Redaktion: Hans-Georg Vorndran

BlickPunkt.e Nr. 5 / Oktober 2016

 

Klaus-Peter Lehmann
Abraham – ein biblisches Vorbild - wofür?

Kapitel 1: Abraham im Judentum und in der hebräischen Bibel

Jüdisch-christlicher Gesprächskreis Augburg
Abraham gilt als Vorbild für vieles. Für die Ökumene zwischen Juden, Christen und Muslimen; manchen für sklavische Autoritätshörigkeit; für Vertrauen auf Gottes Wort, verbunden mit einem radikalen Neuanfang des Lebens und einem Bruch mit der Vergangenheit; für vorbildliche Gastfreundschaft;  (1)  er gilt als Erzvater des jüdischen Volkes; den Muslimen als Bringer des Monotheismus. Von Abrahams Schoß haben viele mal gehört.

Der seit sieben Jahren in Augsburg bestehende jüdisch-christliche Gesprächskreis hat sich nun zwei Jahre lang in monatlichen Runden zu 6-9 Personen konzentriert mit den alttestamentlichen Erzählungen von Abraham (1Mose 11,27-25,18) beschäftigt. Genaue Lektüre der Texte, Vergleich verschiedener Übersetzungen, Kenntnisnahme des hebräischen Sprachhintergrundes und rabbinischer Auslegungen (besonders die schönen Kommentare von Samson Raphael Hirsch) waren die Grundlage nicht nur für spannende und intensive Gespräche, sondern auch für überraschende Einsichten. Die wichtigste war wohl, dass uns die Augen geöffnet wurden, warum die Bibel in Abraham als Person und namentlich den Vater vieler Völker sieht und was das für die Menschheit bedeutet. Da die neutestamentlichen Christen sich in der Nachfolge Abrahams sehen und Abraham auch im Koran eine herausragende Rolle spielt, beschäftigten wir uns auch mit diesen Verbindungen. Das möchten wir hier in drei Folgen darstellen: Abraham im Judentum, im Christentum und im Islam.  (2)

Abrahams Hoffnung auf ein Gottesvolk und eine versöhnte Menschheit
Für alle gläubigen Juden ist Abraham der Erzvater des Judentums, des Volkes Israel. Drei Verheißungsworte Gottes rissen ihn aus Heimat, Verwandtschaft und Vaterhaus, versprachen ihm ein neues Land, die Vaterschaft für ein großes Volk und Versöhnung der Völker in seinem Namen (1Mose 12,1-3). Obwohl alles dagegen sprach, ließ er sich auf das völlig unrealistische Abenteuer ein. Das versprochene Land war seit alters her von den Kanaanäern besiedelt, er selber war schon 75 Jahre alt und seine Frau kinderlos, als Kleinviehnomade war er ein weltpolitischer Niemand. Trotzdem sieht die Bibel in ihm einen Neuanfang der Menschheitsgeschichte in betontem Gegensatz zum Imperium Babylon, das sich einen Turm bis an den Himmel baut und alle Völker in seinem, Babylons Namen (1Mose 11,4) vereinigen will. In Abrahams Namen (1Mose 12,3) aber werden sich alle Geschlechter der Erde Segen wünschen. Zwei alternative geschichtliche Wege für die Menschheit.
Abraham vertraute auf diese Aussicht, die ihm die Verheißungsworte Gottes eröffneten, sie wurden zum alles bestimmenden Inhalt seines Lebens. Angesichts dessen, dass sie reine Utopie waren, kann man sagen, dass sie von Abraham Besitz ergriffen hatten. Abraham war ein von Gottes Wort besessener.
Potentaten kommen und gehen, Mächte brechen immer wieder zusammen. Die Gefährdung von Abrahams Weg der Ewigkeit im Kontakt mit ihnen zeigt sich, als eine Hungersnot ihn und sein Gefolge nach Ägypten verschlägt. Sein Überleben und die Ehre seiner sehr schönen Frau Sara geraten wegen der räuberischen Haremspolitik des Pharaos in höchste Gefahr (1Mose 12,10-20).  (3)  Dieser kurze Bericht von der Rettung Abrahams und Saras durch Plagen, die Gott dem Pharao schickt, liest sich wie ein Vorspiel des Auszuges der Kinder Israels aus Ägypten.

