Redaktion: Hans-Georg Vorndran

BlickPunkt.e Nr. 2 / April 2016

 

Daniel Neumann
Wer ist Jude?

Der Politologe Lothar Schmidt sagte einst, wir hätten einen Überschuss an einfachen Fragen und einen Mangel an einfachen Antworten. Im Judentum begegnet uns gleich zu Beginn eine solche Problemstellung, wenn wir die harmlos klingende Frage stellen, wer eigentlich Jude ist? Und obwohl das Judentum in seiner weit mehr als dreitausend Jahre währenden Geschichte ja eigentlich zu einer klaren und eindeutigen Definition hätte kommen müssen, ist es bei näherem Hinsehen nicht ganz so einfach.

Wer also ist Jude? Die traditionelle Antwort lautet: Jude ist, wer von einer jüdischen Mutter geboren wurde oder entsprechend der Halacha, also dem jüdischen Religionsgesetz, von einem Rabbinatsgericht ins Judentum aufgenommen worden ist.

Seltsam ist allerdings, dass sich die jüdische Identität über die biologische Abstammung von der Mutter und nicht über die des Vater definiert, da das Judentum doch in einer zutiefst patriarchalischen und von Männern dominierten Zeit entstanden ist.  Außerdem lässt sich durch diese eher ungewöhnliche Regel zwar die Identität des Kindes definieren, doch was ist mit derjenigen der Mutter? Zwar musste auch sie wiederum von einer jüdischen Vorfahrin abstammen, um Jüdin zu werden und so weiter und so fort. Aber wo liegt der Ursprung? Oder anders ausgedrückt: Wann wurde der erste Samen dieses Stammbaums gepflanzt?

Um dies zu erklären, ist eine Zeitreise zu den frühen Hochkulturen der Menschheit nötig. Im Gebiet des fruchtbaren Halbmondes und speziell der Gegend des heutigen Irak wurde vor 3828 Jahren ein Mann namens Abraham geboren, der sich gemeinsam mit seiner Frau Sarah anschickte, die Welt, wie man sie bis dahin kannte, zu revolutionieren. Nachdem er den Monotheismus, den Glauben an den einen und einzigen G“tt, begründet hatte, wurden Abraham und Sarah zur Keimzelle des jüdischen Volkes. Und obwohl in der damaligen Zeit Abstammung, religiöse Identität und Zugehörigkeit primär über den Vater als dem jeweiligen Stammesoberhaupt bestimmt wurden, zeigte sich bereits im Archetyp der jüdischen Familie ein anderes Muster.

Träger des Bundes, den Abraham mit G“tt geschlossen hatte, wurde wider Erwarten nicht dessen Erstgeborener Ismael, den Abraham mit seiner Magd Hagar gezeugt hatte, sondern stattdessen sein zweiter Spross Itzaak, den seine Frau Sarah ihm gebar. Zwar entstand auch aus Ismael ein großes Volk, die Tradition des abrahamitischen Bundes allerdings setzte Isaak fort.

Weil sich während der Frühgeschichte des Judentums aber noch kein eindeutiges Muster der unwiderruflichen Verknüpfung von mütterlicher Abstammung und Zugehörigkeit zum Judentum ausmachen ließ, stand seinerzeit noch das unbedingte Bekenntnis zum Monotheismus sowie dessen Lehren und Idealen im Vordergrund. Die Weitergabe jüdischer Identität durch die Mutter wurde hingegen erst viel später endgültig festgelegt.

Ganz nebenbei existierte weder zur Epoche Abrahams noch zu Zeiten der Volkwerdung der Kinder Israels unter der Herrschaft G“ttes am Berg Sinai der Begriff Jude. Mehr noch: In den gesamten 5 Büchern Mose taucht diese Bezeichnung nicht ein einziges Mal auf. Stattdessen sprach man von den Iwrim, also von den Hebräern, was soviel bedeutet wie: diejenigen, die auf der anderen Seite stehen. Während nämlich beinah die gesamte Menschheit mit ihren polytheistischen Systemen und ihren unzähligen Göttern auf der einen Seite stand, befanden sich Abraham und die Seinen mit der revolutionären Idee des einen, einzigen und allmächtigen G“ttes auf der anderen Seite.

Der Begriff Jude hingegen bezeichnet jemanden, der dem Stamm Juda zugehörig war, also einem der 12 Stämme Israels angehörte. Daher auch die Bezeichnung der Kinder Israels. Und Israel, alias Jakob, war wiederum der Enkelsohn Abrahams und Sarahs. Doch auch das ist nicht ganz präzise. Denn die 12 Stämme errichteten seinerzeit das Königreich Israel. 10 Stämme im Norden und 2, nämlich Juda und Benjamin, im Süden. Nach der Eroberung und Zerschlagung des Nordreiches durch die Assyrer im Jahre 722 vor der Zeitrechnung, überdauerte das Südreich noch gute 140 Jahre, bevor die Babylonier die verbleibenden Israeliten nach Babylon verschleppten. Die Anhänger dieser 2 Stämme Südisraels wurden unter dem Namen Jehudim bekannt. Sprich Juden. Das mag zwar etwas unpräzise sein, da es ja die Nachkommen zweier Stämme waren, aber was soll’s.

Nun wissen wir zwar, dass die Juden Teil einer uralten Traditionslinie von Monotheisten sind, die ihren Ursprung in einer einzigen Familie, ihren Kindern und Kindeskindern hatten und die ihren Namen letztlich einem der 12 Stämme Israels verdanken, sehen aber noch immer nicht klarer, weshalb die mütterliche Abstammung ausschlaggebend ist.

