Redaktion: Hans-Georg Vorndran

BlickPunkt.e Nr. 4 / August 2016

 

Klaus-Peter Lehmann
Abraham, Vater Israels und seine messianische Hoffnung auf Völkerfrieden
Auslegung zu 1Mose 12,1-9

V.1: Und sprach JHWH zu Abram: Gehe für dich aus deinem Land und aus deiner Verwandtschaft und aus dem Haus deines Vaters zu dem Land hin, das ich dich sehn lassen werde. V.2: Und ich will dich zu einem großen Volk machen, und ich will dich segnen, und ich möchte deinen Namen groß werden lassen. Werde ein Segen! V.3: Und segnen will ich, die dich segnen und die dich lästern, verfluche ich. Und gesegnet werden durch dich alle Geschlechter des Erdbodens. V.4: Und Abram ging wie geredet hatte zu ihm JHWH. Und mit ihm ging Lot. Und Abram, ein Sohn von fünf Jahren und siebzig Jahren, als er aus Charan auszog. V.5: Und Abram nahm Sara seine Frau und Lot seines Bruders Sohn und all ihren Besitz, den sie erworben, und die Seelen, die sie in Charan gebildet hatten. Und sie zogen aus, um hinzugehn zum Land Kanaan. Und sie kamen zum Land Kanaan. V.6: Und Abram durchquerte das Land bis zum Ort Sichem bis zum Hain More. Und der Kanaaniter war damals im Land. V.7: Und sichtbar ward JHWH dem Abram und sprach: Deinem Samen gebe ich dieses Land. Und er baute dort einen Altar dem JHWH, der ihm sichtbar geworden. V.8: Und er brach auf von dort zum Gebirge, östlich von Bet-El. Und er spannte sein Zelt, Bet-El im Westen und Ai im Osten. Und er baute dort einen Altar dem JHWH, und er rief im Namen JHWHs. V.9: Und Abram brach auf, immer wieder aufbrechend ging er gen Süden.

1. Die Geburt einer geschichtlichen Hoffnung für die Menschheit
Mit der Berufung Abrahams kommt nach dem Zeugnis des Tanach  eine unwiderruflich lichtvolle Wendung in das Leben der Menschheit. Mit dem antiken Nomaden Abram, der zum Juden Abraham wird, kommt Licht, kommt Geschichte, kommt Hoffnung in die Völkerwelt. Eine frohe Botschaft, von deren weiterer Geschichte die biblischen Schriften erzählen. Es geht um die Hoffnung auf eine alle Völker umfassende segensreiche Gemeinschaft der Menschheit. Sie ist mit Abraham in die Welt gekommen, hat in seiner Person ihr Vorbild und bleibt auf immer mit seinem Namen verbunden. Durch seine jüdischen und nichtjüdischen Kinder bleibt das Panier dieser Hoffnung als Horizont über den geschichtlichen Weg der Menschheit gespannt.
Diese Hoffnung ist nicht als religiöser Gedanke einer menschlichen Seele entsprungen, sondern kommt als unbedingtes Versprechen, als Wort einer Verheißung und Berufung in Abrahams Ohr: Seine Nachkommen werden im Land Kanaan als Volk leben und Gottes Verheißung für die Menschheit, den ewigen Völkerfrieden im Namen Abrahams wachhalten. So ist Abraham als Erzvater des jüdischen Volkes auch Vater vieler Völker (1Mose 17,1-8).
Die Vorgeschichte (1Mose 5-11,26) und die Geschichte von Abraham (11,27-25,11) erzählen, vor welchem völkergeschichtlichen Hintergrund und warum er für immer dieser Vater ist. Von den ersten Schritten dieses völlig unscheinbaren Beginns der großen jüdischen Hoffnung erzählt 1Mose 12,1-9, ein für die pseudo-objektiven Historiographen aller großen und kleinen Imperien damals und heute völlig belangloses Ereignis.

