Redaktion: Hans-Georg Vorndran

BlickPunkt.e Nr. 3 / Juni 2016

 

Klaus-Peter Lehmann
Kann es zwei Gottesvölker geben?
Exegetische Gedanken zum jüngsten Vatikandokument, das an der Quadratur des Kreises scheitert

1. Das Problem im Trotzdem
Die jüngsten Reflexionen aus dem Vatikan vom Dezember 2015 zu Nostra Aetate  (1)  reizen zu einer Replik. Sind sie doch einerseits gekennzeichnet von dem ehrlichen Bemühen, der unwiderruflichen Erwählung Israels zum Bundesvolk Gottes gerecht zu werden und andererseits davon, diese Einsicht mit dem erratischen katholischen Dogma von der alleinigen Gegenwart des universellen Heils in der katholischen Kirche in Einklang zu bringen. Weil sich dieser Einklang nicht herstellen lässt, hinterlässt diese Stellungnahme theologische Disharmonien und Ungereimtheiten, denen wir im Folgenden nachgehen wollen. Ungereimtheiten übrigens, die sich u.E. nicht aufheben lassen, so lange die katholische Kirche an dem auch in den Beschlüssen des Zweiten Vatikanischen Konzils nicht problematisierten alleinigen Vollbesitz der christlichen Offenbarungswahrheit und aller religiösen Wahrheit überhaupt wie selbstverständlich festhält. Insgesamt reflektiert das Dokument folgenden Satz aus Nostra Aetate: „Gewiss ist die Kirche das neue Volk Gottes, trotzdem darf man die Juden nicht als von Gott verworfen oder verflucht darstellen, als wäre dies aus der Heiligen Schrift zu folgern.“  (2)  Anders als das Konzilsdokument bemühen sich die Reflexionen um eine positive Verhältnisbestimmung zwischen Judentum und Kirche. Außerdem wird die Ablehnung traditioneller Antijudaismen ausgiebiger begründet. In mehreren Anläufen versuchen die Reflexionen das Verhältnis zwischen der herkömmlichen katholischen Dogmatik, d.h. der Vorstellung von der privilegierten Erwählung der katholischen Kirche, und dem unabweisbaren Textbefund, dem ungekündigten Bund Gottes mit Israel, zu bestimmen. Weil zwei Gottesvölker der Sache nach nur konkurrieren können, kommt es unweigerlich zu höherwertigen Bestimmungen für die Kirche. Trotzdem hält man an der Erwählung Israels fest. Es ist als umkreisten die Verfasser, die Kommission für die religiösen Beziehungen mit den Juden, das „trotzdem / tamen“ des zitierten Nostra-Aetate-Satzes. In ihm erscheinen alle Probleme verpackt. So kommt die kirchliche Behauptung, das neue Gottesvolk zu sein, schroff neben dem Ja zur ewigen Erwählung Israels zu stehen. Es bleibt der Eindruck, als würde die katholische Theologie heftig damit ringen, endlich den alten Weg zu verlassen, ohne es schon zu können. Denn gelöst sind die theologischen Probleme erst, wenn die Kirche die Erwählung Israels nicht mehr „trotzdem“ bejaht.

2. Die ewige Erwählung Israels
An mehreren Stellen betonen die Reflexionen, dass „Gott den Bund mit seinem Volk nie aufgekündigt hat“ (35, 33, 34). Sie streichen heraus, „dass die jüdische Leseweise der Bibel... neben der christlichen Leseweise, die sich parallel entwickelte“,  eigenständig existiert (31). Dementsprechend wird die Substitutionstheorie vom Ersatz des Gottesvolkes Israel durch die Kirche noch einmal ausdrücklich verworfen und man spricht von „der fortdauernden Liebe Gottes zu seinem auserwählten Volk Israel“ (17). Auch die „institutionelle Judenmission“ findet eine „prinzipielle Ablehnung“ (40). Dabei wird exegetisch mit den „jüdischen Wurzeln des Christentums“ ernst gemacht. Die Rede vom Alten Bund im Hebräerbrief werte die alttestamentlichen Verheißungen nicht ab, sondern wolle sie ins Recht setzen und den Christen helfen, „des Heils in Christus gewiss zu sein“ (18).

