Redaktion: Hans-Georg Vorndran

BlickPunkt.e Nr. 3 / Juni 2016

 

Elisa Klapheck
Kann / darf Religion politische Ansprüche stellen?

Im demokratischen Rechtsstaat haben Religionen vor allem einen politischen Anspruch – nämlich den der Religionsfreiheit. Den dürfen sie nicht nur stellen – den müssen sie stellen. Er ist jedoch heute weitaus vielschichtiger als noch vor hundert Jahren. Vor hundert Jahren kämpften Katholiken und Juden für Religionsfreiheit gegenüber dem preußisch-protestantischen Hegemonieanspruch des Kaiserreiches („Kulturkampf“ unter Bismarck). Ihre Forderung richtete sich gegen die Idee einer Staatskirche, die ein politisches Hoheitsprivileg über den Bereich der Religion in der Gesellschaft anstrebte. Um das zu verhindern und die staatliche Diskriminierung der Juden zu beenden, wurde die Religionsfreiheit als ein Grundrecht in die Weimarer Verfassung aufgenommen.

Heute, in einer in religiöser Hinsicht viel pluralistischeren Gesellschaft ist der Anspruch auf Religionsfreiheit zwangsläufig anders beschaffen. Er bezieht sich nicht nur auf die Vielfalt der Religionen – sondern auch auf die innere Vielfalt der jeweiligen religiösen Tradition. Die multireligiöse Wirklichkeit hat dazu geführt, dass keine religiöse Richtung mehr einen vollen Alleinvertretungsanspruch besitzen kann. Rechtlich gesehen hat jeder Bürger und jede Bürgerin die Möglichkeit, ihre jeweilige Religionsgemeinschaft zu verlassen und sich religiös neu zu orientieren. Im Rahmen der Demokratie bedeutet dies jedoch zunächst, dass eine Religion - wenn sie einen anerkannten politischen Status, etwa als „Körperschaft des öffentlichen Rechts“ oder auch als „Eingetragener Verein“ - zuvor und zuvörderst den Rechtsstaat mit seinen Gesetzen akzeptiert. Das ist, zumindest rechtlich gesehen, die Bedingung, unter der eine Religion ihre Werte und Überzeugungen frei entfalten darf, ja sogar den politischen Anspruch stellen muss, dass die die Gesetze des Rechtsstaates ihr dies ermöglichen.

Das Wort „Anspruch“ hat jedoch mindestens zwei Aspekte. Zunächst einmal den Aspekt der Forderung. Darüber hinaus aber auch den der Qualität. Beide sind innerlich verbunden. Kann die Religion politische Ansprüche stellen – im Sinne von: Kann die Religion eine bestimmte politische Qualität von der Gesellschaft verlangen? Das reflektiert immer auch auf die Religion zurück: Welchen politischen Anspruch stellt sie an sich selbst? Denn das, was sie selbst sein will, spiegelt sich in ihrer Forderung an ihr politisches Umfeld, bzw. wie dieses beschaffen sein sollte.

Vor dieser Herausforderung stehen heute vor allem die muslimischen Glaubensgemeinschaften in der westlichen Welt. Aber auch die Rolle der jüdischen Tradition ist politisch in Bezug auf die pluralistische Gesellschaft herausgefordert. Wenn wir, wie etwa unlängst geschehen in der Beschneidungsdebatte auf die Religionsfreiheit pochen, stellt sich die Frage, ob wir damit auch einen politischen Anspruch stellen, der über die Riten unserer Religion hinausgeht und die Gesellschaft im Ganzen mitgestaltet. Es ist zu erinnern, dass die jüdische, insbesondere die orthodox-jüdische Seite nicht den Ritus ohne Wenn und Aber nach ihren Vorstellungen durchsetzte, sondern am Ende einem gesetzlichen Kompromiss zustimmte, durch den der Ritus gewahrt bleibt, aber bestimmte medizinische Vorgaben eingehalten werden. So könnte es durchaus geschehen, dass dieser Kompromiss die religiöse Auffassung der Zukunft prägen wird – dass sich der Bund Gottes noch stärker im Wohlaufbefinden des Neugeborenen manifestiert und daraus ein neuer politischer Anspruch im Wechselspiel von gesellschaftlicher Realität und religiöser Tradition hervorgeht. Möglicherweise werden sich dem auch Muslime und Andere anschließen, so dass die Auseinandersetzung mit einem bestimmten Detail gesellschaftsgestaltende Auswirkungen birgt.