2. Im Dunkel der Völkerwelt (1Mose 5-11,31)
Im Tanach geht es um die Menschheit. Formal literarisch wird dies daran deutlich, dass in der Bibel jedes Volk seinen Namen hat. Die Völkertafeln lassen kein Geschlecht  der Erzeugungen (Toledot) des neuen Menschheitssprosses Noach nach der großen Flut aus (Kap. 10f). Auch die Toledot Adams (Kap. 5) dokumentieren vollständige namentliche Nennung der damals bekannten Völker.
Aber was wird eigentlich erzählt? Was erscheint aus den äonenhaften Epochen zwischen Adam und dem gerechten Noach (Kap. 6,8f) sowie diesem und dem Freund Gottes Abraham erzählenswert? Im wesentlichen, dass die Gojim ein Geschlecht um das andere zeugten und diese sich überall auf der Erde verstreuten (Kap. 10,32). Es wird nur von Toledot, Tod und Zerstreuung berichtet. Mehr erscheint nicht erwähnenswert. Soll damit gesagt werden, die Menschheit lebte über Epochen dunkel und dumpf vor sich hin? Auch Gott tritt in den gott-los dunklen Äonen von Adam bis Noach und von Noach bis Abraham nur zweimal auf. 1Mose 5,22 heißt es, als hätte einmal ein Blitz das endlos scheinende Dunkel der über viele Jahrhunderte gehenden Zeugungen und Tode kurzzeitig erleuchtet: „Und Henoch wandelte mit Gott, dann war er nicht mehr, denn Gott hatte ihn genommen.“ Sehr viel später erst wieder weitet sich der gleichförmig aufzählende Bericht von den Toledot Noachs und den Zerstreuungen der nach ihm kommenden Gojiman zwei Stellenins Erzählerische. Erzählt wird vom Versuch der Gründung eines Großreichs, vom ersten Gewaltherrscher Nimrod (Kap. 10,8b-12) und in 1Mose 11,1-8 vom sog. Turmbau zu Babel, mit welchem die Völker ihrer Zerstreuung entgegenwirken wollten (11,4).
Was Gott verhindert. Warum? Es geht dabei um das selbstbezogene nach Macht und Ruhm strebende politische Wollen, das sich in den auffordernden Worten: „Heran! Bauen wir uns eine Stadt und einen Turm, sein Haupt bis an den Himmel, und machen wir uns einen Namen, sonst werden wir zerstreut übers Antlitz der Erden“ (11,3b-4) ausdrückt  (1).
„Mit dieser Einführung des Nationalruhmes, mit der Entfesselung der Ruhmessucht ist die ganze sittliche Aufgabe des Ganzen und des Einzelnen untergraben. Alle Leidenschaften haben ihre Sättigungsgrenze, die Ruhmessucht nicht. Die ganze Weltgeschichte weiß zumeist nur von solchen Turmbauten vermeintlichen Ruhms zu erzählen, für welche Nimrode die Völker ködernd und bewältigend zu gewinnen verstanden. Das Reinmenschliche, was in den Hütten geschieht, davon weiß der Griffel der Geschichte wenig zu verzeichnen. Wie der schöne Ausdruck unserer Weisen lautet, schreibt das nur Gott nieder, und Elijahu und der Maschiach, diese Boten und Vollbringer der einstigen Menschenerlösung, unterzeichnen es als Zeugen. Die Verirrung charakterisiert das Wort: Wenn ein Mensch beim Bau fiel und starb, nahmen sie sichs nicht zu Herzen, wenn aber ein Ziegel zu Boden fiel, setzten sie sich hin und klagten: wann werden wir erst einen Ersatz dafür haben?“  (2) 
Auch Paulus spricht vom gott-losen Dunkel der Völkerwelt, wenn er im Brief an die Epheser schreibt: „Seid eingedenk, dass ihr einst die Völker im Fleische wart... dass ihr zu jener Zeit ohne Gesalbten wart, ferngehalten vom Bürgerrecht Israels und fremd den Bünden der Verheißung, keine Hoffnung habend und als Gott-lose in der Welt“ (Eph 2,11f).
Dieser prophetische Blick auf die Geschichte der Menschheit, den Gottes Bund mit Abraham  eröffnet, könnte auch heute als kritische Sonde in der Geschichtsschreibung dienen, besonders angesichts der verbreiteten auf das Große und Mächtige fixierten Historiographie, für unsere nach den Daten der Mächtigen und Prächtigen geordneten Geschichtsbücher.
Wie auch immer. Nach der Bibel beginnt die wahre von Licht durchdrungene Geschichte der Menschheit mit dem Exodus des Abraham aus der Gottesverdunkelung der Gojim.

