Redaktion: Hans-Georg Vorndran

BlickPunkt.e Nr. 6 / Dezember 2015

 

Antisemitismus in Ungarn
Wie ein Weltbild der „nationalen Revolution“ die Gesellschaft zu einem wahnhaften Schlachtfeld dereguliert und zu einer antisemitischen Hasskultur auf alles Fremde zu vergiften droht.
von Klaus-Peter Lehmann

Das angebliche Trauma
a.) Der nationalistische Blick
Wenn man sie durch eine nationalistisch gebräunte Brille betrachtet, sieht die Geschichte Ungarns aus wie eine Folge demütigender Niederlagen:

  • Das Reitervolk der Magyaren wird von Otto I. im Jahr 955 auf dem Lechfeld geschlagen, dann zwangschristianisiert und einer Feudalmonarchie unterworfen.
  • Seit dem 15. Jahrhundert fallen immer wieder osmanische Heere ins Land der Ungarn, verwüsten es und unterwerfen sie. Ende des 17. Jahrhunderts vertreiben die Habsburger die Türken und waren seitdem Herren über die Magyaren.
  • Nach der Revolution von 1848 gewährt Wien den Ungarn die k. u. k. Doppelmonarchie (1867). 1918 wird Ungarn kurzfristig Räterepublik. Im Frieden von Trianon (4.6.1920) verliert Ungarn 70% seines Staatsgebietes. Das wird bis heute als historische Schmach empfunden. Landkarten und Anstecknadeln mit dem Umriss Großungarns gehören heute zu den Devotionalien aller nationalistischen Aufmärsche.
  • Von 1920 bis 1944 regierte General Horthy, dessen vorrangiges Ziel war, Großungarn mithilfe von Hitler wiederherzustellen. Heute halten die Regierung Orbán und der rechtsextreme Jobbik General Horthy als historisches Vorbild hoch.
  • Der Aufstand gegen die sowjetische Besatzung im Jahr 1956 wurde von deren Panzern niedergewalzt.

Diese Geschichte hinterlässt bei vielen Ungarn das Gefühl, stets Verlierer gewesen und gedemütigt worden zu sein. Die Ungarn – eine traumatisierte Nation?

b.) Nicht Trauma, sondern Mythos und Wahn
Viele reden von einem Trauma, das die Ungarn durch diese Geschichte erlitten haben sollen: Ungarn ist ein Land der Verlierer. Es hat immer alles verloren, die Kriege, einen Großteil des Territoriums, nicht mal im Fußball gewinnen wir.“  (1)  Es versteht sich aber, dass der traumatisierte Blick auf diese Vergangenheit allein durch das Konstrukt der Ungarn als einer jahrhundertealten Nation entstehen kann. Die Ideologie des völkischen Nationalismus erhebt die Nation zu einem Idol, zu einem Mythos: jeder Volksangehörige sei mit ihren Siegen und Niederlagen schicksalhaft verbunden. Von dieser ungarischen Schicksalsgemeinschaft sind Juden sowie Sinti und Roma wegen ihrer Fremdheit und Oppositionelle als geistige Nestbeschmutzer nicht nur automatisch ausgeschlossen, sondern sie werden auch als Feinde abgestempelt.
Deutlich ist, dass der nationalistische Blick nicht auf geschichtlichem Realitätssinn fußt, sondern durch die verformende Kraft der völkischen Ideologie die Nation der Ungarn schon im 10. Jahrhundert leiden und untergehen wähnt. Hier liegt der Beginn des politischen Wahns. Denn ignoriert wird, dass die damaligen Magyaren mit den Staatsangehörigen des heutigen Ungarn keine geschichtliche Volkseinheit bilden. Die heutigen Magyaren haben mit den damaligen wenig gemein, auch wenn sie ihre Vorfahren sind. Der Nationalismus und die Idee einer nationalen Geschichte negieren die kulturellen Gräben von Jahrhunderten, über die hinweg jede politische Identifikation unwirklich und wahnhaft bleibt. Sie schafft nur Mythen.  (2)

Der nationale Wahn schafft Feinde
Geschickt betreibt Orbán, der seit 2010 Ministerpräsident ist und mit seiner Partei Fidesz über die absolute Mehrheit im Parlament verfügt, auf dem Untergrund der angeblich traumatisierten Nation eine Politik der „nationalen Revolution“. Er verbindet den Begriff der Nation mit der Vorstellung von Freiheit. Es geht dabei vor dem Hintergrund des Geschichtsbildes von Ungarn als einer immer wieder gedemütigten Nation um die Freiheit des heutigen Ungarn gegen alle Einmischung von außen, aktuell besonders der EU. Die verbreitete Stimmung artikuliert sich trotzig: „Wir geben Ungarn nicht mehr her und verteidigen es bis zum letzten Blutstropfen.“  (3) 
Man sieht die Selbständigkeit Ungarns in Gefahr, von außen durch internationale Finanzinstitutionen (Banken, IWF), von innen durch Fremde wie Juden, Zigeuner und liberale Kritiker. Das Vorbild für diesen nationalen Freiheitskampf gibt General Horthy ab. Ihm werden immer mehr Straßen, Plätze und Statuen gewidmet. Orbáns nationalistische Politik versucht das gesamte öffentliche Leben zu prägen und zu durchdringen. Auch das Nationaltheater soll in Zukunft „nationale Werte repräsentieren.“ Das fragmentiert die Gesellschaft in richtige Ungarn und Fremdelemente, die schnell zu Feinden mutieren.
Von ihnen sagte Orbáns Parteifreund Zsolt Bayer 2011 in einer regierungstreuen Zeitung mit Blick auf den linken ungarnkritischen EU-Parlamentarier Daniel Cohn-Bendit und den Pianist Andras Schaff: „Leider ist es uns nicht gelungen einen jeden von ihnen im Wald von Orgovàny zu verscharren.“  (4)  Dort hatte ein Horthy ergebenes Freikorps hunderte von wirklichen und vermeintlichen Juden und Kommunisten der Räterepublik ermordet.