3. Antijudaistisches in der Christologie
Diesem ernst zu nehmenden Bemühen, der ewigen Erwählung Israels theologisch gerecht zu werden, stehen mehrere dogmatische Behauptungen im Weg, die ein erfolgreiches Weiterdenken blockieren. Ein erster solcher Lehrsatz sagt, dass „die Figur Jesu ganz klar der einzige Schlüssel für die christliche Interpretation der Schriften des Alten Testamentes ist“ (20).
Einer vorurteilsfreien Lektüre des Neuen Testamentes hält dieser Satz nicht stand. Ist es nicht umgekehrt so, dass das Neue Testament einen geradezu unendlichen Zitatenschwarm aus Thora, Propheten und Psalmen bildet, der das Leben und Sterben Jesu im Horizont des Alten Testamentes reflektiert und deutet und bei dessen Herausnahme ein literarisch sinnloser Torso übrig bliebe? Für Christen kann also nicht Christus der Schlüssel für das Alte Testament sein, sondern das Alte Testament ist der Schlüssel für Christus.
Auch wenn man obigen Satz von der Figur Jesu als dem „einzigen Schlüssel für die christliche Interpretation der Schriften“ im einschränkenden Sinn von: nur für die Christen geltend und die Juden nicht tangierend, verstehen will, bleibt doch die Frage, wie denn das Judentum von einer solchen Selbstauffassung der Christen her erscheint? Eine Gleichwertigkeit beider Gottesvölker, mit der die Reflexionen manchmal zu sympathisieren scheinen, ist hier von vornherein unterminiert. Denn maßgebend bleibt der Ausblick der Christen auf die Juden von der Position ihres exklusiven geistlichen Erkenntnisbesitzes her, da ihnen „eine neue Dimension durch Jesus“ (41) eröffnet sei.
Auf einen umgekehrten Satz als den der Reflexionen laufen die Erkenntnisse aus dem christlich-jüdischen Dialog hinaus. Hier dämmert schon länger die Einsicht, dass allein das Alte Testament der Horizont und der Schlüssel zum Verständnis der Figur Jesu ist. Einige sprechen zurecht vom Alten Testament als dem „Wahrheitsraum“ des Neuen.  (3)  Denn der Messias ist nach Paulus „Diener der Beschneidung“ (Röm 15,8) und nach Lukas zur Bekräftigung der Abrahamsverheißungen gekommen (Lk 1,54f; 73; Röm 15,8). Von daher könnte man von einer christologisch begründeten Hinordnung der Kirche Jesu Christi durch einen Aposteldienst für die Hoffnung Israels (Apg 28,20) sprechen. Dem entgegen behaupten die Reflexionen eine Hinordnung des Judentums auf die Kirche, das „Gottesvolk des Neuen Bundes“ (42) und sagen dazu, „das Gottesvolk“ würde „eine neue Dimension durch Jesus, der seine Kirche aus Juden und Heiden beruft“ (41) erhalten. Wie soll man das anders verstehen, als dass die Kirche durch Jesus Christus eine Dimension habe, die dem Judentum fehlt? Diese Deutung der „Kirche aus Juden und Heiden“, dass sie die „Erfüllung der an Israel ergangenen Verheißungen“ darstelle (23), läuft auf eine Auflösung des Judentums hinaus. Denn was bliebe den Juden aus dieser Sicht anderes als eine defizitäre Existenz ohne die Erfüllung oder eine „Existenz“ mit Erfüllung als Christen?
Eine Christologie, die für die Christen  keinen Status beschreiben kann, der dem jüdischen implizit nicht überlegen ist, ist implizit antijudaistisch.