3. Die Herausrufung Abrams in eine menschheitsgeschichtliche Sendung (1Mose 11,32-12,3)
Bevor Abram den Ruf des Ewigen hört, ist schon sein Vater Tarach samt Hausstand aus seiner Heimat Ur im Land der Chaldäer in Richtung Kanaan gezogen und hat sich auf dem Weg dorthin in Charan niedergelassen. Dort stirbt Abrams Vater. Das Wort von JHWH, das Abram unvermittelt nach seines Vaters Tod hört, ruft ihn, den 75jährigen, und seine kinderlose Frau aus seinen angestammten gesellschaftlichen Bindungen heraus:
„Und der Tage Tarachs waren zweihundert Jahre und fünf Jahre, da starb Tarach in Charan. Und der Ewige sprach zu Abram: Gehe für dich aus deinem Land, aus deiner Verwandtschaft, aus dem Haus deines Vaters, in das Land, das ich dich sehn lassen werde“ (1Mose 11,32-12,1).
Das hebräische „Läch lecha = Gehe für dich“ betont die geforderte Konzentration auf den Weg, der ihn aus der Gesamtheit seiner bisher Leben gebenden Beziehungen und Umstände in eine lediglich verheißene Zukunft (promissio Dei) herausführt. Das Alte ist deshalb nicht mehr für ihn wesentlich, weil ihm das göttliche Wort eine Zukunft verheißt, die alles Aufgegebene ganz anders zurückgibt.
Er sagt sich von dem Land, in dem er sicher lebt, los und vertraut dem Versprechen, ein neues zu empfangen und in ihm Vater eines neuen und großen Volkes zu werden (1Mose 12,1f).
Er verlässt seine Verwandtschaft, eine gesicherte mit Ansehen verbundene gesellschaftliche Position in seiner Heimat und vertraut dem göttlichen Versprechen einer neuen, segensreichen Zukunft, die allein in dem in Gottes Wort gegründeten Bürgerrecht auf Erden ihr Fundament hat (Hebr 11,10).
Er verlässt seines Vaters Haus, verlässliche Bindungen und ererbte Ehre als zukünftiger Vater einer eigenen Familie auf heimatlichem Boden und vertraut dem Versprechen, dass er zum Vater einer zur  segensreichen Menschheit erneuerten Völkerwelt (1Mose 17,4)  (3)  und sein Name zum Quell für eine segensreiche Völkerökumene werde (1Mose 12,3).
„Ich werde dich zu einem großen Volk machen, ich werde dich segnen, ich möchte deinen Namen großwachsen lassen. Und werde ein Segen. Segnen will ich die dich segnen, die dich lästern, verfluche ich. Mit dir werden sich segnen alle Geschlechter des Erdbodens“ (1Mose 12,2f).
Um die revolutionäre Bedeutung der Verheißungen an Abraham für die Geschichte der Menschheit zu ermessen, ist noch einmal ein Blick auf 1Mose 11,4 nötig: „Machen wir uns einen Namen, damit wir nicht zerstreut werden.“ Der biblische Text will diesen Verweis, diese Gegenüberstellung von zwei einander ausschließenden, von zwei alternativen Wegen der Menschheit, auf dem Weg des ruhmsüchtigen Großmachtstrebens sich einen Namen zu machen oder den Weg des Vertrauens auf die verheißene segensreiche Versöhnung der Völker im Namen Abrahams zu wählen. Den Weg der Macht und Weltherrschaft in der Nachfolge Babylons oder den Weg der Utopie im Dienst einer durch Frieden gesegneten Menschheit in der Nachfolge Abrahams.
Den Ruf, sich auf diesen Weg nach Utopia  (4)  zu machen, kann kaum ein Produkt von Wunschphantasien des 75jährigen Abram sein. Er kann den Gedanken dazu nicht von sich aus, quasi als sein neues Lebensprojekt, gefasst haben. Der muss ihm von außen gekommen sein (extra nos), ihn direkt ergriffen haben. Denn er zögert und fragt nicht. Abram reagiert unmittelbar. Sie hörend gehorcht er den drei Worten vom Land, vom Volk, vom Völkerfrieden.

