Redaktion: Hans-Georg Vorndran

BlickPunkt.e Nr. 4 / August 2016

 

Felipe Blanco Wißmann
Keine Angst!
Anmerkungen zu Dorothea Wendebourgs Sicht auf die Diskussion um Luthers Antijudaismus

Dorothea Wendebourg, Professorin für Kirchengeschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin, hat in einem Beitrag in der Zeitschrift „Zeitzeichen“ (Ausgabe Juli 2016) ihre Sicht auf die Diskussion über Luthers Antijudaismus und speziell auf die Kundgebung „Martin Luther und die Juden – Notwendige Erinnerung zum Reformationsjubiläum“ der Synode der EKD dargelegt. Sie befürchtet den Abbau zentraler theologischer Einsichten der Reformationszeit und beschreibt einen Gegensatz zwischen Judentum und Christentum, den es auszuhalten gelte. Der Behauptung des Gegensatzes in dieser Form ist zu widersprechen: Er verkennt das Gemeinsame zwischen beiden Religionen, zeichnet ein Zerrbild vom jüdisch-christlichen Dialog und überdeckt innerevangelische Meinungsvielfalt, die es immer gab. Dass Wendebourg zudem nicht angibt, gegen wen genau sich ihre Argumentation wendet, ist mehr als irritierend.
Link zum Wendebourg-Text in zeitzeichen: www.zeitzeichen.net/religion-kirche/luther-und-die-juden
EKD-Erklärung zu Luther, Novebmer 2015 in BlickPunkt.e 6/2015
EKHN-Erklärung zu Luther, November 2014 in BlickPunkt.e 1/2015

1. Dorothea Wendebourg befürchtet, dass in der evangelischen Kirche „spezifische Einsichten der eigenen Tradition abgeschmolzen werden“ sollen. „Wir hören Stimmen“, so die Kirchenhistorikerin – Stimmen, die allerlei Rücknahmen von traditionellen reformatorischen Einsichten verlangten. Nun lässt sich natürlich schwer kontrollieren, was nicht näher bestimmte „Stimmen“ genau fordern. Der Verweis auf sie erweckt den Verdacht einer Strohmann-Argumentation: einer Argumentation also gegen eine gegnerische Position, die nur imaginiert ist. Der Text lässt vermuten, dass Theologinnen und Theologen gemeint sind, die sich im christlich-jüdischen Dialog engagieren. Wer genau hier aber einen so tiefgehenden Abbau reformatorischer Theologie betreibt, wäre anzugeben gewesen. Anfragen an konkrete Ausformulierungen der Rechtfertigungslehre (z.B. bei Martin Luther) sind noch kein Generalangriff auf das sola gratia. So bleibt der Eindruck, dass nur raunend Befürchtungen über mögliche zukünftige Angriffe ausgedrückt werden. Wie sollte ein solches „Abschmelzen der eigenen Tradition“ aber überhaupt allgemeinverbindlich im Raum der Kirche bewerkstelligt werden? „Keine Angst!,“ möchte man Dorothea Wendebourg zurufen – die Kirche hat ein festes Fundament.

2. Der konkrete Text, auf den Wendebourg dann eingeht, ist ja offensichtlich gerade keine solche scharf gegen reformatorische Theologie gerichtete Stimme: Die Kundgebung „Martin Luther und die Juden – Notwendige Erinnerung zum Reformationsjubiläum“ der EKD-Synode stellt nur vorsichtige Fragen, verlangt ein neues Bedenken und einen kritischen Umgang mit dem reformatorischen Erbe. Was von Wendebourg hier als „nebelhaft“ in der Ausdrucksweise kritisiert wird, werden andere sicher als positiven, weil vorsichtigen Gedankenanstoß wahrnehmen.