Abraham – Vorbild für Frieden und Gerechtigkeit
Die folgenden Erzählungen schildern Abraham als einen vollkommenen Menschen des Friedens, der im Vertrauen auf die Verheißung den Weg der Ewigkeit geht. Überhaupt meinen die Rabbiner, er habe die Thora vollkommen erfüllt, obwohl sie noch nicht offenbart war. Als Abrahams Leute und die seines Neffen Lot, der mit ihm gezogen war, um das Weideland streiten, sucht Abraham eine gütige Einigung. Großmütig überlässt er Lot die Wahl des Weidelandes (1Mose 13). Als im Nahen Osten Krieg ausbricht, beteiligt er sich nicht, rettet aber seinen aus Sodom verschleppten Neffen, ohne sich an der dabei abfallenden Beute zu beteiligen. „Nicht einen Faden von dir will ich behalten“, sagt er zum ruhmsüchtigen und beutegierigen König des frevelhaften Sodom. Dafür gibt er aber dem unvermittelt erscheinenden Brot und Wein bringenden Melchizedek (hebräisch: König der Gerechtigkeit), dem König von Salem (hebräisch wie Schalom = Frieden), der ihn im Namen des Höchsten Gottes segnet, „den Zehnten von allem“ (1Mose 14). Abraham, obwohl mittlerweile zu Wohlstand und Ansehen gekommen, teilt nicht die Gesinnung der Duodezfürsten, die alle ihr Klein-Babel wollen, sondern unterstellt sich dem völlig unbekannten Melchizedek, dem König der Gerechtigkeit, dessen Name wie oft in der Bibel theopolitisches Programm ist.  (4)
Gott schließt mit Abraham einen Bund, weil er ihm das Unglaubliche immer noch glaubt. Nämlich: „Dein eigner leiblicher Sohn soll Erbe sein“ und: deine Nachkommen werden zahlreich sein wie die Sterne am Himmel (1Mose 15). Sara dagegen bevorzugt auf Nummer sicher zu gehen und ruft Plan B ins Leben. Sie gibt ihrem Mann die ägyptische Magd Hagar zum Weib. Diese gebiert ihm den ersten Sohn Ismael (1Mose 16). Wegen des offenbar vollkommenen tugendhaften Lebenswandels Abrahams  (5)  auf dem Pfad des Friedens und der Gerechtigkeit macht Gott den Bund mit Abraham zu einem „ewigen Bund“ und beruft ihn zum „Vater vieler Völker“. Sein Name Abraham sagt genau dies (1Mose 17). Es wird also viele Völker geben, die nach dem Vorbild Abrahams leben: Güte, Friedenssehnsucht, Gastfreundschaft (1Mose 18,1-16) und Gerechtigkeitswille. Letzterer ist bei Abraham bedingungslos, weshalb ihn Gott  in seinen Ratschluss über Sodom beruft. Abraham in seiner Güte besteht darauf, das beispiellos frevelhafte Sodom überleben zu lassen, wenn sich zehn Gerechte in der Stadt finden (1Mose 18,17-33). Als ob Deutschland den 2. Weltkrieg überlebte wegen der Geschwister Scholl – aus unverdienter Gnade.

Lachen um Isaak
An drei Stellen wird von einem Lachen berichtet. Abraham hört erneut die Verheißung, dass Sara ihm einen Sohn gebären soll. Er wirft sich aufs Angesicht und lacht (1Mose 17,17) nach einstimmiger rabbinischer Auslegung – vor Freude, die aus dem Vertrauen auf Gottes Wort kommt. Als Sara die Verheißung hört, lacht sie bei sich selbst (1Mose 18,12) – ungläubig zweifelnd. An der dritten Stelle lacht Ismael spöttisch über den kleinen Halbbruder Isaak (1Mose 21,10). Der Name Isaak oder Jitzchak ist nach dem hebräischen Wort für „lachen“ (tzachak) gebildet. So erinnert der Name Jitzchak an die Freude, den Zweifel und den Spott anlässlich seiner Geburt, Gefühle, die die Existenz Israels als des erwählten Volkes bis heute immer wieder auslösen.