4. Antijudaistisches in der Ekklesiologie
Die katholischen Autoren haben solche Intentionen offenbar nicht. Denn sie bemühen sich, immer wieder herauszustreichen, dass neben der Glaubenssicht der Kirche die jüdische, von ihr unangegriffen, weiterbestehe. „Auf der Suche nach dem richtigen Verhalten gegenüber Gott, wenden sich die Christen Christus zu, der für sie die Quelle des Lebens ist und die Juden wenden sich der Lehre der Tora zu.“ (23). „Tora und Christus sind der Ort der Gegenwart Gottes in der Welt, zumal diese Gegenwart in den jeweiligen Gottesdienstgemeinschaften erfahren wird“ (26).
Doch manche Ausführungen laufen diesem Bestreben zuwider, wie die folgende: „Der neue Bund hebt nicht die früheren Bünde auf, sondern bringt sie zur Erfüllung. Durch das Christusereignis haben die Christen verstanden, dass alles Vorgängige noch einmal neu gedeutet werden musste (27). Der unaufhebbare Widerspruch zwischen dem ersten und dem zweiten Satz bleibt das „abgrundtiefe Geheimnis“ (36) der Autoren. Was kann es im Neuen Bund substantiell neu zu Deutendes geben, wenn es in ihm nur um die Erfüllung, das Eintreffen des im Alten Bund zuvor Angesagten geht?
Paulus hat das Christusgeschehen nicht als ein die Neudeutung des Vorgängigen entzündendes Ereignis verstanden, sondern als ein Ereignis, das durch seine Konformität mit den Abrahamsverheißungen (Röm 4,9-25) auch Heidnischstämmigen an ihnen Anteil gibt (Röm 4,16; Apg 14,27) und einen anderen Weg (Apg 22,4) zur Erfüllung der pharisäischen Auferstehungshoffnung (Apg 23,6) eröffnet. Im Neuen Testament kommt die Kirche Jesu Christi aus Juden und Heiden neben dem Bundesvolk Israel unter dem gemeinsam bleibenden pharisäischen Hoffnungshorizont der Auferstehung der Toten zu stehen. Die Ekkleesia ist aber nicht der doppeldeutige, für die jüdische Existenz ambivalente Kulminationspunkt der Erfüllung der Verheißungen. Damit würde sich die Kirche als Hoffnungshorizont des Judentums definieren und wäre das Prekariat seiner Existenz. Einen grundlegenden Fehler begeht die christliche Theologie, wenn sie die Kirche als den Ort der durch Jesus schon geschehenen Erfüllung der Verheißungen versteht und nicht wie z.B. Lukas als den Ort, von dem aus ihrer kommenden Erfüllung auf einem anderen Weg  (4)  entgegengearbeitet wird. Im ersten Fall hat sie das Judentum seiner Verheißungen enteignet und für immer als defizitär hinter sich gelassen bzw. abgestempelt.

5. Die Enteignung des Gottesvolkes Israel vom neuen Bund
Wir kommen zum nächsten problematischen Lehrsatz der Reflexionen. Er besagt, die Kirche sei das „Gottesvolk des neuen Bundes.“ Seine Unhaltbarkeit steht schon damit fest, dass für ihn keine  stützenden Stellen aus dem Neuen Testament angeführt werden (können). Auch ein „Volk aus den Völkern“, das beziehungsreich neben „das Bundesvolk Israel“ gestellt ist, kennt das Neue Testament nicht. Ebenso wenig eine Hinordnung des Bundesvolkes auf die Kirche, „auf das Gottesvolk des Neuen Bundes“ (43).
Beim neuen Bund handelt es sich um eine Verheißung aus dem Buch des Propheten Jeremia Kap. 31,31-34: „Siehe es kommt die Zeit, spricht der Herr, da will ich mit dem Hause Israel und mit dem Hause Juda einen neuen Bund schließen.“ Er meint eine neue anthropologische Grundlage für die Israeliten in ihrem Bund mit JHWH: „Ich gebe meine Weisung in ihr Inneres, auf ihr Herz will ich sie schreiben.“ Die Verheißung des Neuen Bundes ist eine prophetische Verheißung für Israels Zukunft.
Interessanterweise schreibt Paulus den neuen Bund mit dem Jeremia-Zitat (Jer 31,31.34) in Röm 11,27 ausdrücklich dem in der Zukunft geretteten „ganz Israel“ zu. Röm 11,28f gibt dafür die Begründung: Gott bereut seine Erwählung, seine Verheißungen, seine Berufung (Israels) nicht. Die Ekkleesia bleibt, auch wenn die Vielzahl der Völker in sie eingegangen sein wird (Röm 11,25), Diener der Beschneidung (Röm 15.8), Werkzeug Gottes zur Befreiung ganz Israels (Röm 11,26). Die Kirche ist also nicht „der endgültige und unüberbietbare Ort des Heilshandelns Gottes“ (32). Sie ist nicht die Erfüllung der Bundesgeschichte Israels, sondern auch als antizipierte Reich-Gottes-Gemeinde das Werkzeug Gottes zur Befreiung Israels aus der Hand seiner Feinde (Lk 1,71). Indem sie durch ihre ökumenische Existenz als Viel-Völker-Gemeinde (Kol 3,9f) den Völkerfrieden voranbringt, befördert sie das Ziel des Handelns des Gottes Israels, die freie Existenz des Volkes Israel in einer versöhnten Völkerwelt (Lk 1,74f). Die Verheißung des neuen Bundes Gottes mit Israel wird sich dann erfüllen.