4. Abrams freier Gehorsam gegenüber dem Gebot der Utopie (1Mose 12,3.4)
Das Vertrauen Abrams in die Verheißungen wird durch seinen spontanen Gehorsam deutlich. Übergangslos handelt Abram auf das gehörte Wort hin. Der lückenlose Anschluss des Textes vom Handeln Abrams an den von seinem Hören (von Vers 3 zu Vers 4) drückt die Unerschütterlichkeit seines sofort fest gefassten Vertrauens in die Verheißungsworte aus.
Hinzu kommt, dass Abrams gehorsames Tun mit demselben Verb im Aktiv einsetzt (V.4) wie der  vorangegangene Ruf Gottes im Imperativ (V.1): „Geh für dich aus deinem Land... V.4: Und Abram ging wie der Ewige geredet hatte.“
Eine solche Folge von Imperativ und Gehorsams-Aktiv findet sich in der Bibel nur bei Abraham, das zweite Malin  1Mose 17,12.23 bei seiner und Ismaels Beschneidung. Beide Aufforderungen Gottes, die die Heimat zu verlassen und die die Beschneidung zu vollziehen, legen den Grund für die das biblische Zeugnis konstituierende Geschichte Israels, deren tragende Elemente die Landverheißung für Israel und die Erwählung Israels zum Bundesvolk sind.
Da die Aufforderungen an Abraham eingebunden sind in Verheißungsworte einer ausstehenden Zukunft, gehorcht Abraham immer auch der Weisung, auf die Verwirklichung von Dingen zu hoffen und erste Schritte für sie zu unternehmen, deren Realisierung absolut unmöglich erscheint.  Abram gehorcht trotzdem. Er gehorcht dem Gebot der Utopie, der echten fordernden Utopie wie Leo Baeck unterscheidet: „Die unechte Utopie malt in der Ferne ein Bild... Die echte Utopie fordert: Bei dir beginnt die Utopie, jetzt, hier, bei dir beginnt die Ferne... Fange an. Beginne.“  (5) 
Solches Hoffen impliziert, wie Emmanuel Lévinas herausstellt, eine einseitige Tat, die keinen Lohn in einer selbst noch erlebten Verwirklichung erwartet, eine bis ans eigene Lebensende durchgehaltene Geduld, die darauf verzichtet, „die Ankunft am Ziel zu erleben.“ Abrahams Gehorsam ist selbst-los, weil er nicht für sich hofft, sondern er handelt „für-das-was-nach-mir-ist.“ Abraham lebt so, „dass die Zukunft und die entferntesten Dinge die Regel seien für alle gegenwärtigen Tage.“  (6) 
Wird Abraham deshalb „Freund Gottes“ genannt?  (7)  Des unsterblichen Gottes Freund kann nicht jeder Mensch, nicht jedes Kind Gottes genannt werden, sondern nur ein Mensch, dessen Hoffen und Handeln sich gleichgültig gegen den eigenen Tod verhält. Abraham erweist sich in seinem Gehorsam als Gottes Freund, weil er in seiner Hoffnung auf die Verwirklichung der utopischen, erst in großer Ferne realisierbaren Verheißungen wie ohne eigenen Tod allein in Gottes Wort lebt und so dem unsterblichen Gott ganz nah ist.

5. Abrahams Utopiegehorsam im Hebräerbrief
Wir finden uns mit unserer Auslegung des Abraham in 1Mose 12,1-4, was den spontanen Verheißungs- bzw. Utopie-Gehorsam Abrahams angeht, durch den Hebräerbrief 11,1.8-10 bestätigt:
V.1: „Es ist aber das Vertrauen eine Zuversicht der Hoffenden, eine Überzeugung von Dingen, die man nicht sieht.“
V.8: „Aus Vertrauen berufen gehorchte Abraham, auszuziehen an einen Ort, den er zum Erbe empfangen würde, und er zog aus, ohne zu wissen, wohin er komme.“
V.9:  „Aus Vertrauen siedelte er im Land der Verheißung, als Fremder in Zelten siedelte er mit Isaak und Jakob, den Miterben derselben Verheißung.“
Abraham vertraut dem Wort der Verheißung und in diesem Vertrauen tut er unmittelbar die ersten möglichen Schritte zu ihrer Realisierung.
Diese beiden Aspekte des Textes, Abrahams Vertrauen in die Verheißung und sein Gehorsam, verfolgen wir weiter, indem wir die utopische Dimension mit einem Blick auf die jüdische Tradition vertiefen und zum Aspekt des Gehorsams die Auslegung des Textes fortführen, um sie mit der Frage nach dem JHWH-Glauben Abrahams zu beschließen.