Historisch gesehen hat gerade die jüdische Tradition eine erstaunliche Transformationsfähigkeit bewiesen und dabei immer auch ihren politischen Anspruch auf den Prüfstand gestellt. Schon die Tora bezeugt dramatische politische Veränderungen, dokumentiert in jeweils neuen politischen Ansprüchen an die Gesellschaft. Die israelitischen Stämme überwanden sich zu einer Nation unter dem einen Gesetz. In dieser Nation sollte gleiches Recht für alle herrschen – der König wäre genauso an die Tora gebunden wie die von den Holzfällern und Wasserträgern repräsentierte untere Klasse. Einen anderen politischen Anspruch, den die alt-israelitische Gesellschaft an sich selbst stellte, erkennt man in ihrer Emanzipation von archaischen Riten – z.B. dem Talionsprinzip („Auge um Auge“) oder dem Umgang mit vermutetem Ehebruch („Sota“). Anstelle von Rache und Selbstjustiz institutionalisierte die Tora neutrale Gerichte, Maßstäbe der Entschädigung und transparente Vorgehensweisen. Mit den Prophetenbüchern gibt die Bibel darüber hinaus zu verstehen, dass öffentliche Kritik gegen die Obrigkeit sowie Kritik gegen eine Politik des Unrechts zur religiösen Pflicht gehören.

Das Erfolgsgeheimnis der jüdischen Tradition bestand darin, aus der jeweils herrschenden politischen Realität eine Herausforderung an den eigenen politischen Anspruch abzuleiten – der sich natürlich aus der Religion begründet. Der Anspruch wandelte sich qualitativ entsprechend der Zeitläufte. In der Tora verlangte Gott eine Theokratie, seine Sprecher waren die Propheten und Priester. Im Talmud wurde die Institution der Prophetie jedoch abgeschafft. Prophezeiungen in Bezug auf das Ende der Geschichte und den Beginn des messianischen Zeitalters wurden zurückgedrängt. Stattdessen entwickelten die talmudischen Gelehrten eine Rabbinerdemokratie, in der argumentiert und am Ende abgestimmt wird. Der messianische Anspruch wurde deswegen nicht aufgegeben. Aber seine politische Qualität wandelte sich. Er galt fortan als ein Maßstab aus einer besseren Zukunft, an der die gesellschaftspolitische Gegenwart zu messen ist. Die Rabbinen entwickelten hierfür den Begriff der Olam haba, der „kommenden Welt“, die aber schon jetzt im Kommen ist und die man mit dem Tikkun olam, der „Korrektur der Welt“ schon aktiv gestaltet. Die neuen politischen Ansprüche, die sich aus dieser Überzeugung ergaben, machten für manchen Rabbinen die apokalyptischen Endzeitvorstellungen überflüssig. So sah etwa im 3. Jahrhundert der große Rechtsgelehrte Samuel das messianische Zeitalter ganz unspektakulär: Man werde immer noch arbeiten müssen. Nur würden die Menschen freundlicher zueinander sein. Und ganz wichtig: Die Herrschaft werde aufhören. Niemand brauche mehr einen Herrn über sich. Außerdem verstehen die Eltern die Anliegen ihrer Kinder – also der jüngeren Generation. Die Jüngeren wiederum erkennen die Verdienste der Älteren.

Die politischen Ansprüche des Tikkun Olam setzten manche Bestimmung der Tora außer Kraft. Das berühmteste Beispiel war der Prosbul, jenes Dokument, durch das die Schulden über das Erlassjahr hinauswirkten. Das half dem Kreditwesen, unterstützte Investitionen und stärkte die allgemeine Wohlfahrt – was in der Tora als religiöses Ideal angesehen wird. Es ist jedoch bezeichnend, dass eine solche Transformation gerade unter Bedingungen entstanden ist, als Juden keine Hoffnung auf Hegemonie haben konnten und ihre Wirklichkeit zusammen mit Angehörigen anderer Völker und Religionen gestalten mussten. In dieser Zeit entwickelte der Talmud auch ein Verständnis für Religionsfreiheit – festgeschrieben in den „Sieben Noachidischen Geboten“.

Bemerkenswerter Weise verlangen die „Noachidischen Gebote“ als oberstes Prinzip die Schaffung des Rechtsstaates – gefolgt von sechs ethischen Mindeststandards. Dass die Schaffung eines Rechtsstaates als erstes Gebot genannt wird, kann gar nicht stark genug betont werden. Offenbar hatten die talmudischen Rabbinen erkannt, dass der Rechtsstaat einen geeigneteren Boden bietet, sich mit den Anderen zu verständigen, als gegenseitige religiöse Überzeugungsversuche. Der große Rechtsgelehrte Samuel bekräftigte die damit verbundene Vorgabe für die in Babylonien lebenden Juden: Dina deMalchuta Dina – die Gesetzes des Rechtsstaates gelten! – Auch für die Juden.