6. Das kirchliche Mehr gegenüber Israel
Wir kommen damit zu einem weiteren, so zwar nicht formulierten, aber als Grundgedanke immer wieder auftauchenden Lehrsatz. Trotz aller Anerkennung des auf ewig erwählten Volkes Israel machen die Theologen ein der Kirche in ihrer Offenbarung durch Jesus Christus geschenktes Mehr gegenüber Israel geltend: die Vollendung. An drei Punkten artikuliert sich dieser kirchliche Überlegenheitsanspruch: an der angeblich höheren Güte der Offenbarung in Jesus Christus (35); an der teilweisen Unabhängigkeit der Kirche von ihrer Verwurzelung in Israel (34); an der Existenz der Kirche als „das neue Gottesvolk“ (23). Alle drei Punkte laufen darauf hinaus, Israel den Zugang zum Reich Gottes  (5)  abzusprechen, weil die Juden sich nicht zu Jesus Christus bekennen. Denn nur in Christus sei Gott „vollends als Gott aller Völker offenbar geworden.“ Dieses „vollends“, die erst im Neuen Testament vollendete Offenbarung, ist exegetisch ohne Stütze und deshalb ein dogmatischer Irrweg. Und: ein  abgestufter Offenbarungsbegriff zerstört die Einheit Gottes in beiden Testamenten.  (6) 
Wir haben darauf hingewiesen, dass die Teilhabe von Heidnischstämmigen an den Verheißungen der Väter (Apg 26,18; Röm 4,11-17; Gal 3,14; Eph 3,6; Jak 2,23-25) und der entsprechende Dienst  der Ekkleesia für Israel (Apg 15,14-16; Röm 11,25f; 15,8) als konstitutive Sätze des Neuen Testamentes über den Charakter des messianischen Werkes Jesu Christi anzusehen sind. Von daher wäre das Werk Jesu Christi ein weiterer Schritt des im Alten Testament für sein Bundesvolk und die Menschheit handelnden JHWH, der die Perspektive der Völkerversöhnung der Abrahamsverheißungen (1Mose 12,3) in der Gemeinde Jesu Christi aus Juden und Heiden (Eph 2,11-16) aktualisiert und so das Israel in seinem Land und als Volk (1Mose 12,1.2; Amos 9,11f; Apg 15,16) befreiende Reich Gottes auf den Plan der Geschichte ruft. Bei der „Kirche aus Juden und Heiden“ (23) handelt es sich nicht um eine Offenbarung von neuer, endgültiger Qualität („vollends“) oder um eine neue Dimension, sondern um die Aktualisierung eines Aspektes der Offenbarung an die Väter, der von Anfang an in ihrem Horizont lag. Wie sollte sonst Paulus das Christusgeschehen und die Teilhabe „auch der Heiden (=Völker=Unbeschnittenen)“ mit einer Auslegung der Abrahamsverheißung exegetisch legitimieren können (Röm 4), wenn in den Worten an Abraham Gott sich nicht „vollends als Gott aller Völker“ offenbart hätte? Er geht wie alle Rabbiner von der Offenbarungseinheit der Schriften aus und kann auch nur so das Christusereignis als „nach den Schriften“ (1Kor 15,3) geschehen zu erweisen versuchen.