6. Der Bruch mit der Vergangenheit und der verheißene Neuanfang für die Menschheit
Abrahams Nähe zum unsterblichen, ewigen Gott  (8)  beleuchtet auf die wahre Tiefe des Bruches mit der heidnischen Vergangenheit, dem Götzendienst an den angeblich schicksalsträchtigen Naturmächten, an Werden und Vergehen. Diese Nähe ist der Sprung in den zukunftsoffenen Raum der Freiheit für das Verheißene zu leben.
So überliefert die rabbinische Tradition einen Exodus Abrahams aus dem Schicksalsglauben der Sterndeutung: „Und er führte ihn hinaus ins Freie (1Mose 15,5). Abraham sagte vor ihm: Herr der Welt, ich habe in meinem Sternenbild erschaut, dass ich nur einen einzigen Sohn haben werde. Da sprach er zu ihm: Gehe heraus aus deiner Sternendeuterei! Für Israel gilt kein Sternbild“ (Nedarim 32a). Nach talmudischer Auffassung ist Israel mit Abraham den schicksalhaften, naturgesetzlichen und todesschwangeren Zusammenhängen enthoben und in die geschichtliche Freiheit versetzt.
Sicher im Anschluss an Josua 24,2, wo es heißt: „Tarach, Abrahams und Nahors Vater,... dienten anderen Göttern“, lässt die jüdische Tradition den jungen Abram die Götzen seines Vaters zerschlagen, der ihn daraufhin dem Nimrod übergibt. Dieser wirft ihn schließlich in den Feuerofen, aus dem Abraham aber gerettet wird.  (9)  Damit wird der unvereinbare Gegensatz zwischen den Gewaltsystemen und Machtkulturen im Namen Nimrods, den Imperien wie Babylon, deren Streben auf bigotte Selbstvergötzung („Wir wollen für uns einen Namen  (10!)  machen“) und toten Götzendienst  (11)  hinausläuft, und dem Neuen, das der Ewige mit Abraham in die Geschichte bringt, theologisch dramatisiert. Abraham kann das Feuer, das die alte Welt zerstört, nichts anhaben, ist er doch die Keimzelle der kommenden segensreichen neuen Welt, der Welt der Völkerversöhnung in Abrahams Namen.
Raschi sieht darin den einfachen Sinn von 1Mose 12,3: „Mit dir werden sich segnen (alle Geschlechter des Erdbodens),... dass einer zu seinem Sohne spricht, werde wie Abraham.“  (12)RaschisUtopie:Bis alle wie Abraham sind.
Auch mit dem hebräischen Wort für Erdboden = adamah deutet der Text auf die erneuerte Menschheit. Für adamah, meist übersetzt mit Erdboden, Erde, Ackerboden, gibt es keine adäquate Übertragung, die den im Hebräischen ausgedrückten inneren Bezug des Erdbodens zur Menschheit = adam wiedergibt. Diesen Zusammenhang kennen andere Sprachen nicht.  (13)   Einzig das Hebräische drückt eine unlösliche Verbindung des Menschen mit dem Erdboden, von dem er genommen ist (1Mose 2,7),  und den er bearbeitet (2,6) aus. So als gehöre der Boden deshalb auch der Menschheit. Als sei die Frage des Bodeneigentums keine politische, sondern eine anthropologische. Akkumulation von Bodeneigentum widerspreche dem Wesen des Menschen. Man müsste adamah also etwa mit Menschenerde wiedergeben. Was meint, die Erde gehört allen Menschen, der muss Boden gerecht verteilt werden. Die große soziale Menschheitsfrage klingt hier an, samt ihrer Lösung durch universale Gerechtigkeit. Alles in Abrahams Namen.
So steht Abrahams Name für etwas ganz Anderes als der Ruhm und der Name des macht- und prachtvollen Babylon. Dem imperialen Anspruch von politischen Mächten wie Babel: Lasset für uns einen Namen machen steht  die Verheißung  Abrahams gegenüber: Mir dir werden sich segnen alle Geschlechter der Menschenerde, eine Verfassung der Menschheit auf ihrer Erde, durch die jedem einzelnen Menschen Gerechtigkeit und Segen zuteil wird. 
„In der Mitte der Menschheit, die 'lasst uns für uns einen Namen machen' ihrem ganzen Streben als Devise ausprägt und die Selbstvergrößerung und den rücksichtslosen Ausbau der eigenen Wohlfahrt als maßgebendes Ziel anstrebt, soll Awrahams Volk im Einzel- und Gesamtleben nur dem einen Rufe folgen: 'Sei ein Segen', Segen zu werden, sich mit aller Hingebung den Gotteszwecken des Welten- und Menschenheils zu weihen, darin mustergültig die Wiedererstehung des reinen Menschentums, des 'adam' in seiner ursprünglichen Bestimmung zur Anschauung zu bringen, dann werde Gott seinen Segen zu frischer Lebenstätigkeit geben und zur Weckung und Erziehung der Völker zu gleichem Streben den Namen des Awrahamvolkes weithin leuchten lassen: Ich will dich segnen und groß machen deinen Namen.'“  (14) 

