Redaktion: Hans-Georg Vorndran

BlickPunkt.e Nr. 2 / April 2016

 

Ein idealisierender Blick auf Luther
Interview mit Christian Wiese über die jüdische Sicht auf den Reformator

Nach Ansicht des Religionswissenschaftlers Christian Wiese hatte das Judentum vor dem Holocaust ein überwiegend positives Bild von Martin Luther. „Es war der verzweifelte Versuch, dazuzugehören und sich mit der Figur Luther zu identifizieren“, sagte der evangelische Theologe in einem Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst (epd). Wiese, der die Martin-Buber-Professur für Jüdische Religionsphilosophie an der Goethe Universität Frankfurt innehat, fügte hinzu: „Die jüdischen Gelehrten wollten Luther besser verstehen, als der Protestantismus ihn versteht.“

Welche Bedeutung hat Luther für das Judentum? 
Wiese: Luther beginnt im Zuge der jüdischen Aufklärung eine Rolle zu spielen. Das entstehende Reformjudentum sieht in ihm ein Vorbild für eine „jüdische Reformation“. Es sind hier immer wieder sehr positive Stimmen zu finden, die Luther als Vorläufer von Gewissensfreiheit, Toleranz und Aufklärung verstanden. Der Reformator verkörpert aus dieser Sicht eine geistige Tradition in Deutschland, die der bürgerlichen Gleichberechtigung der Juden förderlich ist. Das ist natürlich ein sehr idealisierendes Lutherbild. Dabei ist die Interpretation nicht eigenständig jüdisch, sondern jüdische Gelehrte partizipieren vielmehr an einem Diskurs, der auch im nichtjüdischen Bereich stattfindet. Theologen wie Johann Salomon Semler interpretieren Luther ebenfalls als Vorläufer einer Modernisierung von Religion und Offenheit von Gesellschaft. 

Das ist aber sicher nur die eine Seite der Medaille?
Wiese: Seit den 1830er Jahren gibt es auch eine gegenläufige Bewegung. Ein Beispiel ist Ludwig Börne, der in seinen Briefen aus Paris sehr viel Negatives über Luther zu sagen hat. Er interpretiert ihn vor allem als Ahnherren der politischen Unfreiheit und des mangelnden Freiheitswillens der Deutschen. Börne hält die katholischen Nationen für viel fortschrittlicher als die protestantischen. Das hängt mit dem Obrigkeitsgeist zusammen, den Luther geprägt hat, sowie mit seiner Beziehung zu den Territorialfürsten. Deshalb kann Luther keine positive Vorbildfunktion haben. Luther hält dieser Vorstellung nach den Protestantismus in der Unmündigkeit gefangen. Man muss hinzufügen, dass Börne zum Christentum konvertiert ist. 

Von dieser negativen Einschätzung abgesehen, wie erklären Sie sich die positive Sicht auf Luther?
Wiese: Im Judentum des 19. Jahrhunderts hielt man den frühen Luther, den „eigentlichen“ Luther, für eine für die deutsche Kultur zentrale Figur, zu der man sich um der kulturellen Teilhabe willen positiv verhalten sollte. Den späten Luther hat man mit seinen mittelalterlichen Restbeständen ins Regal gestellt. Zudem wollte man vor allem den völkischen Stimmen etwas entgegenhalten. Denn die vertraten ja die Auffassung, Luther sei der nationale deutsche Luther, der von Beginn an, vor allem aber in den späten Schriften erkannt habe, wie gefährlich die Juden für die Gesellschaft seien. Dem halten die jüdischen Gesprächspartner entgegen, die Stimme des frühen Luther als eines Verfechters der Gewissensfreiheit sei für die deutsche Kultur und den deutschen Diskurs eigentlich entscheidend. 

