über die Schalomisierung der Völkerwelt auf die Rettung und Wiederaufrichtung Israels abzielt (Luk 1,74f; Apg 1,6; 15,16; Röm 11,26). Weil er Israel im Blick behält, rettet er auch die Welt, nicht umgekehrt. Denn die Rettung der Welt liegt beschlossen in der Verwirklichung der Verheißungen Abrahams.
In der Zeit bis zu seiner Parousie gewinnt der Messias durch seine Gesandten, Völkerapostel wie Paulus, Verheißungsgläubige aus vielen Völkern, die mit Israel den Gott Abrahams loben und als messianische Gemeinde Jesu (= Kirche Jesu Christi) nicht nur das Reich Gottes vorwegnehmend leben, sondern damit auch automatisch einen geistlichen Schutzwall um Israel bilden. Denn sie sind Licht unter den Heiden (Mt 5,14-16; Joh 8,12; Phil 2,15; Eph 5,8), weil bei ihnen Erfüllung der Thora, lauter Güte, Gerechtigkeit und Treue (Eph 5,9) sowie Vertrauen auf Abrahams Verheißungen (Gal 3,8.14; Eph 3,6) ist. Mit ihrem Verheißungsvertrauen wie Abraham stehen sie in den Augen der Völkerwelt für Israel (ein), die mehrheitlich heidnischstämmigen verheißungsgläubigen Gemeinden für die leiblichen Kinder Abrahams. Unter dem Aspekt der Gemeinsamkeit des Vertrauens in die Verheißungen Abrahams, des gemeinsamen Lobes des Gottes Abrahams muss das Verhältnis der Kirche Jesu Christi zu Israel zwingend ein solidarisches sein. Kann es einer tiefere Solidarität geben als die durch das gemeinsame Vertrauen in den Gott Israels gegründete?
Deshalb ist dem Apostel Paulus sein Dienst an den Beschnittenen (Röm 15,8) wirklicher Gottesdienst (Röm 15,16):
ein priesterlicher Diener des Messias an den Völkern zu sein (eis to einai me leitourgogon Christou Ieesou eis ta ethnee),
der die Frohbotschaft Gottes heiligt (hierougounta to euaggelion tou theou),
damit das Heranbringen (die Darbringung) der Völker wohlgefällig sei (hina geneetai hee prosphora toov ethnoov euprosdektos),
geheiligt im heiligen Geist (heegiasmenee en pneumati hagiou).
Die dichteste Parallele findet sich in Jes 66,20:
Und sie werden all eure Brüder aus allen Völkern dem Herrn als Gabe bringen (kai axousin tous adelphous hymoon ek pantoon toon ethvoon dooron kyriou).
Wo Jesaja von der Rückkehr der verschleppten Exulanten aus allen Völkern nach Israel spricht, überträgt Paulus auf die Gläubigen aus allen Völkern, die auf die Verheißungen Israels blicken (Apg 15,15-17; Röm 15,9-13). Alles hängt an der Übertragbarkeit von den leiblichen Kindern Abrahams auf die Gläubigen aus den Völkern. Die Frage nach der Legitimität dieser Übertragung hat Paulus mit seiner Auslegung in Röm 4 beantwortet. Unter dem Aspekt der Gemeinschaft des Gotteslobes, die die Christusgläubigen als geistliche Nachkommen mit Israel, den leiblichen Nachkommen Abrahams, bilden, erscheint diese Übertragung völlig legitim. Sie impliziert bei genauem Hinhören auf die Worte sogar das Verhältnis der Brüderlichkeit zwischen beiden.
Von einer Opfergabe wie die meisten deutschen Übersetzungen sollte man besser nicht reden. Keine priesterliche Darbringung im Alten Testament heißt prosphora, nur das allgemeine Heranbringen einer Gabe zum Heiligtum lautet ähnlich (prosagagee dooran, 3Mose 1,2). Paulus identifiziert seine Gabe, die er dem Gott Israels heranführt, nicht mit einer der speziellen möglichen Opferarten im Heiligtum Israels, sondern mit dem allgemeinen Sinn des Priesterdienstes in Israel, der stellvertretenden Reinigung von den Sünden.
Durch den Aposteldienst sind die Christusgläubigen nicht nur Vertrauende wie Abraham, sondern Paulus hat sie gleichzeitig zum Thora-Gehorsam in Wort und Tat geführt (Mt 28,18ff; Röm 15,18). In den messianischen Gemeinden Jesu ist der Friede zwischen Israel und den Heiden hergestellt und hier leben die versöhnten Völker in der Gemeinschaft der Gottesebenbildlichkeit. Sie, die die Liebe, das Band der Vollkommenheit und der messianische Friede zusammenhält (Kol 2,14f), sind eine dem Gott Israels wohlgefällige Gabe.
Von daher blickt Paulus prophetisch auf eine universale Gemeinschaft aus Israel und den Völkern, die durch den Dienst Jesu Christi an den Beschnittenen vereinigt ist im Lob des Gottes Abrahams.