7. Abrahams Gehorsam, erste Schritte zur Verwirklichung der Verheißungen (1Mose 12,4-9)
Abram unternimmt erste vorbereitende Schritte mit Blick auf die Verwirklichung von Gottes Verheißungswort.
Der unmittelbare Aufbruch mit Weib, Neffe, aller Habe und den erworbenen Seelen  (15)  ist Abrams spontane Antwort auf die soeben gehörten Verheißungen. Ungeachtet seines hohen Alters zieht er in das ihm und seinen noch ausstehenden Nachkommen verheißene Land Kanaan. Offenbar beginnt Abram mit der Vorbereitung für das Verheißene, ohne sich mit naheliegenden realitätsbezogenen Bedenken überhaupt auseinanderzusetzen. In seinem hohen Alter, den immer noch fehlenden Erben und der festen Besiedlung des Landes sieht er kein Hindernis. Abram zieht durchs Land bis nach Sichem (12,6). Dort begegnet er Gott, der ihm seine Verheißung, angesichts dessen, dass die Kanaaniter das Land bewohnen, also gegen die bestehende Realität, bestätigt: „Deinem Samen gebe ich dieses Land“ (12,7).
Abrams Antwort auf das von Gott wiederholte Wort der Verheißung folgt unmittelbar: „Er baute dort einen Altar dem Ewigen, der ihm erschienen war.“ Dieser erste Altar des Abram ist ein Amen auf das Wort der Verheißung, „ein Protest gegen das kanaanitische Wahrzeichen.  (16)  Damit hat er die Flagge seines Gottes über das Land Kanaan gehisst.“  (17)  Abram manifestiert als erste spontane Antwort auf die gehörten Verheißungen des Gottes Israels seinen Anspruch auf das Land Kanaan. Östlich von Bethel errichtet Abram einen zweiten Altar (12,8). Bei diesem ruft er im Namen des Ewigen, des Gottes Israels (JHWH). Zum vierten Mal klingt das Leitwort, das Thema vom Namen an (11,4; 12,2.3.8) und damit der Anspruch des Ewigen auf die Menschenwelt, sein Wille sie in seinem Namen, verbunden mit Abrahams Namen segensreich zu verändern.
Mit dem Aufschlagen des Zeltes wird gesagt, von nun an wohnt Abram im verheißenen Land Kanaan. Dieses hat er soeben mit dem Bau der beiden Altäre gekennzeichnet, zunächst als den von JHWH auserwählten Wohnsitz für Abrams Nachkommen, das künftige Gottesvolk Israel, und sodann als den Ort, von dem JHWHs  Anspruch auf die Völkerwelt seinen Ausgang nehmen wird. Die beiden Altäre stehen als Zeichen der von Abram gehörten und geglaubten Verheißungsbotschaft für seine Nachkommen und die Menschheit: Von diesem Land wird ein Vertrauen auf den Ewigen und Barmherzigen im Namen Abrahams ausgehen; der Name Abrahams steht für des Ewigen Verheißung der Versöhnung der Völker; nicht der kollektive Zwang einer Großmacht und ihre nationale Selbstidolisierung wirken hier, sondern vom Land und Namen Abrahams  wird ein Segen für die Menschheit ausgehen, an dem allen Völkern Teilhabe in Aussicht gestellt ist. Statt Beherrscher, Vater vieler Völker, statt Machtwahn, Hoffnung auf eine Menschenwelt als Segenswelt.