Der Nebel lichtet sich etwas, wenn man in die Schriften des Priesters Esra blickt, die von der Rückkehr der Juden aus dem babylonischen Exil nach Jerusalem vor gut 2500 Jahren zeugen. Dort wird beschrieben, wie man in dem Versuch, Mischehen zwischen Juden und Nichtjuden aufzulösen, auch eine Klarstellung dahingehend niedergelegt hat, dass das Kind einer jüdischen Mutter ebenfalls als jüdisch gilt.

Letztlich bedurfte es jedenfalls einer abschließenden Entscheidung der Rabbinen, um diese Frage ein für allemal zu beantworten. Und entgegen der Erwartungshaltung, die angesichts einer männlich dominierten Umgebung eigentlich nahe gelegen hätte, trafen die Weisen ihre Entscheidung stattdessen auf Grund der Hinweise in der Tora und unter Heranziehung ihres klaren Menschenverstandes.

Vergisst man nämlich für einen Moment die noch jungen Errungenschaften der modernen Medizin, die einem unzweifelhafte Aufklärung über die Vaterschaft bietet, dürfte ziemlich schnell klar werden, dass in den vergangenen Jahrhunderten und Jahrtausenden keinesfalls sicher war, wer nun eigentlich der Erzeuger und damit der biologische Vater eines Kindes war. Und da es früher, ganz gleich ob zu biblischen Zeiten, in der Antike, im Mittelalter oder sogar noch während der Weltkriege des letzten Jahrhunderts durchaus üblich war, dass die Eroberer oder die Sieger einer Schlacht oder eines Krieges die Frauen der Unterlegenen vergewaltigt haben, konnte man für den Fall, dass die missbrauchten Frauen schwanger wurden und Kinder gebaren nur eines mit absoluter Sicherheit wissen: nämlich wer die leibliche Mutter des Kindes war.

Das Judentum unterstellte diese Kinder deshalb dem Schutz seiner Gemeinschaft und ließ somit erst gar keinen Zweifel über den Status des Kindes aufkommen. Wen wundert es da, dass es den Begriff des unehelichen Kindes im jüdischen Recht gar nicht gibt.

Der zweite Weg ins Judentum führt über die Konversion, also die Aufnahme durch ein Rabbinatsgericht. Das Judentum ist demnach kein geschlossenes System, das nur durch biologische Abstammung gekennzeichnet ist, sondern ist offen gegenüber solchen Menschen, die in den g“ttlichen Bund eintreten wollen. Wer sich dem jüdischen Volk anschließen will, der ist herzlich willkommen, dies zu tun. Klingt einfach, oder? Ist es aber nicht.

Denn die Aufnahme ins Judentum setzt neben einem gründlich durchdachten Entschluss voraus, dass man sich in einem langwierigen Lernprozess mit der Geschichte, den Traditionen, den Gesetzen und der Sprache, also einem gesetzestreuen jüdischen Leben vertraut macht und dieses auch praktiziert.

Das ist ein anstrengender, herausfordernder und anspruchsvoller Prozess, der meist mehrere Jahre in Anspruch nimmt und nicht selten damit endet, dass die potentiellen Anwärter sich darüber klar werden, dass sie eigentlich gar nicht als Juden leben wollen, sondern stattdessen einer fixen Idee aufsaßen, mal etwas vermeintlich Exotisches ausprobieren zu müssen. Oder dass ihnen das klar wird, was die zuständigen Rabbiner einem Übertrittswilligen stets mit auf den Weg geben: dass sie nämlich weder jüdisch sein müssen, um ihren Platz in der kommenden Welt zu finden, noch, um ein gutes und glückliches Leben zu führen oder ein guter Mensch zu werden. All das lässt sich nämlich auch als Christ, Moslem oder auf anderen Wegen erreichen.

Wer allerdings trotz allem seinen unbedingten Willen erkennen lässt, Jude werden zu wollen und sämtliche Voraussetzungen erfüllt, der kann durch die Aufnahme eines anerkannten Rabbinatsgerichts zu einem vollwertigen Teil des jüdischen Volkes werden. Ohne Wenn und Aber.

Wissen Sie nun also, wer Jude ist? Sollte man zumindest meinen. Was bisher allerdings noch gar nicht zur Sprache kam, sind all diejenigen Richtungen und Meinungen im Judentum, die das eigentlich so geordnet erscheinende Bild gehörig durcheinander bringen. So gibt es heutzutage solche Bewegungen, die nicht nur die Abstammung von der Mutter als maßgeblich betrachten, sondern die des Vaters ebenso anerkennen. Andere verlangen neben der Abstammung ein klares und eindeutiges Bekenntnis der Zugehörigkeit. Wieder andere diskutieren über die religionsgesetzlichen Anforderungen für einen Übertritt und die Qualifikationsmerkmale eines Rabbinatsgerichts. Während ganz andere diese uralten Traditionen gänzlich über den Haufen werfen wollen.

Wie sagte Rabbiner Benjamin Blech so treffend: Das Judentum ist zwar monotheistisch aber keineswegs monolithisch.

Jetzt gerade blenden wir diese abweichenden Stimmen aber einfach mal aus. Nur für den Moment. Und geben uns der Illusion hin, dass es manchmal doch einfache Antworten auf einfache Fragen gibt.

Der Autor ist Direktor des Landesverbandes der Jüdischen Gemeinden in Hessen.

 

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