3. Unklar bleibt für mich, warum Wendebourg betont, dass „rechtfertigungstheologische Argumente“ in Luthers „Judenschriften“ keine oder kaum eine Rolle spielen. Soll damit begründet werden, dass es illegitim sei, danach zu fragen, ob Luthers antijudaistische Einstellungen einen Einfluss auf seine rechtfertigungstheologischen Aussagen hatten? Diese Frage liegt aber auf der Hand, obwohl Luther später vor allem vom solus Christus her gegen die Juden schrieb: Für Luther sind die Juden immer wieder das Musterbeispiel für Menschen, die nicht aus Gottes Gnade leben, sondern sich im Sinne einer Werkgerechtigkeit das Heil bei Gott verdienen wollen. Dieses Motiv findet sich schon häufig in der frühen Römerbriefvorlesung (1515/1516), und anhand der Briefe und Tischgespräche aus der Zeit, in der Luther an „Von den Juden und ihren Lügen“ schrieb (wohl im letzten Quartal des Jahres 1542), lässt sich zeigen, dass ihn diese Sicht auf die Juden auch noch im Zusammenhang mit den berüchtigten späten „Judenschriften“ umtrieb (vgl. z.B. WATr 5, S. 198, 18ff). Wie Wendebourg selbst betont, ist die Rechtfertigungslehre ohnehin für Luther die gnadentheologische Kehrseite des „Christus allein“

4. Problematisch ist dann, in mehrfacher Hinsicht, die Rede von einem „Gegensatz“ zwischen Judentum und Christentum. Die Rede vom „Gegensatz“ ist zu hart und sollte angesichts der Geschichte der „Vergegnung“ (Martin Buber) zwischen beiden Religionen besser nicht gebraucht werden. Zwischen Judentum und Christentum bestehen sehr wohl Unterschiede. Und doch macht die besondere Verbindung zwischen beiden Religionen es immer wieder nötig, nach besonderen Bildern für das Verhältnis zu suchen und zum Beispiel im Bild der „Geschwister“ zu finden. Zwischen beiden Religionen gibt es eine besondere Verbindung, die historisch gegeben, aber auch heute noch erfahrbar ist. Dass Christinnen und Christen auch heute wieder jüdische Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner haben und  voneinander lernen und Gemeinsamkeiten und Unterschiede entdecken können, ist ein nicht selbstverständliches Geschenk angesichts der an jüdischen Menschen begangenen Verbrechen. Zu den Erfahrungen, die man im christlich-jüdischen Gespräch heute machen kann, gehört auch, dass sich beide Religionen als Gnadenreligionen verstehen lassen.

5.  Problematisch ist der behauptete Gegensatz zwischen Judentum und Christentum auch deshalb, weil er innerevangelische Unterschiede überdeckt. Wendebourg spricht wiederholt von „überlieferten“ reformatorischen Sichtweisen, die nun in Frage gestellt seien. Was aber genau sind diese Sichtweisen, und wer genau greift sie an? In Wahrheit braucht es doch nicht den christlich-jüdischen Dialog, um Anfragen an einzelne Lehren Luthers oder anderer Reformatoren zu richten. In der reformierten Tradition wurden die Gewichte oft schon anders gesetzt, was den Zusammenhang zwischen Altem und Neuen Testament und die Unterscheidung zwischen Gesetz und Evangelium betrifft. Karl Barth hat den für Luther so wichtigen „zweiten Gebrauch des Gesetzes“ (die Vorstellung, dass das Gesetz die völlige Sündhaftigkeit des Menschen aufdeckt und ihn so auf die Gnade im Evangelium vorbereitet) massiv in Frage gestellt (vgl. KD IV/1, 400ff). Und die jüngere exegetische Diskussion über die Paulusbriefe zeigt, dass der Gegensatz zwischen Glauben und Werken, der Luther so wichtig war, im Denken des Apostels in dieser Form wohl einfach nicht vorhanden ist (vgl. z.B.: K. Wengst, „Freut euch, ihr Völker, mit Gottes Volk!“ Israel und die Völker als Thema des Paulus – ein Gang durch den Römerbrief, Stuttgart 2008, 185ff). Wenn Wendebourg also fragt, ob es nicht erlaubt sein muss, den anderen Stellenwert von „Gesetz“ und „Werken“ im Judentum festzustellen, so ist zu sagen: Über diesen Stellenwert kann und soll frei geredet werden. Beachten sollte man dann aber auch die innerevangelische Vielfalt in dieser Frage.