8. Hat Abram den Namen des Ewigen (JHWH) gewusst? (1Mose 12,8)
Wir lesen 1Mose 12,8b: „Er baute dort einen Altar für JHWH und rief im Namen JHWHs.“ Steht das im Widerstreit mit 2Mose 6,2f ? Dort lesen wir: „Und Gott redete zu Mose und sprach zu ihm: Ich JHWH, ich habe mich sehen lassen dem Abraham, dem Isaak, dem Jakob als El Schaddaj, aber unter meinem Namen JHWH habe ich mich ihnen nicht bekannt gemacht.“
Was hat Mose anderes als die Erzväter unter dem Namen JHWH erfahren? Womit hat er anders als sie unter diesem Namen Bekanntschaft gemacht? Mit dem Exodus, mit der Volkwerdung Israels, mit den Vorbereitungen zum Übertritt ins verheißene Land. Wovon Abraham gehört hat, was Gott ihn im Schlaf, in einer Vision hat sehen lassen (1Mose 15,12-16), das hat Mose konkret erlebt: Befreiung von der Fronarbeit, Errettung aus der Knechtschaft, Erlösen durch gewaltige Gerichte, Annahme als Volk, Hinüberführen ins Land. Der Unterschied der Gottesbekanntschaft zwischen Abraham und Mose liegt darin: Abraham hörte eine dreiteilige Verheißung und vertraute auf ihre Verwirklichung, er hatte eine Vision von der verheißenen Zukunft. Mose erlebte den konkreten Beginn ihrer Verwirklichung in der Volkwerdung Israels und der beginnenden Landnahme. Was Abraham hörend glaubte und was Mose erlebte geschah aber unter demselben Namen JHWH.  Abraham lebte im Vertrauen auf die Verwirklichung der Verheißungen nach seinem Tod. Mose war in die geschichtliche Verwirklichung der Verheißungen vom Land und von der Volkwerdung handelnd eingebunden. Das, worauf Abraham vertraute und wonach er im Namen JHWHs rief, das hat Mose unter dem Namen JHWHs konkret erfahren. „Ich war schon JHWH, selbst da ich dem Awraham, Jizchak und Jaakow nur als El Schaddaj sichtbar ward, und Mein beabsichtigtes Walten als JHWH ihnen in ihrer Lebenserfahrung noch nicht offenbar werden liess.“  (18)  So gab es zwischen Abraham und Mose keinen Unterschied in ihrer Erkenntnis, was die Fülle des von JHWH Verheißenen angeht, sondern nur einen, was die Bekanntschaft mit der Verwirklichung des Verheißenen angeht.
Genau zu diesen Unterschied passt, die Aussage, dass JHWH sich den Vätern als El Schaddaj bekannt gemacht hat. Denn als El Schaddaj stellt sich Gott dem Abram in 1Mose 17,1 vor, genauso absolut wie in den häufigen Selbstvorstellungen Gottes: „Ich JHWH,“ so hier: „Ich El Schaddaj.“ Er bekräftigt seine versprochenen Wohltaten durch den Bundesschluss mit Abraham und durch den neuen Namen für ihn:  Abraham, was bedeutet: Vater vieler Völker. Als El Schaddaj beschwört und bekräftigt Gott seine Treue zu seinem Wort, den verheißenen Wohltaten. „Schaddaj vertritt so den Gedanken des Wohltuns und den des Friedens und bedeutet als Gottesname Wohltäter.“  (19)
„Die Geschichte Israels scheidet sich in zwei Perioden, die Zeit der Erzväter Abraham, Isaak und Jakob und die Zeit des aus diesen entsprossenen zur Freiheit und Selbstständigkeit bestimmten Volkes. Der Charakter der ersten Periode wird durch zwei Begriffe gekennzeichnet: „El Schaddaj“ und „megurim.“  (20)Diese Begriffe gehören zusammen, obwohl der eine religiös und der andere politisch ist. Als Schutzbefohlene und Gastsassen mit unsicherem Status  wanderten die Erzväter in der Fremde (megurim) in festem Vertrauen darauf, dass JHWH seinem Worte treu bleibt (El Schaddaj) und dereinst die verheißenen Wohltaten verwirklichen wird.
Abraham vertraute als erster Mensch und vom ersten Augenblick an, als er das Wort JHWHs hörte, den utopischen Verheißungen. Er ist deshalb zurecht der Vater derjenigen, die an der Utopie einer gerechten Welt festhalten, unbeirrbar für ihre Ankunft einstehen, deshalb wie Fremde im Land leben  und wie er nach der Stadt Ausschau halten, „die die Fundamente hat, deren Architekt und Begründer Gott ist“ (Hebr 11,10).

  1. Nach rabbinischer Auslegung hat Nimrod jene Worte gesprochen.

  2. S. R. Hirsch, Die fünf Bücher der Tora, Bereschit, Basel 2008, S.217

  3. Wir schließen uns der Deutung von S. R. Hirsch an, derzufolge die Völkerwelt ein Gewoge ohne Richtmaß und Ziel ist und erst durch Abrahams Geist einen einheitlichen ethischen Sinn bekommt (zu 1Mose 17,4 s.a.a.O., S. 308). Überhaupt kommt erst mit der Bibel und in ihr mit Abraham das Wissen um die eine Menschheit, Menschheitsbewusstsein, in die Geschichte.