Sprachlich vollbringt der Satz, dass Gott sich in Christus „vollends... offenbart“ habe einen Salto mortale. Denn auch grammatikalisch lässt Offenbarung keinen Komparativ zu. Eine Offenbarung ist per se vollständig. Sonst hätte die Theologie nicht dieses Wort für Gottes Kundgebungen gewählt. Für eine Offenbarungstheologie kann es keine Kundgebungen Gottes geben, in denen sich Gott, im Gegensatz zu früher, „vollends“ zu erkennen gibt.
Die Autoren der Reflexionen nun wollen Israel die Offenbarung nicht nehmen, aber gleichzeitig an der alleinigen und vollständigen Offenbarung für die Kirche festhalten: „Das Bekenntnis zur universalen und deshalb exklusiven Heilsmittlerschaft gehört zum Kern des christlichen Glaubens.“ Alles andere würde „die Fundamente des christlichen Glaubens gefährden“ (35). Dass diese Sicht von einer abgestuften und exklusiven Offenbarung die Einheit der Schrift aus Altem und Neuem Testament gefährdet, scheinen die Autoren zu ahnen. Sie sagen, dass ein Schwerpunkt für Katholiken weiterhin die höchst komplexe Frage bleiben muss, „wie der christliche Glaube an die universale Heilsbedeutung Jesu Christi mit der ebenso klaren Glaubensaussage vom nie aufgekündigten Bund Gottes mit Israel kohärent zusammengedacht werden kann.“ (37). Für wahr! Aber die Vereinigung dieser beiden Glaubensaussagen gleicht u.E. der Quadratur des Kreises.
Zum Anspruch auf eine qualitativ höhere Offenbarung gesellt sich gut der Satz von der „neuen Dimension des Heilshandelns Gottes, sodass die christliche Kirche nicht einfach als Zweig oder als Frucht Israels verstanden werden kann“ (34). Über die scheinbar noch wertvolleren, neu dimensionierten, außerbiblischen Wurzeln und Schätze, von denen sich die Kirche speist, als die aus der jüdischen Tradition, schweigt sich das Dokument allerdings aus. Sie ruhen wohl noch in den Katakomben des Vatikans.
Das ekklesiologische Mehr gegenüber Israel bleibt eine leere Behauptung und ist der Sache nach ein Angriff auf die Einzigkeit des Gottes Israels, der sich in seinen Offenbarungen an Abraham, an Mose, an die Propheten und auch in Jesus Christus in seiner Treue immer wieder als der gezeigt hat, der er war, ist und bleiben wird.