6. Auch die christologische Auslegung der Schrift, wie Luther sie betrieben hat, war unter den Reformatoren in dieser Form keineswegs Konsens; das Angehen gegen in Luthers Sicht „judaisierende“ Schriftauslegungen (von Christen!) war auch ein Grund für die Abfassung von „Von den Juden und ihren Lügen“ (vgl. Thomas Kaufmann, Luthers Juden, Stuttgart 2014, 114ff). Heute liegen ausgearbeitete Konzepte zur Zuordnung von Altem und Neuem Testament vor, die das Recht der jüdischen Seite auf ihre Auslegung nicht bestreiten und im gemeinsamen Gespräch über die Auslegung eine Bereicherung sehen (vgl. z.B.: F. Crüsemann, Das Alte Testament als Wahrheitsraum des Neuen. Die neue Sicht der christlichen Bibel, Gütersloh 2011). Gegen wen sich dann die Feststellung von Wendebourg richtet, dass christlicherseits die Zuordnung vom „Alten Testament auf das Neue und damit auf Jesus Christus und die Kirche“ hin nicht aufgegeben werden kann, bleibt unklar.

7. Vielfalt gibt es natürlich auch auf jüdischer Seite. Einen Gegensatz zwischen Judentum und evangelischer Theologie jetzt wieder am Begriff der „Gesetzesreligion“ festzumachen und dafür auch noch jüdische Kronzeugen anzuführen, ist problematisch und irreführend. Jüdische Stimmen, die vor der Anwendung des Begriffs „Gesetzesreligion“ auf das Judentum warnen, sind leicht zu finden, und wer als Jude von der „Gesetzesreligion“ spricht, meint sicher nicht, was das alte christliche Vorurteil sich darunter vorstellt.

8. Es ist äußerst irritierend und auch verletzend, wenn Dorothea Wendebourg Luthers furchtbare Forderungen nach Gewalt gegen Juden vergleicht mit dem angeblichen Abschmelzen der eigenen evangelischen Tradition, weil beides die Unerträglichkeit unterschiedlicher religiöser Überzeugungen beseitigen wolle. Zwar wird ja nie ganz deutlich, wem genau Dorothea Wendebourg dieses Anliegen des Abschmelzens zuschreibt. Und Menschen, die im christlich-jüdischen Dialog engagiert sind, fühlen sich von diesem Vorwurf eher nicht getroffen. Dennoch ist solches Engagement hier offenbar gemeint. Dieser Vergleich geht an dem, was in christlich-jüdischen Arbeitskreisen und Gemeinschaften gelebt wird, völlig vorbei. Steht hier doch gerade im Vordergrund, den anderen nicht zu enteignen, Differenzen stehen zu lassen und doch Gemeinsamkeit zu entdecken und zu leben.

9. Zu Beginn ihres Beitrags verleiht Dorothea Wendebourg ihrer Meinung Ausdruck, dass das Reformationsjubiläum zum Lutherevent verengt werde. Dem ist m.E. unbedingt zuzustimmen, über die Entstehung dieser Verengung wäre zu reden. Gerade angesichts dieser Engführung ist es aber aus Sicht des christlich-jüdischen Dialogs doch zu begrüßen, wenn wieder breiter über das reformatorische Erbe diskutiert wird, wenn die Meinungsvielfalt unter den Reformatoren zur Sprache gebracht und die reformatorische Auslegung des Alten wie des Neuen Testaments (gerade auch hinsichtlich der Gegenüberstellung von Glauben und Werken) zum Thema wird. Die Kundgebung der EKD-Synode sehe ich in diesem Sinne als Einladung zum weiteren Gespräch.

Dr. Felipe Blanco Wißmann ist Pfarrer in Reinheim und Mitglied des Vorstands von „ImDialog. Evangelischer Arbeitskreis für das christlich-jüdische Gespräch in Hessen und Nassau“.

zu Titelseite

zum Seitenanfang

 
Die BlickPunkt.e erscheinen 6mal im Jahr. Die Printausgabe kann für 25 Euro/Jahr bestellt werden bei ImDialog. Evangelischer Arbeitskreis für das christlich-jüdische Gespräch in Hessen und Nassau.  


Jüdische Stimmen
zu Religion und Gesellschaft

Jüdische Schriftauslegung

25 Jahre EKHN-Grundartikel-Erweiterung 2016

Kirche und Judentum:
Evangelische Worte zum Thema "Christen und Juden" seit 1980 bis heute

KLAK-Perikopenmodell

Jüdische Feste
und Riten

Zu unserem Download-Shop