Vertrauen auf Gott und Mensch
Für die berühmte Erzählung von der Bindung Isaaks (1Mose 22)  (6)  gibt es verschiedenste Deutungen, die sich nicht gegenseitig ausschließen: Auslösung und Ende des Menschenopfers; Gott wollte keine Opferung, sondern Abrahams Gesinnung prüfen; blutig verfolgte Juden erblickten in Isaak auf dem Altar ihr eigenes Schicksal; Abraham ging gehorsam den dunklen Weg in dem festen Vertrauen, dass Gott eine Opferung seines Sohnes nicht wolle, denn er würde damit seiner eigenen Verheißung widersprechen.  (7)
Eine besonders feine Geschichte ist die von der Brautwerbung für Isaak (1Mose 24). Der greise Abraham schickt seinen Verwalter Elieser, um für Isaak eine geeignete Frau zu finden, keine götzendienerische Kanaanäerin, sondern eine tugendhafte und charaktervolle Nachfolgerin für die verstorbene Sara (1Mose 23). Isaak und Rebekka, um die wegen ihrer spontanen Großmütigkeit und Hilfsbereitschaft Elieser als Frau für Isaak geworben hatte, sollen die von Abraham und Sara begründete Tradition eines gastfreundlichen und den Menschen in der Menschenfreundlichkeit Gottes zugewandten Hauses fortführen. Ein Vorbild bis heute.

Vorbild und Hoffnung für eine neue Menschheit
Thora, Propheten und Psalmen sprechen immer wieder von den Verheißungen des Gottes Israels an die Väter (2Mose 6,2-8; Jes 51,1-4; Mi 7,20; Ps 47,10).

  • Die Verheißungen Abrahams bleiben aufgrund des ewigen Bundes Horizont der Geschichte des jüdischen Volkes (Ps 72,17).
  • Dem jüdischen Volk ist als Träger dieser ewigen Verheißungen ewiger geschichtlicher Bestand zugesagt (Jes 29,22; Jes 33,25f).
  • Abraham erweist sich als Vater von Völkern, die nach seinem Vorbild geprägt sind und zu „Volk des Gottes Abrahams“ werden (Ps 47,10).
  • Von seinem Erzvater Abraham ausgehend ist das Judentum zum Träger der von der Idee der Gerechtigkeit geprägten Religion geworden, deren Weisungen bis heute die Grundlage für eine friedliche Völkerökumene abgeben. Denn Abraham ist der Bringer der unsterblichen Hoffnung auf eine von Gerechtigkeit und Frieden gesegnete Menschheit.
  • Diese Hoffnung, auch wenn die äußeren Umstände dagegen sprechen, mit dem eigenen Leben zu bezeugen, für sie aktiv einzutreten, an ihrer Verwirklichung zu arbeiten, ist der von Abraham ausgehende Aufruf an alle Völker und Menschen. Abraham ist der Same einer vita activa für eine durch Gerechtigkeit versöhnte Menschheit. Er steht für ein Leben im Vertrauen auf Gottes Verheißungen.