7. Kann es zwei Gottesvölker geben?
Das ist der nächste problematische Lehrsatz: „Die Kirche wird das neue Gottesvolk genannt... Die Kirche ersetzt nicht das Gottesvolk Israel... Das heißt nicht, dass das nicht zu solcher Erfüllung gelangte Israel nicht mehr als Volk Gottes betrachtet werden könnte“ (23). Hier wird Nostra Aetate ins Gedächtnis gerufen: „Gewiss ist die Kirche das neue Volk Gottes, trotzdem darf man die Juden  nicht als von Gott verworfen... darstellen, als wäre dies aus der Heiligen Schrift zu folgern.“
Beide Formulierungen lassen erkennen, dass man die Problematik der dogmatischen Doppelspur vom ewig bestehenden jüdischen und vom neuen kirchlichen Gottesvolk spürt. Sie liegt in dem „trotzdem“ bzw. dem „das heißt nicht“. Die nahe liegende Schlussfolgerung aus der Rede von der Kirche als dem „neuen Gottesvolk“, mit ihr sei Israel verworfen, muss umgehend abgewiesen werden. Wäre sie aber genau besehen nicht folgerichtig? Oder: Kann es zwei Gottesvölker geben?
Eine biblische, neutestamentliche Grundlage gibt es dafür nicht. Belegstellen für ihre entscheidenden Behauptungen führen die Reflexionen auch nicht an. Beim letzten Passahmahl mit seine Jüngern spricht Jesus zu ihnen vom Neuen Bund. Es handelt sich um einen Zuspruch in der Kraft des Neuen Bundes aus seinem Blut, „das für euch vergossen wird“ (Lk 22,20). Jesus legt hier den Grund für eine Hoffnungs- und Liebesgemeinschaft in seiner Nachfolge. Es geht um den Leib des auferstandenen Messias Jesus, um die Ekkleesia. Auch wenn sie aus der Kraft der Verheißung des Neuen Bundes lebt, tritt sie nirgendwo als neues Bundesvolk in Konkurrenz zum Gottesvolk Israel. Die Ekkleesia, die Kirche Jesu Christi ist kein neues Gottes- oder Bundesvolk.
Es wird deshalb unumgänglich sein, dass die Ekklesiologie sich exegetisch und dogmatisch neu orientiert. Denn das Festhalten an problematischen Lehrsätzen hat desaströse Konsequenzen. Denn die Behauptung, es gebe zwei Bundesvölker, läuft auf die Infragestellung von Gottes ewiger Treue hinaus. Nach biblischem Zeugnis besteht Gottes Treue darin, dass er seinem einmal erwählten Volk treu bleibt und damit auch die Treue zu seiner Verheißung des Schalom für alle Völker bekräftigt. Seine ewige Treue zu Israel ist das einmalige und unüberholbare Zeugnis für seine Treue gegenüber allen Menschen, der Menschheit. Weil er dort treu bleibt, wird er auch hier treu sein. Die Zuverlässigkeit seiner universalen Verheißung für die Menschheit gründet in der Zuverlässigkeit seiner partikularen für Israel. Die besondere Treue des Ewigen zu Israel ist der Erweis seiner universalen Treue. Die Erwählung Israels ist die einmalige, in sich selbst genügende Offenbarung Gottes als der allen seinen Geschöpfen ewig treue Gott.
Der katholischen Theologie scheint die entscheidende Einsicht in das Ineinander statt Gegeneinander von Partikularität und Universalität der biblischen Offenbarung zu fehlen. So wird die Rede von der Erwählung eines zweiten Gottesvolkes, das das erste partikulare überbietet, geradezu notwendig. Sie wird gleichzeitig die Zuverlässigkeit von Gottes Ersterwählung relativieren. Sie läuft darauf hinaus, sie in ihrer ganzen Güte in Frage zu stellen. Denn sie kann ihre eigene Notwendigkeit  nur mit der Unzulänglichkeit der Ersterwählung begründen. Die Behauptung von der Existenz eines zweiten Gottesvolkes stellt also Gott in seinem Wesen als treuer Gott in Frage, sie stellt den Gott Israels in Frage.