Gerade der babylonische Talmud bezeugt eine pluralistische Welt, in der die jüdische Minderheit von den Anregungen ihrer nichtjüdischen Umgebung profitierte und sie für die eigene Tradition adaptierte. Indem die pluralistische und rechtsstaatliche Herausforderung in die jüdische Tradition hineinwirkte, stellte sich zugleich die Notwendigkeit, einen inneren Freiraum zu ermöglichen, in dem die Rabbinen die Tora einerseits bewahrten, aber sie andererseits weiterentwickelten. So konnte das Judentum in der neuen Realität fortbestehen. Der Schlüssel hierzu lag darin, das Andere anzuerkennen, aber damit zugleich das Eigene weiterzuentwickeln.

Damals war es den Juden nicht zu empfehlen, allzu hochgesteckte politische Ansprüche im Sinne von Forderungen an die babylonische Gesellschaft zu stellen. Trotzdem scheint im Talmud eine Wechselbeziehung auf, in der auch heute die Frage nach den politischen Ansprüchen der Religion an die Gesellschaft zu beantworten ist. Aufgrund der Wechselbeziehung zwischen der politischen Realität Babyloniens und der jüdisch-religiösen Tradition schufen die Rabbinen einen geistigen Raum, in dem sie den politischen Anspruch sowohl nach außen – an das politische System Babyloniens – als auch nach innen – an das jüdische Leben – entfalteten.

Heute fordert uns dieselbe Wechselbeziehung heraus. Es ist vollkommen klar, dass der Zentralrat der Juden in Deutschland seit seinem Bestehen umfänglich klar gemacht hat, nichts anderes als den demokratischen Rechtsstaat für das jüdische Leben zu wünschen. Ebenso klar ist, dass der Zentralrat unter Anerkennung des demokratischen Rechtsstaates die umfängliche Religionsfreiheit fordert, um damit die Ausübung der jüdischen Religion und die Wahrung der jüdischen Identität zu sichern. Die spannende, darüber hinausgehende Frage aber ist, ob die Wechselbeziehung zwischen der gesellschaftspolitischen Entwicklung und dem politischen Anspruch der religiösen Tradition noch eine Stufe weiter geht – ob sich die jüdisch-religiöse Tradition unter den gesellschaftpolitischen Bedingungen Deutschlands und mehr noch Europas weiterentwickelt und daraus weitergehende politische Ansprüche hervorbringt.

Im demokratischen Rechtsstaat kann eine Religion über die Religionsfreiheit hinaus keine unmittelbaren politischen Ansprüche stellen. Was über die Freiheit der Religionsausübung hinausgeht und der Gesamtgesellschaft ein spezifisches religiöses Diktat auferlegt, ist ihr zu verwehren. Wohl aber kann eine religiöse Tradition ihre religiösen Überzeugungen in allgemeine Werte transformieren und sie der größeren Gesellschaft nahebringen. Das bedeutet, dass sie aus sich Orte schaffen muss, in denen der Diskurs über die Transformation geführt wird. Vielleicht bedarf dies eines „Dazwischen“, eines Zwischenbereichs, zwischen religiöser Tradition und politischer Wirklichkeit – in dem der politische Anspruch erst formuliert werden kann. Ich selbst bin jedenfalls der Meinung, dass die Zeit für neue Foren reif ist, in denen der politische Anspruch der heute in Deutschland und Europa lebenden Juden als gestalterisches Prinzip der pluralistischen und multireligiösen Wirklichkeit entwickelt wird. Ganz sicher ist damit auch eine größere innere Religionsfreiheit verknüpft. Ohnehin sind Religionen gut beraten, ihren inneren Pluralismus als Chance zu begreifen, um in der pluralistischen Gesellschaft eine mitgestaltende Rolle spielen zu können, die auch von den Anderen ernst genommen wird – wie ja auch demokratische Parteien dann stark sind, wenn sie die relevanten gesellschaftlichen Herausforderungen intern diskutieren und reflektieren und so beeinflussen können.

In jedem Fall fordert das heutige Europa, mit seiner Entwicklung als EU, die religiösen Traditionen auf eine ganz eigene Weise heraus - nämlich in genau diesem Rahmen ihren politischen Anspruch zu stellen. Das bedeutet jedoch, dass sie nach innen hin einen Diskurs ermöglichen sollten, der die verschiedenen Gesichtspunkte des politischen Anspruchs erwägt.