Kapitel 2: Abraham im Neuen Testament

Eben betrachteten wir Abraham im Alten Testament und entdeckten ihn als den Bringer der unsterblichen Hoffnung auf eine versöhnte Menschheit, das Reich Gottes. Christen werden vielleicht sofort fragen: Hat nicht Jesus Christus das Reich Gottes als nah verkündet und gebracht? Steht Jesus nicht über Abraham und über Israel und der jüdischen Religion? Auch darüber haben wir im jüdisch-christlichen Gesprächskreis diskutiert.
Nehmen wir ernst, dass Altes wie Neues Testament für Christen Heilige Schrift sind, dann bedeutet das: In beiden Schriften geht es um dieselben Erzväter und in beiden spricht derselbe Gott, der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs. Mit einer Änderung oder Zurücknahme seiner Zusagen an Abraham bzw. Israel würde seine Treue und Zuverlässigkeit in Frage stehen. Die Verheißungen, was den ewigen Bestand des Bundesvolkes Israel und den Menschheitsfrieden angeht, bleiben im neuen Testament und darüber hinaus bis heute gültig. Davon müssen wir ausgehen.
Dann läuft die Frage für Christen darauf hinaus: Auf welchem Weg können Nichtjuden Kinder Abrahams werden? Der Weg, Bundesvolk, d.h. durch Beschneidung Teil der leiblichen Nachkommen Abrahams zu werden, ist ihnen nicht verschlossen. Doch daran ist als Weg für die Völker an keiner Stelle im Neuen Testament gedacht. Wir nehmen die Antwort vorweg. Paulus argumentiert mit Abraham als geistigem „Vater vieler Völker“ (1Mose 17,4; Röm 4). Er sieht den Weg, durch Christus das Vertrauen in die Verheißungen zu gewinnen und so Kind Abrahams zu werden (Gal 3,26-29) bzw. die Mitgenossenschaft an seinem Erbe zu erlangen (Eph 3,6). Das Neue Testament kennt keine Verstoßung Israels (Röm 11,1) kein zweites Bundesvolk, kein neues Israel, wohl eine Kirche, aber keine, die Israel verdrängt. Heiden wird allein der Segen Abrahams, Anteilschaft an seinen Verheißungen, in Christus Jesus zuteil (Gal 3,14).  (8)

Was ist das Neue Testament?
Wie für alle Synagogen-Gemeinden war auch für die neutestamentlichen Jesus-Gemeinden unser heutiges Altes Testament, also Thora, Propheten und Psalmen (Lk 24,44): die Bibel. Die Evangelien und die apostolischen Briefe sind an diese Jesus-Gemeinden adressierte Schriften, deren Anliegen es war, die mit dem Rabbi Jesus gemachten Erfahrungen seiner Jünger als messianische Ereignisse zu bezeugen und darzulegen (Lk 24,46) und für die messianische Vielvölker-Gemeinde Jesu  Konsequenzen daraus zu ziehen. Die Nachfolgegemeinschaft Jesu schaute wie alle frommen Juden mit der Hoffnung der jüdischen Bibel auf das Weltgeschehen und verstanden, was in und um Israel geschah, im Horizont der Verheißungen an Abraham. Die Bedeutung Jesu von Nazareth wurde  so erfragt: Bist du es, der da kommen soll? (Lk 11,3). Auch die Sendung seiner Gemeinden wurde auf dem sog. Apostelkonzil in ihrem Blickfeld erkannt (Apg 14,27-15,21).