Thesen
a) Die Kirche Jesu Christi sollte in der Nachfolge des Dienstes ihres Herrn den konkreten Horizont der eidlichen Verheißungen Gottes an Abraham und Israel (Land, Volk, ewiger Friede) als Ziel und Inhalt der Reich-Gottes-Botschaft des Evangeliums besonders unterstreichen und immer wieder herausstellen.
b) Diese Betonung des jüdisch-menschheitlichen Zielpunktes des Christusbekenntnisses bedeutet nicht seine Verwässerung, sondern ist im Lichte des Zeugnisses der Heiligen Schrift als seine inhaltliche Präzisierung zu verstehen.
c) Damit würde sich die Stellung der Rechtfertigungslehre, so weit sie rein individualistisch verstanden wird, verändern. Das würde ihr ihren Ort in der Geschichte der Verheißungen Abrahams geben. So würde sich etwa folgender Zusammenhang für die Lehrstücke einer kirchlichen Dogmatik ergeben.
A) Gotteslehre: In der christlichen Lehre ist Gott der Gott Israels, der mit seinen Verheißungen an Abraham für Israel eine geschichtliche Perspektive eröffnet, die als ihr Ziel das sichere Wohnen des Gottesvolkes in dem ihm zugesprochen Land hat, dem auch der zugesagte ewige Völkerfriede (Reich Gottes) dienen soll.
B) Christologie: Das Christusgeschehen ist als Bekräftigung der Verheißungen Abrahams Dienst an Israel. Der Messias belebt die Verheißungen in Israel und erweckt unter den Völkern viele, die Vertrauen in sie gewinnen und auf den Völkerfrieden hoffen. Das kommt dem sicheren Leben Israels zugute.
C) Ekklesiologie: Die Kirche als der Leib Jesu Christi ist die messianische Gemeinde im Dienst der Verkündigung und Verwirklichung der Verheißungen Abrahams, in der alle Völker geschwisterlich zusammenleben und als geistliche Kinder Abrahams in Solidarität mit Israel stehen.
D) Rechtfertigung und Heiligung: Die Berufung in den Dienst Christi geschieht durch sein Wort als Gerechtsprechung des Sünders und seine Heiligung zu einem tauglichen Diener der Verheißungen Abrahams.
E) Der Dienst der Evangelisation richtet sich vor allem gegen vier tiefe Verirrungen unserer semi-heidnischen Kultur:

  • den Antisemitismus (Dienst an Israel),
  • die Verdrossenheit und Überheblichkeit gegenüber dem utopischen Denken (Dienst der Hoffnung),
  • das kapitalistische Wirtschaftssystem, das immer mehr Ungerechtigkeit, Armut, seelische Zerstörung und irreversible Schäden an Gottes guter Schöpfung produziert (Dienst der Liebe),
  • den Nationalismus, der den Horizont der Verheißungen Abrahams, die Erlösung für Israel und die Menschheit bedeuten, ideologisch versperrt (Dienst des Glaubens).

Anmerkungen:

  • Die Verheißung an Abraham ist dreiteilig und umfasst Landzusage, Volkswerdung und den Völkerfrieden im Namen Abrahams (1Mose 12,3). Die Zusagen werden schon in Genesis immer wieder erneuert, so der Völkerfriede (1Mose 18,8; 22,18), die Volkswerdung (1Mose 15,4f; 22,17) oder auch alle drei (1Mose 26, 2-4).
  • Die heutige Forschung geht davon aus, dass Paulus kein geschulter Rabbiner war, aber ein gelehrter frommer Jude.
  • Damit ist die Thora nicht entwertet. Denn ihre spezifische Aufgabe liegt darin, eine gerechte Rechtsprechung zu ermöglichen. Ohne sie gibt es nur rechtsfreien Raum und keine rechtskräftige Beurteilung von Übertretungen.
  • Den früher sogenannten Judenchristen
  • K. Barth, KDIV/2, S. 829
  • Luther sprach vom Jakobusbrief als einer „strohernen Epistel“ und hätte ihn lieber nicht im Kanon gesehen. Er sah hier Werkgerechtigkeit und also einen Gegensatz zu dem von ihm herausgestellten sola fide. Ein falscher Verdacht, wie wir zu zeigen versuchen.
  • S. R. Hirsch übersetzt 1Mose 15,6: Er aber hatte seine ganze Zuversicht in Gott gesetzt, und dies achtete Er ihm als Pflichtgerechtigkeit (Die fünf Bücher der Tora, Bereschit, Basel 2008, S.285).
  • Karl Barth spricht in einer glücklichen Übertragung von der in der Bibel gemeinten praktischen Liebe, der agapee, als einem: sich dem Anderen zur Verfügung stellen (KD IV/2, S. 832).
  • E. Levinas, Die Spur des Anderen, Freiburg 1992, S. 216f
  • a.a.O., S. 217
  • Im Griechischen heißt es: en tois kolpois = am Busen; gemeint ist der Körperbereich von Brust bis Knie.
  • Wohl die allermeisten Auslegungen haben die zentrale Bedeutung des Abraham in diesem Gleichnis übersehen: J. A. Bengel, Gnomon; K. Barth, KD; E. Schweizer, NTD3; H. Gollwitzer, Die reichen Christen und der arme Lazarus; H. Werner, W. Schlenker, Gott dienen ist höchste Freiheit I,

zu Titelseite

zum Seitenanfang

 
Die BlickPunkt.e erscheinen 6mal im Jahr. Die Printausgabe kann für 25 Euro/Jahr bestellt werden bei ImDialog. Evangelischer Arbeitskreis für das christlich-jüdische Gespräch in Hessen und Nassau.  


Jüdische Stimmen
zu Religion und Gesellschaft

Jüdische Schriftauslegung

25 Jahre EKHN-Grundartikel-Erweiterung 2016

Kirche und Judentum:
Evangelische Worte zum Thema "Christen und Juden" seit 1980 bis heute

KLAK-Perikopenmodell

Jüdische Feste
und Riten

Zu unserem Download-Shop