Blendet diese Argumentation nicht Wesentliches – Luthers Antisemitismus – aus?
Wiese: Bei dieser Argumentation wird nicht untersucht, welche theologischen Vorstellungen Luther über das Judentum hegte. Diese Vorstellungen waren 1523 in der ersten „Judenschrift“ genauso negativ wie 1543 in der Schrift „Von den Juden und ihren Lügen“. Sondern man beschränkte sich darauf, Luther für eine Tradition der Toleranz in Anspruch zu nehmen. Die Bemühung, ihn als positive Figur zu verstehen, hängt damit zusammen, dass Luther eine so bedeutsame Identifikationsfigur für die deutsche Gesellschaft und Kultur war. Wenn man sich integrieren wollte, wenn man teilhaben wollte, dann musste man sich mit dieser Figur auseinandersetzen. Und sie für eine fortschrittliche Vision der Gesellschaft in Anspruch nehmen. Genau das ist passiert, wobei die dunklen Seiten oft ausgeblendet wurden.

Kippt das dann zu Beginn des 20. Jahrhunderts?
Wiese: Im 20. Jahrhundert gibt es genauso wie im 19. Jahrhundert eine sehr zwiespältige Deutung. Es gibt die einen, die Luther als Herold der Gewissens- und Gedankenfreiheit rühmen. Und dann gibt es andere, die vor allem davon sprechen, dass Luther den  deutschen protestantischen Geist auf Dauer vergiftet habe. Leo Baeck zum Beispiel hält Luther – unabhängig von seinen Judenschriften – für den Vorläufer des deutschen Polizeistaates. Demgegenüber vertritt Baecks Lehrer, Hermann Cohen, eine sehr positive Lutherdeutung. Zum Lutherjubiläum 1917 macht er in einem Aufsatz zur Gestalt Luthers deutlich, dass der jüdische und der protestantische deutsche Geist völlig miteinander vereinbar seien. 

Erkennt man seitens des Judentums erst durch Hitler und den Holocaust in Luther einen Antisemiten?
Wiese: In den 1920er Jahren gibt es den fast verzweifelten Versuch, noch einmal sichtbar zu machen, dass die deutsche Gesellschaft, wenn sie Luther richtig versteht, erkennen muss, dass sein Denken dem Antisemitismus widerspricht. Diese Illusion zerbricht in den 1930er Jahren. Es setzt sich jetzt die Erkenntnis durch, dass die jüdische Liebesgeschichte mit Luther ein tragischer, völlig vergeblicher Versuch war, der in der deutschen Gesellschaft kein Echo fand. Vielmehr haben die völkischen Stimmen gesiegt und innerhalb der protestantischen Kirche und Theologie diejenigen, die Luther im antisemitischen Sinne deuten. Im Judentum bricht nun ein Schweigen aus mit Blick auf Luther. Wenn Luther heute in der jüdischen Literatur auftaucht, dann eher als Ahnherr des Antisemitismus. Insofern ist er eine äußerst negative Gestalt im Ahnenreigen des christlichen Antisemitismus. 

Welche Konsequenzen sollte aus dem historischen Verhältnis des Judentums zu Luther heute gezogen werden?
Wiese: Ich halte es für höchst problematisch, auf die positiven Stimmen aus dem Judentum zu verweisen, um zu belegen, dass der frühe Luther aus jüdischer Perspektive gar nicht so schlimm gewesen sei. Diese Deutung hat den historischen Kontext, in dem diese Stimmen erklingen, nicht wirklich vor Augen. Es war der verzweifelte Versuch, dazuzugehören und sich mit der Figur Luther zu identifizieren. Nur war das eben eine sehr einseitige Sache. Die jüdischen Gelehrten wollten Luther besser verstehen als der Protestantismus ihn verstand. Diese Idealisierung fand statt, weil man Luther nicht den Antisemiten überlassen wollte.  

Und wie beurteilen Sie die Judenschriften von 1523 und 1543? 
Wiese: Meiner Auffassung nach ist die Judenfeindschaft in beiden Schriften unübersehbar. Die Vorstellung von Gottes Zorn über dem jüdischen Volk und von der Missinterpretation der hebräischen Bibel durch das Judentum ist von den frühesten Lutherschriften an durchgehend bis 1543 da. Vielleicht mit einer Ausnahme: 1523 äußert Luther den Gedanken, dass es so etwas wie eine Solidarität der Sünde gebe. Christen sollten erst einmal auf ihre eigene Problematik schauen. Auf ihren eigenen Versuch der Selbstrechtfertigung vor Gott. Und dann sollte man nicht Gottes Zorn gegen die Juden in den Vordergrund stellen. Aber auch das ist nicht ganz unproblematisch.