Jesus Christus öffnet für die Heiden eine Tür zu den Verheißungen an Abraham
Im Römerbrief (Kap. 4) versucht der Apostel Paulus mit der ernsthaften Texttreue rabbinischer Auslegung zu begründen, weshalb geborene Heiden, die sich zu Jesus als dem Gesalbten bekennen in Verheißungsgemeinschaft (nicht Bundesgemeinschaft!) mit Israel berufen sind. Wenn, so Paulus, Abraham, schon als er noch unbeschnitten war, den Verheißungen Gottes vertraute,  (9)  dann können auch andere Unbeschnittene diesen Glauben gewinnen. Viele Unbeschnittene haben ihn durch Jesus Christus gewonnen und so Abraham zum „Vater aller unbeschnittenen Gläubigen“ (Röm 4,11; 1Mose 17,10) gemacht. Das deshalb, weil der Glaube an den Auferstandenen von den Toten wie der Glaube an die Verheißung einer gerechten Welt Glaube an den Gott ist, der „das, was nicht ist, ins Dasein ruft“ (Röm 4,12). Glaube an die Verheißungen und Glaube an Jesus Christus ist Auferstehungsglaube, Glaube an den Neues schaffenden Gott Israels.
Damit ist durch Jesus Christus für die nichtjüdischen Völker eine Tür zum Glauben (=Vertrauen in die Verheißungen an Abraham) aufgetan (Apg, 14,27). So wäre Jesus Christus Gottes Werkzeug auf dem Weg zur Verwirklichung der Verheißungen, indem er den Heiden die Tür öffnet zur Gemeinschaft des Friedens mit Israel. Das sog. Apostelkonzil (Apg 15) erkannte, dass die Jesus-Gemeinden ein solches Werkzeug Gottes werden können. Der Prophet Amos wird dafür herangezogen: „Darnach will ich mich zurückwenden und wieder aufbauen die zerfallene Hütte Davids, und das Zerstörte an ihr will ich wieder aufbauen und wieder aufrichten, damit die übrigen Menschen den Herrn suchen, und alle Heiden, über die mein Name ausgerufen worden ist, spricht der Herr, der dies tut.“ Amos hatte damit nur die Verheißungen an Abraham vom ewigen Bestand des jüdischen Volkes in seinem Land (1Mose 17,7f: ewiger Bund, ewiger Besitz) und vom messianischen Menschheitsfrieden aktualisiert. Dasselbe tun die Apostel nun wieder.  In ihren Augen kann die Verheißung aktuell werden, wenn die weltweit verbreiteten Israel freundlich gesinnten Jesusgemeinden bewirken, dass die Völker sich für den Gott Israels und seinen in Abraham verheißenen Frieden zu interessieren beginnen. Der damit einhergehende Zerfall des römischen Imperiums wird bewirken, dass Israel wieder frei im Land der Verheißung leben kann.

Jesus holt die verlorenen Söhne Abrahams heim
Das Kommen des Reiches Gottes erweist sich nach neutestamentlicher Sicht in zwei Bewegungen: 1.) dass immer mehr Heiden nach dem Gott Israels fragen und sich den Verheißungen Abrahams zuwenden (Zeugnis der apostolischen Briefe), 2.) dass auch im Bundesvolk Gottes eine neue Sammlung unter die Verheißungen Abrahams anhebt (Zeugnis der Evangelien). Beides ist das Werk des Messias Jesus.
Die Erzählung vom Oberzöllner Zachäus (Lk 19,1-9) ist ein Beispiel für das messianische Wirken Jesu im Bundesvolk: die Aufrichtung seiner verlorenen Glieder. Er feiert die Umkehr des sündigen Grenzwächters, der sich wahrscheinlich schamlos bereichert hatte, und nun „die Hälfte meines Besitzes den Armen“ geben will, als Befreiung und Rettung eines Sohnes Abrahams (V.9). Denn er erfüllt nun das Gebot der Thora, Unterschlagenes doppelt zu ersetzen (2Mose 22,9), mehr als gefordert – aus Freude um- und heimkehren zu dürfen in die Gemeinschaft des Bundes. Freudiger Thoragehorsam aus Verheißungsglauben! Jesus spricht auch ihm zu: „Verkaufe alles, was du hast und verteile es an Arme. So wirst du einen Schatz in den Himmeln haben“ (Lk 18,22). Der Schatz in den Himmeln ist das, was bei Gott ist, sein Wort der ewig gültigen Verheißung von der Erfüllung alles menschlichen Lebens mit Freude durch Gerechtigkeit und Friede bzw. Nächstenliebe (= Thoragehorsam).