8. Zwei Gottesvölker aber nur ein Heilsweg
Die Reflexionen wollen an beiden Bünden festhalten, am „nie gekündigten Alten Bund“  (7)  und an der Kirche als dem „Gottesvolk des neuen Bundes“ (43). Sie können sie aber nicht harmonisieren. Die Lösung dieses Problems nehmen die Verfasser nicht auf sich, sie stellen sie Gott anheim: „Dass die Juden Anteil an Gottes Heil haben, steht theologisch außer Frage, doch wie dies ohne explizites Christusbekenntnis möglich sein kann, ist und bleibt ein abgrundtiefes Geheimnis Gottes“ (36). Die Flucht ins Geheimnis bleibt der einzige Ausweg zwischen exegetischer Einsicht in die ewige Erwählung Israels und dem unverrückbaren kirchlichen Selbstverständnis, dem damit verbundenen geistlichen Machterhalt. Denn dass es „einen jüdischen Heilsweg ohne Christus und den Heilsweg durch Christus gibt... würde die Fundamente des christlichen Glaubens gefährden“ (35). So ist es: Der Exklusivitätsanspruch der katholischen Kirche, als neues Gottesvolk das Heil „durch die Offenbarung in Jesus Christus vollends“ zu besitzen („Das Bekenntnis zur universalen und deshalb auch exklusiven Heilsmittlerschaft Jesu Christi gehört zum Kern des christlichen Glaubens“ (35)), wird durch die exegetische Einsicht in die ewige Erwählung Israels in Frage gestellt.
Angemerkt sei, dass die Rede vom Heil nicht unproblematisch ist. Genauer unterschieden werden sollte zwischen dem Heil und dem Weg zum Heil.  (8)  Das Heil ist in Anbetracht seines Inhalts immer nur eines. Dass für das Neue Testament die Juden schon immer daran Anteil haben, ergibt sich aus des Apostels Paulus ständigen Bemühungen einen Zugang „auch“ (Röm 1,16; 3,28; 4,9.11.12.16) für die Heiden exegetisch zu begründen. Hier wird deutlich, dass es beim Heil eigentlich um die Verheißungen und das verheißene Reich Gottes geht. Die Juden haben daran schon immer Anteil, denn „das Heil kommt von den Juden“ (Joh 4,22). Heil meint aber grundsätzlich „Rettung“, d.h. endgültige Befreiung von Sünde und politischer Unterdrückung. Die Vision des Paulus vom Weg dorthin lesen wir in Röm 11,25-27. Es handelt sich hier um die prophetische Zuversicht, dass die „Rettung ganz Israels“ ermöglicht wird, wenn immer mehr Heiden in die Verheißungsgemeinschaft mit Abraham „eingegangen sein“ werden. Das auf den Weg zu bringen ist der Dienst an der Beschneidung, zu dem die  messianische Ekkleesia berufen ist. Ein Christusbekenntnis spielt für die Rettung ganz Israels offenbar keine Rolle. Denn es handelt sich um einen freien Dienst und nicht um Mission.
Das Problem des Neuen Testamentes ist nicht das Christusbekenntnis der Juden, sondern die Teilhabe auch der Heiden am Heil der Verheißungen Abrahams. Nach 1Mose 12,1-3 sind diese die Landgabe an Israel, die Volkwerdung Israels und die Völkerversöhnung im Namen Abrahams. Die Völkerversöhnung wird Wirklichkeit im Leib Christi aus Juden und Heiden, ein antizipiertes Reich Gottes (Kol 3,9f), dessen weltweites Wirken ein sicheres Leben der Juden als Volk in ihrem Land ermöglichen wird. Die Völkerversöhnung im Leib Christi dient der Aufrichtung Israels. Wenn es im Neuen Testament wirklich darum geht (Apg 15,14-16; 26,6f), dann sollte differenzierter geredet werden als die Rede vom Heil es vermag. Es geht um die Teilhabe der Völker an den Verheißungen Abrahams, deren endgültige Verwirklichung im menschheitlichen Schalom auch Reich Gottes genannt wird, das in der Gestalt des Leibes Christi der Rettung ganz Israels aus der Hand seiner Feinde (Lk 1,71ff; Röm 11,25f) dient (Röm 15,8).