  4. Hier handelt es sich bei Utopie um die drei Verheißungsworte für Abraham in 1Mose 12,1-3: die Landverheißung, die Verheißung der Volkwerdung und die Verheißung der Völkerversöhnung.

  5. L. Baeck, Epochen der jüdischen Geschichte, Werke 5, Gütersloh 2002, S. 348f

  6. E. Lévinas, Die Spur des Anderen, Freiburg 1992, S. 216f

  7. Jes 41,8; 2Chr 20,7; Jak 2,23

  8. Gottes Ewigkeit ist nicht seinsmäßig substantiell zu denken. Der Ewige heißt Gott, weil er seinen Verheißungen über alle Epochen (griechisch: Ewigkeiten/Äonen = aioonai; adjektivisch: ewig. Entspricht hebräisch: olam) der Menschheitsgeschichte hinweg, treu bleibt. Gottes Ewigkeit ist die Dauer seiner Treue zu seinen Verheißungen an Abraham/Israel.

  9. Bereschit Rabba zu 1Mose 11,28

  10. „Darunter, so wurde bei R. Ismael gelehrt, ist nichts anderes als ein Götzenbild  zu verstehen“ (Bereschit Rabba zu 1Mose 11,4).

  11. Götzendienst ist wegen seiner Selbstbezogenheit tot, denn er hofft nur für „sein Jenseits“, nicht für das, was ohne mich sein wird, die Verwirklichung der Verheißungen.

  12. Raschi – Kommentar zum Pentateuch, übertragen von R. Bamberger, 4. Aufl., Basel 2002, S. 33F

  13. Im Griechischen steht für Erde gee, im Lateinischen terra, im Englischen earth, im Französischen terre.

  14. S. R. Hirsch, a.a.O., S. 239

  15. Diskutiert wird hier die Frage, ob es sich bei den „gewonnenen Seelen“ um den erweiterten Hausstand oder um Menschen handelt, die sich auch geistig Abraham angeschlossen haben. Mit s. R. Hirsch sehen wir darin keine Alternative. Er übersetzt: „und die Seelen, die sie in Charan gebildet hatten“ und kommentiert: „dass diese von ihnen neu gebildeten Personen wahrscheinlich ihre Hausgenossenschaft, ihre Dienerschaft waren, und dass diese sich auch geistig ihnen angeschlossen hatten, sehen wir aus Elieser, der in Wahrheit als ger zädäk (= gerechter Fremder) erscheint (S. R. Hirsch, a.a.O., S. 242). Die Vulgata übersetzt: animas, quas fecerent in Haran.

  16. Den Namen „elon moräh“ des kanaanäischen Kultortes, zu dem Abram zog, übertragen S. R. Hirsch: „Hain More“, Buber: „Weihplatz“, Zürcher: „Orakel-Terebinthe“, Luther: „Eiche More“.

  17. Benno Jacob, Genesis, S. 345

  18. S. R. Hirsch, Die fünf Bücher der Tora, Schmot, S. 68, zu Kap. 6. V. 3

  19. J. H. Hertz, Pentateuch und Haftaroth I, Genesis, Zürich 1984, S. 145. Übersetzt wird El Schaddaj mit „GOTT  der Allmächtige“ (Hertz),  „der gewaltige Gott“ (Buber), „der allgenügende Gott“ (Hirsch), „der allmächtige Gott“ (Luther, Zürcher). In Blick auf die Verwirklichung seiner Wohltaten, die Gott in seinen Worten an die Erzväter immer wieder zusagt, machen alle Übertragungen Sinn: Als El Schaddaj habe Gott die alles überwindende Macht, um seinem Worte schließlich zu genügen.

  20. B. Jacob, Exodus, Stuttgart 1997, S. 141. Gerhard von Rad sieht „einen Unterschied zwischen dem Väterglauben und dem späteren Jahweglauben“ (ATD, Das erste Buch Mose, Göttingen 1976, S. 154).

Klaus-Peter Lehmann, Jg. 1946, studierte Theologie bei Gollwitzer und Marquardt und war bis zu seinem Ruhestand Pfarrer der Nordelbischen Kirche in Hamburg. Aktiv im jüdisch-christlichen Dialog mit zahlreichen Veröffentlichungen in kirchlichen Zeitschriften und Buchveröffentlichungen. Er lebt seit 2005 in Augsburg.

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