Abraham, der Freund Gottes
Gegen alle durch Luther geprägte Erwartung  (10)  lesen wir im Brief des Jakobus: „Ist nicht unser Vater Abraham aus Werken gerecht gesprochen worden?“ (Jak 2,21). Jakobus will seinen Hörern erklären, dass sie als lebendige Glieder der Gemeinde Jesu Christi in der Spur der Taten Abrahams leben müssen, sonst sei der Leib Christi, seine Gemeinde, ohne Geist und ihr Glaube tot (2,26). Das Alte Testament bezeugt Abraham als den unerschütterlichen Anfänger einer neuen Menschheit, der durch seinen unbedingten Willen, in seinem Leben Gerechtigkeit und Friede zu verwirklichen, die unsterbliche Hoffnung auf eine in diesem Geist gesegnete Menschheit begründete. Weil Abraham in voller Übereinstimmung mit dem Willen Gottes lebte, nennen ihn die Propheten und der Apostel Jakobus einen „Freund Gottes“ (Jes 41,8; 2Chr 20,7; Jak 2,23). Außer ihm wird niemand in der Bibel so genannt. Die genaue Übersetzung des Hebräischen lautet: „ein Liebender Gottes“. Abraham war also einer, der Gott liebte „von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit all seiner Kraft“ und „deinen Nächsten wie dich selbst“ (5Mose 6,4f; Mark 12,29ff). Es legt sich die Vermutung nahe, dass die biblischen Schriften in Abraham das menschliche Vorbild für die so unvergleichlich gerechten Weisungen der Thora (5Mose 4,8) erblickten. Der Freund Gottes wäre also der Zeuge für Gott als Menschenfreund.

Im Schoß Abrahams
Nur das Neue Testament spricht mit dieser ansonsten im Judentum gebräuchlichen Metapher, die den Ort der Glückseligkeit, das Paradies, den Ort der Erlösten, also den (Schatz im) Himmel bezeichnet. Für Lukas sitzt der arme, von der Tür eines Reichen verjagte Lazarus im Schoß Abrahams (Lk 16,23). Der Reiche in seinen (Gewissens-?) Qualen erblickt Lazarus dort von ferne. Eine gewaltige Kluft (16,26) tut sich zwischen ihnen auf. Wie kann der Graben zwischen denen, die ihr Leben einfach nur leben, ohne Verantwortung für den Nächsten und die Gesellschaft zu kennen, und denen, die nach Gerechtigkeit dürsten und hungern, überbrückt werden? Nach der Bibel wird das ohne Abraham als Vorbild, ohne den unerschütterlichen Gerechtigkeitswillen, den er hatte kaum gehen. Nach dem Neuen Testament wäre das wie ein Wunder, aber dennoch nicht unmöglich. Das Neue Testament sagt: Wir schaffen das, weil Christen durch das Evangelium wissen: Wir sind frei. Wir sind von Jesus Christus für Abrahams Utopie Befreite.

