Redaktion: Hans-Georg Vorndran
BlickPunkt.e Nr. 3 / Juni 2016
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Daniel Neumann Es gibt wohl kaum ein Lebensmittel, das so sehr mit dem Judentum in Verbindung gebracht wird, wie jenes, das wir während des Pessach-Festes meist in rauen Mengen konsumieren. Matze hingegen entsteht, wenn man eine der 5 zu Mehl gemahlenen Getreidesorten, meist Weizen, mit Wasser zu einem Teig vermischt, diesen kräftig knetet, ihn ausrollt und dann in Windeseile backt. Dabei muss nicht nur peinlich genau darauf geachtet werden, dass das Mehl nicht schon vorher mit Wasser in Berührung kam, sondern es ist unabdingbar, dass der gesamte Herstellungsvorgang, also das Mischen, das Kneten und das Backen eine Zeitspanne von 18 Minuten keinesfalls überschreitet. Wenn dieses Zeitlimit eingehalten wird und damit geeignete Matze für das Pessach-Fest entstanden ist, kann diese wiederum beliebig weiterverarbeitet werden, da eine Säuerung nun ausgeschlossen ist. Eigentlich ist es nur schwer vorstellbar, dass es ausgerechnet diese kümmerliche Speise war, die der Kirche seit dem frühen Mittelalter dazu diente, teuflische Pogrome gegen die jüdische Bevölkerung auszulösen. Und doch: Da es den Judenhassern zu allen Zeiten nicht an blühender Phantasie und bösen Absichten gefehlt hat, entstand im Jahr 1144 in Norwich erstmals das Gerücht, dass die Juden ein Christenkind entführt und geschlachtet hätten, um mit dessen Blut die Matze für ihr Pessach-Fest herzustellen. Eine hinterhältige und abstruse Verleumdung, die ihren Zweck allerdings nicht verfehlte und als Ritualmordlegende in den nachfolgenden Jahrhunderten zur Rechtfertigung zahlloser Pogrome gegen die meist schutzlosen jüdischen Minderheiten diente. Dass den Juden der Blutgenuss streng verboten ist und die Vorwürfe völlig aus der Luft gegriffen waren, interessierte die hasserfüllten Massen dabei nicht im Geringsten. Und selbst heute, im 21. Jahrhundert, schlägt diese infame Lüge noch immer Funken, feiert die uralte Ritualmordlegende vor allem in der arabischen Welt eine fatale Renaissance. So erschien erst im Jahr 2003 in Syrien eine populäre Fernsehserie mit dem Namen „Diaspora“, in der unter anderem die Schlachtung eines christlichen Kindes gezeigt wurde, dessen Blut die jüdischen Protagonisten anschließend zur Herstellung und Verfeinerung ihrer Matze benutzten. Uralter Hass in neuem Gewand also. Doch nun zurück: Was ist eigentlich der Grund dafür, dass es ausgerechnet ungesäuertes Brot ist, das zum Erkennungszeichen des wohl weitverbreitetsten jüdischen Feiertages geworden ist? Dafür gibt es mehrere Gründe: Der offensichtlichste, den auch die Tora anführt, war der Zeitfaktor: Nachdem die Ägypter und ihr hartherziger Pharao von G“tt mit einer Reihe von zerstörerischen Plagen überzogen worden waren, und der ägyptische Herrscher sich unter diesem Druck schließlich bereit erklärt hatte, die Israeliten in die Freiheit ziehen zu lassen, blieb diesen keine Zeit, den Brotteig, der als Wegzehrung dienen sollte, vor dem Backen aufgehen zu lassen. Sie waren in Eile und buken den Teig so schnell sie nur konnten. Die Matze ist deswegen eben auch Symbol für den Umstand, dass es kein Sklavenaufstand, keine Revolte und keine Widerstandsbewegung war, die den Weg in die Freiheit geebnet haben, sondern dass wir dieses Wunder ausschließlich dem Ewigen zu verdanken haben. Schließlich gibt es eine weitere Erklärung, weshalb das ungesäuerte Brot sich die Topplatzierung in der Allzeit-Hitparade jüdischer Speisen gesichert hat, während dem Gesäuerten für ganze 8 Tage der Garaus gemacht werden muss: Das Gesäuerte symbolisiert nämlich eine Reihe schlechter Eigenschaften. Es entsteht durch Trägheit, Faulheit und Nichtstun. Rabbiner Mosche Chaim Luzzato erklärte in seinem Buch „Der Pfad des Aufrechten“, dass das menschliche Verlangen, Schlechtes zu tun, durch das Gesäuerte repräsentiert werde, da dieses gleichermaßen durch Faulheit und Müßigkeit gedeihe und stets den Weg des geringsten Widerstands suche. Bereits durch die Kombination zweier Zutaten beginnt nach kurzer Zeit automatisch der Säuerungsprozess. Ganz ohne Anstrengung, ohne jegliches Zutun. So geht der Teig immer weiter auf, ohne dass sich an den Zutaten irgendetwas ändert. Er bläht sich auf und sieht vordergründig gehaltvoll aus, doch tatsächlich entsteht die Verwandlung vorwiegend der Luft wegen. Das fertige Produkt besteht dann aus mehr Schein als Sein und bildet damit spiegelbildlich die Neigung moderner Gesellschaften ab, den anderen und seine Umgebung überwiegend nach Äußerlichkeiten, nach dem Sichtbaren, nach dem äußeren Schein zu beurteilen. Die Matze hingegen ist durch das genaue Gegenteil gekennzeichnet: Die Herstellung von Matze verlangt Einsatz und Tempo. Hier bleibt keine Zeit für Müßiggang oder Schlendrian, da sonst der unumkehrbare Säuerungsprozess einsetzt und der Teig damit verloren ist, zumindest aber für die Verwendung an Pessach unbrauchbar wird. Stattdessen muss er schnell bearbeitet und kräftig geknetet werden. Er muss mit kleinen Löchern versehen werden, damit er auch beim Backen nicht aufgeht und er verlangt nach intensiver Zuwendung. Matze fordert Dynamik, Einsatz und Engagement. Und im Gegensatz zu Gesäuertem ist sie nicht aufgequollen und voller Luft sondern zeigt sich so wie sie wirklich ist. Sie steht nicht für Aufgeblasenheit, Egoismus und Arroganz, sondern für Bescheidenheit, Hilfsbereitschaft und Authentizität. Sie symbolisiert die Ablehnung einer auf Äußerlichkeiten reduzierten Weltsicht und verlangt danach, so akzeptiert zu werden, wie sie nun einmal ist: Zwar nicht so ansehnlich dafür aber umso gehaltvoller. Jetzt also wissen Sie zumindest theoretisch, was Matze ist. Und falls Sie nicht nur das Wissen, sondern auch das unvergleichliche Geschmackserlebnis mit uns teilen möchten, so sind Sie herzlich eingeladen, das Brot der Armut zu probieren. Schließlich ist geteiltes Leid ja bekanntlich halbes Leid. Der Autor ist Direktor des Landesverbandes der Jüdischen Gemeinden in Hessen |
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Die BlickPunkt.e erscheinen 6mal im Jahr. Die Printausgabe kann für 25 Euro/Jahr bestellt werden bei ImDialog. Evangelischer Arbeitskreis für das christlich-jüdische Gespräch in Hessen und Nassau. |