Inwiefern?
Wiese: Juden werden zum Symbol des sündigen Menschen. Jetzt soll jeder Christ überlegen, inwiefern er selber etwas Jüdisches an sich hat. Die Juden werden zur Verkörperung all dessen, was dem Evangelium widerstreitet – da ist der Weg zur Dämonisierung nicht weit.  

Wie hat Luther denn den christlich-jüdischen Dialog im 20. Jahrhundert beeinflusst?
Wiese: Immer, wenn im jüdisch-christlichen Dialog die Frage des Verhältnisses des Christentums zum Judentum aufkommt, ist Luther gegenwärtig – als Verkörperung einer verhängnisvollen Tradition. Die Gewaltförmigkeit und die Wirkungsgeschichte der Schrift von 1543 lassen sich nicht ausblenden. Auf der anderen Seite gibt es natürlich die frühe Schrift, die in der Geschichte teilweise auch positive Auswirkungen hatte. Da findet ein Ringen statt darüber, wie man ihn verstehen soll. Im 20. Jahrhundert ist eine Form der Idealisierung, die bei den jüdischen Gelehrten vor 1933 sichtbar wird, undenkbar geworden. Also dass da jemand sagt, Luther kann als Vorbild des jüdisch-christlichen Dialogs dienen, weil er ein humanes Element mit einbringt. Er ist eher eine im höchsten Maße belastete Figur, mit deren Wirkungsgeschichte der Protestantismus umgehen muss. Antijudaistische Strukturen in der christlichen Theologie lassen sich nur gegen und nicht mit dem Reformator überwinden.

Ist das geschehen?
Wiese: Teilweise, aber immer mit Rückschlägen. Die Debatte kreist ja seit Jahrzehnten immer darum, wie das Verhältnis zwischen den beiden „Judenschriften“ zu sehen ist. Und da gibt es unterschiedliche Modelle. Je mehr man Luther schützen möchte, desto mehr wird die Diskontinuität betont. Dann setzt man sehr einseitig auf den jungen Luther und findet politische, historische und psychologische Gründe, warum der späte Luther nicht so ernst zu nehmen ist. Und dann gibt es andere, die auf die theologische Kontinuität hinweisen und betonen, dass man den späten Luther nicht vom jungen abtrennen kann. Sie weisen darauf hin, dass die politische Haltung des späten Luther ihre Wurzeln in der Theologie der Verachtung hat, die auch den jungen Reformator kennzeichnet.

Was heißt das in der Konsequenz? 
Wiese: Es muss ein Gespräch möglich sein, bei dem die Kirche einerseits diesen Aspekt ihrer Vergangenheit ohne Apologetik benennt. Dialog kann es nur auf der Grundlage der Erkenntnis der Unheilsspuren geben, die Luther bis heute hinterlassen hat. Etwa im Blick auf die hebräische Bibel selbst, das Buch, über dessen Interpretation Christen und Juden ins Gespräch kommen können. Das setzt aber – gegen Luther – die Einsicht voraus, dass es eine eigenständige, legitime jüdische Bibelauslegung gibt, die eine sehr andere ist als die christliche. Das ist keine antichristliche, sondern eine fremde, der christlichen widersprechende Auslegung eines Buches, das gleichzeitig verbindet und trennt, ohne das aber das Christentum hinfällig ist. 

Prof. Dr. Christian Wiese ist Inhaber der Martin-Buber-Professur für Jüdische Religionsphilosophie an der Universität Frankfurt am Main. Seine Forschungsschwerpunkte sind u.a. die Geschichte der jüdisch-christlichen Beziehungen und Antisemitismusforschung.

http://www.luther2017.de/kr/neuigkeiten/ein-idealisierender-blick-auf-luther-interview-mit-christian-wiese/

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