9. Zum Schluss
Die Reflexionen über Nostra Aetate machen noch weit mehr als das Vatikandokument selbst deutlich, wie die katholische Kirche bemüht ist ihr Verhältnis zum Judentum theologisch ins Reine zu bringen und wie schwer es ihr fällt und u.E. leider nicht gelingt, über ihren dogmatischen Schatten zu springen. Beherrschend ist immer noch das Dogma von der absoluten und alleinigen Fülle der Offenbarung in Jesus Christus und der daraus folgende Exklusivitätsanspruch. Vermutlich ist  das auch der Schatten der großen Mehrheit aller Kirchen und Christen. Die Lektüre der Reflexionen ist deshalb lohnend, weil die Autoren an unvereinbaren Lehrsätzen festhalten wollen und dadurch die Probleme für eine Kirche, die ihr Verhältnis zum Judentum auf eine tragfähige biblische Grundlage stellen möchte und die gleichzeitig an ihrem Selbstverständnis klebt, scharf konturieren. So stehen die Reflexionen vielleicht stellvertretend für die Schwierigkeiten, die viele Christen haben, wenn sie ihr Verhältnis zu den Juden theologisch gründlich reflektieren und erneuern wollen.

Wir erinnern noch einmal an den epochal neuen Satz in Nostra  Aetate, der gleichzeitig alle Probleme in einem Wörtchen verbirgt: „Gewiss ist die Kirche das neue Volk Gottes, trotzdem darf man die Juden nicht als von Gott verworfen oder verflucht darstellen, als wäre dies aus der Heiligen Schrift zu folgern.“ Letzteres ist gewiss nicht aus ihr zu folgern, aber auch nicht die Gewissheit der ersten Satzhälfte. So kommt zwischen der lediglich behaupteten Gewissheit von der Kirche als Bundesvolk und der exegetisch begründeten von Israels ewiger Erwählung das trotzdem zu stehen. Erst wenn die Kirche sich nicht „trotzdem“ zur ewigen Erwählung Israels bekennt, wird sie mit Israel versöhnt sein.

  1. „Denn unwiderruflich sind Gnade und Berufung, die Gott gewährt“ (Röm 11,29), Reflexionen aus dem Vatikan zu theologischen Fragestellungen in den katholisch-jüdischen Beziehungen aus Anlass des 50jährigen Jubiläums von Nostra Aetate (Nr. 4), in: Blickpunkt.e Nr. 1 / Februar 2016; S. 9-15
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  2. „Licet autem Ecclesia sit novus populus Dei, Iudaei tamen neque ut a Deo reprobati exhibeantur, quasi hoc ex Sacris Litteris sequatur“ (Nostra Aetate, Abs. 4).

  3. Frank Crüsemann, Das Alte Testament als Wahrheitsraum des Neuen, Die neue Sicht der christlichen Bibel, Gütersloh 2011; zum Abschnitt vgl. a. ders., Ist der Satz „Das Alte Testament ist der Schlüssel für das Neue“ umkehrbar?, Blickpunkt.e Nr. 2 / April 2016, S. 9f

  4. Wo die Apostelgeschichte von den Jesusgemeinden oder dem Wirken des Paulus als dem anderen „Weg“ (griech.: hodos) spricht, spricht die Übersetzung ins Deutsche (Zürcher) von einer (anderen) „Glaubensrichtung (s.z.B.: Apg. 9,2; 19,9.23; 22,4) und verzeichnet den Sachverhalt. Luther 1984 und EÜ sprechen vom „(neuen) Weg“. Doch die daraus zu ziehenden Konsequenzen für das Kirchenverständnis lassen noch auf sich warten.

  5. Wir ziehen der unkonturierten Rede vom Heil den konkreteren Begriff vom Reich Gottes vor.

  6. Röm 15,8 bezeichnet Jesus Christus als „Diener der Beschneidung“ und meint damit genau das: Es ist derselbe Gott, der im Alten Testament durch sein prophetisches Wort Israel und seinen Verheißungen die Treue erweist und im Neuen Testament durch sein messianisches Wort, in seinem Gesalbten, seine Treue zu Israel und den universalen Verheißungen bekräftigt und neu aktualisiert.

  7. Papst Joh. Paul II. in Mainz vor Vertretern des Judentums am 17.11.1980 (39)

  8. Oft wird der christliche Exklusivitätsanspruch mit Joh 14,6: „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben, niemand kommt zu Vater, denn durch mich“ begründet. Der Einwand von Fr. Rosenzweig, was denn mit denen sei, die schon beim Vater sind, eröffnet diese Unterscheidung und die vorgängige Teilhabe der Juden am Heil, an den Verheißungen. Vgl.a. Fr. Crüsemann, a.a.O., Ist der Satz...?

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