Kruder Antisemitismus
An der Eötvös-Lorant-Universität klebten Studenten „Juden raus!“-Parolen an die Türen der Philosophin Agnes Heller und anderer Professoren. Der 90jährige Oberrabbiner em. Joszef Schweitzer wurde im Juni 2012 auf offener Straße angepöbelt und mit antisemitischen Schmährufen beschimpft. Der Staatspräsident stattete dem Angegriffenen einen Solidaritätsbesuch ab. Die Tageszeitung Nápszabadság kommentierte: „Jede Geste zählt soviel wie man dafür riskiert. Sie kostet nichts.“  (5)  Orbán selbst distanziert sich regelmäßig von antisemitischen Vorfällen, doch er unternimmt nichts dagegen. Die Zahl der während seiner Regierungszeit geehrten Antisemiten spricht für sich.
Typisch war der Eklat um die Verleihung des Tancsis-Preises am ungarischen Nationalfeiertag, der an den Aufstand gegen die Habsburger am 15.3.1848 erinnert, im Jahr 2013. Als herauskam, dass der Preisträger, der Fernsehjournalist Ferenc Szanisló, ein kruder Antisemit ist, der die Terroranschläge vom 11.9.2001 zum Werk des Weltjudentums erklärt hatte und die Roma als „Menschenaffen“ ansieht, erhob sich ein Sturm der Entrüstung. Der zuständige Minister bekniete den Preisträger, seine Auszeichnung zurückzugeben, was dieser auch unter Protest tat. Er werde weiter die Wahrheit sagen, auch wenn „Israel und die USA“ sich diesmal durchgesetzt hätten. Keinen Rückzieher machte die Regierung bei den gleichzeitig verliehenen Orden an den Archäologen Kornél Bakay, der die Juden für den mittelalterlichen Sklavenhandel verantwortlich macht und an den Rocksänger Petrás János, dessen Band für die Aufmärsche der faschistischen Jobbik und deren paramilitärische Ungarische Garden spielt und Texte schreibt.
Anfang 2012 stellte sich Orbán vor den verstorbenen antisemitischen Schriftsteller Istvan Csurka. Dieser hatte einen jahrelangen Kreuzzug gegen die „Hegemonie des Judentums“ geführt. Orbán entgegnete seinen Kritikern, es sei „Teil der ungarischen Polit-Folklore, dass die Linken jeden Nicht-Linken zum Antisemiten erklären“.

Im Fahrwasser der Faschisten
Die Parlamentswahlen 2010 hatten dem konservativen bis rechtsextremen Lager einen erdrutschartigen Sieg verschafft. Die christlichen Nationalisten, die Fidesz-Partei Orbáns errangen die absolute Mehrheit (52,73%). Die Faschisten von Jobbik (Bewegung für ein besseres Ungarn) verfügen über (16,67%). Die ehemals regierenden Sozialdemokraten (MSZP: Ungarische Sozialistische Partei) rutschten auf 19,30%. Grüne, Bürgerliche und Sonstige kommen auf ca. 12%. Die beiden nationalistischen Parteien verdanken ihre Erfolge dem wach gehaltenen Traum von der Wiederherstellung Goßungarns. Wobei Jobbik sich deutlicher und militanter äußert. Sie verlangen die Aufhebung des Vertrages von Trianon, propagieren den Kampf gegen das „jüdische Kapital“ und verdanken ihren Zulauf vor allem dem Hochspielen der „Zigeunerkriminalität“.
Seit Fidesz regiert häufen sich hetzerische Graffiti und antisemitische Sprechchöre in Fußballstadien. Die gab es zwar auch in der kommunistischen Zeit, aber anders als damals schreitet die Polizei nicht mehr ein. Die Philosophin Agnes Heller beurteilt den Kurs der ungarischen Regierung wie folgt. Er sei schlimmer als völkisch, nämlich „fundamentalistisch-nationalistisch... Wer sich nicht mit unserer Politik identifiziert, ist kein echter Ungar, der ist ein Verräter.“
In dieser mehrheitlich völkischen Stimmungslage, die von der Regierung angeheizt wird, erscheint Jobbik als der konsequentere politische Exponent. Sie forderten die in Ungarn lebenden Juden in Listen zu erfassen, um das „Sicherheitsrisiko für Ungarn“ zu überprüfen. Andererseits werden Schulen angehalten, Bücher von antisemitischen Autoren wie Josef Nyirö und Albert Wass zu behandeln. Der Literaturnobelpreisträger Imre Kertesz wird ignoriert. Im Ausland lebend ist er quasi nicht existent. Für die Roma und Sinti wurde unter Fidesz keine einzige Kulturveranstaltung mehr organisiert. Das sieht nach einer perfekten Arbeitsteilung aus. Fidesz macht die nationale Kutsche flott, während Jobbiks Pferde sie auf den Weg in Richtung faschistischem Staatsterrorismus zieht.