Es ist nicht das erste Mal, dass von der jüdischen Religion her neue Gesichtspunkte erwogen werden. Genau genommen spiegelt sich im Begriff Halacha die Wechselbeziehung zwischen der sich wandelnden Wirklichkeit und der sich daran erneuernden jüdischen Tradition. Heute halten wir die Halacha für etwas unumstößlich Festgesetztes – als einen Kodex, der sich gegen innerreligiöse Neuentwicklungen, Pluralismus und Emanzipation stellt. Das Wort Halacha ist tatsächlich schwierig zu übersetzen. Es kommt von h-l-ch, dem Verbstamm für „laufen“. Man sollte es als das „Gangbare“ verstehen. Die Tora kannte das Wort Halacha noch nicht. Sie spricht vor allem von Chukim uMischpatim (Gesetze und Rechtssatzungen). Erst mit der Notwendigkeit, die nichtjüdische Realität im Römischen Reich und im babylonisch-persischen Reich anzuerkennen, kam der Begriff Halacha auf. In ihm spiegelte sich der Anspruch der Rabbinen, die jüdischen Ideale auch unter nichtidealen Voraussetzungen „gangbar“ zu machen. Er ist der genuine Beweis, dass sich die jüdische Tradition unter veränderten Erfordernissen zu transformieren vermag und zu neuen politischen Ansprüchen gelangt.

Heute steht die Gangbarkeit der jüdischen Tradition in einer größeren politischen Wirklichkeit erneut auf dem Prüfstand. Juden sollten politische Ansprüche an das werdende Europa stellen - nicht nur gegen Antisemitismus und Rechtsradikalismus, sondern aus ihrer religiösen Tradition. Hierfür bedarf es eines eigenen, neu zu konstituierenden Bereiches, in dem die Ansprüche aus der Wechselbeziehung zwischen politischer Realität und religiöser Tradition formuliert werden können. Die hieraus zu gewinnende Gangbarkeit wird nicht Halacha heißen, sondern einen eigenen Namen finden. Sie wird die Vielfalt Europas als gestalterischen Prinzip für die europäisch-jüdische Identität begreifen. „Aschkenasisch“ und „sefardisch“ werden sich als zu grobe Kategorien erweisen. Aus den Nuancen der Judentümer in Frankreich, Polen oder Skandinavien – in Italien, Griechenland oder Lettland werden durch und durch kosmopolitisch-jüdische Regionalidentitäten zu Tage treten, die alle zusammen einen politischen Anspruch an Europa und seine jüdischen Wurzeln stellen. Es wird von diesem Europa aus zugleich die Bitte an die jüdische Tradition gestellt – sich zur pluralistischen Wirklichkeit zu verhalten und sie aus der religiösen Inspiration der verschiedenen Identitäten mitzugestalten. Die jüdische Tradition wird unendlich viel Inspiration hierzu bieten können – sei es zu Fragen des Rechtsstaates, der Ethik, der globalen Wirtschaft, des Sozial- und Solidargedankens, undsoweiter undsoweiter. Die öffentliche Auseinandersetzung mit der Anwesenheit von Juden in Europa ist heute nicht mehr in erster Linie vom Antisemitismus überschattet. Es herrscht vielmehr ein großes Interesse am Judentum. Nicht nur bei Christen. Auch unter den modernen Muslimen in Deutschland hoffen nicht wenige auf jüdische Inspiration. Und so könnte es durchaus kommen, dass die jüdischen Anregungen aufgenommen, ja die politischen Ansprüche der jüdischen Tradition das Europa von morgen mitgestalten werden. Die Voraussetzung hierfür liegt jedoch nicht nur in der allgemeinen Wirklichkeit – sondern fast mehr noch im politischen Anspruch des europäisch-jüdischen Lebens an sich selbst. Erst von hier aus lassen sich weitere Ansprüche an die allgemeine gesellschaftspolitische Wirklichkeit stellen.

aus: Themenheft 2016 des DKR „Um Gottes Willen“. Zu bestellen unter www.deutscher-koordinierungsrat.de

Elisa Klappheck ist Rabbinerin der liberalen Synagogengemeinschaft „Egalitärer Minjan“ in der Jüdischen Gemeinde Frankfurt/M.

„Sieben Gebote wurden den Noachiden auferlegt: der Rechtsstaat, [das Verbot der] Gotteslästerung, des Götzendienstes, der Unzucht, des Blutvergießens [Mord], des Raubes und des Genusses eines Gliedes von einem lebendigen Tiere [Verstümmelung bzw. Tierquälerei].“ (Sanhedrin 56a)

 

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