Brücken zum Nationalsozialismus
Der Kampf gegen den sogen. „Judeobolschewismus“ findet in Ungarn eine Menge von Anhängern. Als der World Jewish Congress wegen des Antisemitismus in Ungarn 2013 demonstrativ in Budapest zusammenkam, durfte Jobbik am Vorabend der Tagung mitten in der Hauptstadt eine Veranstaltung zum „Gedenken an die Opfer von Bolschewismus und Zionismus“ abhalten.  Das von Orbán betriebene Verbot des nazistischen Aufmarsches hob ein Gericht auf. Grundlage für den Gerichtsbeschluss war ein von Fidezs verabschiedetes Gesetz.
Neben der offenen Hetze gegen Juden, Roma und Homosexuelle, die regelmäßig zu gewalttätigen, bei Roma auch tödlichen Angriffen führt, ziehen Jobbik-Politiker vollkommen unverklausuliert gegen Israel zu Felde und fordern, Ungarn dürfe „kein zweites Palästina werden“. Die Jobbik-Politikerin und Kandidatin fürs EU-Parlament Krisztina Morvai schmähte die Israelis als „verlauste, dreckige Mörder“ und empfahl den „liberal-bolschewistischen Zionisten“ in Ungarn, sich zu überlegen, „wohin sie fliehen und sich verstecken“ werden. Angesichts der ungehemmten Hetze und Aggressivität von Jobbik liegt es nahe, sie als Nachfolger der ungarischen Nationalsozialisten, der Pfeilkreuzler anzusehen, die 1944 mit grausamer Besessenheit die Deportation der Juden betrieben.
Bedenklich ist die völlig fehlende Aufarbeitung der Beteiligung der Ungarn am NS-Genozid. In den ersten Jahren des Krieges blieben die 800.000 Juden in Ungarn weitgehend verschont. Im Jahr 1942 ließen ungarische Soldaten 6000 Serben und 4000 Juden aus dem annektierten Novi Sad für Partisanen-Aktivitäten büßen. Sie trieben die Unschuldigen in ein Schwimmbad und erschossen sie auf den Sprungbrettern, von wo aus die Opfer in die eisige Donau fielen. Zwischen dem 4.5. und 9.7.1944 verschleppten die Nazis mithilfe der ungarischen Polizei und Gendarmerie 437.402 Juden nach Auschwitz. Eichmanns Maschinisten des Todes hätten ohne das Heer williger ungarischer Handlanger, die Hospitäler, Heime, Häuser und Transporte durchsuchten, nichts ausrichten können. Bei Visitationen und Folterungen in den Sammelstellen eigneten sich die ungarischen Schergen alle Wertsachen ihrer Opfer an, weil sie sie nicht den Deutschen überlassen wollten. Der Name des Plans für die Besetzung Ungarns und der überhasteten, von reinem Vernichtungswillen angetriebenen Deportation der Juden war „Margarethe“, wie der Name der Frau des Mannes in Paul Celans „Todesfuge“, der im Haus des KZs wohnt und mit den Schlangen spielt.  (6)

  1. So erklärte der renommierte Historiker András Gerö die gefährliche „Hasskultur“, die die ungarische Gesellschaft „seelisch vergifte“ Le monde diplomatique, 5/2013, S. 3; FAZ, 10.7.2010
  2. Natürlich kann man eine Geschichte der Magyaren oder der Deutschen schreiben. Aber die vorprägende Kraft des Begriffes „Nation“ sieht in den Sprachgemeinschaften oder Völkern eine Epochen übergreifende geschichtliche Einheit, die sie sozial, politisch oder kulturell nie gewesen sind.
  3. So eine ungarische Stadtführerin, die R. Mischke in Ungarn unter Orbán als repräsentative Stimme zitiert (Le monde diplomatique, a.a.O.)
  4. C. Schmidt-Häuer, Budapester Tragödien, Die Zeit, 2.5.2013
  5. taz, 6.4.2013, S. 22
  6. Schwarze Milch der Frühe... wir trinken und trinken Ein Mann wohnt im Haus der spielt mit den Schlangen der schreibt der schreibt wenn es dunkelt nach Deutschland dein goldenes Haar Margarethe Dein aschenes Haar Sulamith

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