Christus ist gestorben, „damit den Heiden der Segen Abrahams zuteil würde“ (Gal 3,14).
Gleich mehrere Stellen im Neuen Testament sagen ausdrücklich, dass der Messias Jesus gekommen sei, um die Verheißungen an Abraham zu bestätigen, ihrer zu gedenken. Jesus bringt keine neue Zukunft, sondern er setzt sein Leben ein für die alte, ewig neue, Abraham verheißene Zukunft einer versöhnten Menschheit unter dem Segen Abrahams (1Mose 12,3). Paulus schreibt an die Römer, „dass Christus Diener der Beschnittenen geworden ist,... um die Verheißungen an die Väter zu bestätigen“ (Röm 15,8). Ähnlich sieht es Lukas. Gott habe seines heiligen Bundes „gedacht, des Eides, den er Abraham, unsrem Vater, geschworen hat, uns zu verleihen, dass wir erlöst werden aus den Händen unsrer Feinde“ (Lk 1,72f). Ebenso im berühmten Magnifikat (Lk 1,46-55), wo Gott durch seinen Messias Großreiche zusammenstürzen lässt, Arme und Hungrige aufrichtet (V. 52f), um „Israel, seinen Knecht“ zu befreien, wie er „gegenüber Abraham geredet hat“ (V. 54f).
Die Struktur dieser Stellen ist gleich. Jesus Christus vollbringt unter den Heidenvölkern ein Befreiungswerk und dient damit Israel, seiner aktuellen Befreiung aus römischer Unterdrückung und der Verwirklichung der Verheißung an Abraham. Die Verheißungen an Abraham, d.h. Israels Bestand als Bundesvolk, sein sicheres Wohnen im Land und ewiger Menschheitsfriede (weltweiter Schalom), sind Inhalt und Ziel seines messianischen Werkes. Er ist für die vielen Völker gestorben (Jes 53,10-12; Mk 10,45), um ihren Eintritt in die Verheißungsgemeinschaft mit Israel zu eröffnen (Apg 14,27), um sie durch ihren Anteil am Segen Abrahams (Gal 3,14) zu Kindern Abrahams zu machen (Gal 3,26-19; 1Mose 17,4), zu Kindern der Verheißung (Röm 9,8).
Als Kinder der  Verheißung sind sie Teilhaber am messianischen Frieden, der im Leib Christi, in den versöhnten Vielvölkergemeinden Jesu real, d.h. in den zwischenmenschlichen Beziehungen angefangen hat und gesellschaftlich gelebt wird: „Da ist nicht Jude noch Grieche, da ist nicht Sklave noch Freier, da ist nicht Mann und Weib; denn ihr seid alle einer in Christos Jesus“ (Gal 3,28). Klassenlose Gemeinschaft zwischen allen Menschen! Der Apostel Paulus will nicht sagen, dass es die erwähnten sechs Menschengruppen nicht mehr gibt, auch nicht, dass zwischen ihnen keine Unterschiede mehr sind, sondern dass diese keine Herrschaft der einen über die anderen begründen. In der Gemeinschaft der Kinder Abrahams ist die Herrschaft von Menschen über Menschen für immer beendet. Reich Gottes! Das bewirkt Christus und das Wort von ihm, die Predigt vom Gekreuzigten: Abrahams Geist wird die Völker durchdringen, die imperialen Mächte werden zerfallen, Völkerfriede bricht an und Israel kann, befreit von seinen antisemitischen Feinden, aufatmen: Reich Gottes.

Kapitel 3: Abraham im Koran -  Gibt es abrahamitische Religionen?

Der jüdisch-christliche Gesprächskreis in Augsburg hat sich auch mit dem Koran beschäftigt, mit der Rolle, die Abraham in ihm spielt. Wir sahen wesentliche, unüberbrückbar erscheinende Unterschiede zwischen der Bibel und dem Koran. Dennoch wollten wir ein Gespräch mit Muslimen führen. Wir luden den Imam einer türkisch-sunnitischen Moschee zu uns ein. Das Gespräch verlief in freundlicher Atmosphäre und war auch sehr gründlich. Wir sprachen über das Bild von Abraham in Sure 2 im Vergleich zum ersten Buch Mose. Die verschiedenen Auffassungen, die nicht auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen waren, wurden nachgezeichnet, aber nicht auf ihre Wahrheit bzw. Haltbarkeit hin überprüft oder gegeneinander diskutiert. Ohne Kommentar kamen die verschiedenen Glaubensauffassungen nebeneinander zu stehen.

Abraham, der erste Imam
Der Koran stellt sein Bild von Abraham ausführlich in Sure 2,118-142 dar. Schon der Vers 118 formuliert ein folgenreiches, dezidiertes theologisches Programm:
„Und als Abraham von seinem Herrn durch Gebote, die er erfüllte, geprüft ward, sprach er: 'Siehe, ich mache dich zu einem Imam für die Menschen.“ Er sprach: 'Und von meiner Nachkommenschaft?' Er sprach: 'Meinen Bund erlangen nicht die Ungerechten.'“
Der Gottes Geboten gehorsame Abraham wird von Allah zu einem Vorbeter der Muslime und als solcher zum religiösen Führer aller Menschen erklärt. Das theologische Programm dieses Verses liest sich wie ein entschiedener Widerspruch gegen die Konzeption vom Bund in der hebräischen Bibel. Allah schließt seinen Bund ausdrücklich nicht mit den Nachkommen Abrahams, dem Volk Israel, sondern mit allen Gerechten. Im Koran ist der Bund vom Jüdischen gereinigt und das Konzept eines moralischen Individualismus für den Zutritt ins Jenseits. In der Bibel bezeugt Gottes unverbrüchliche Treue zum Volk Israel seine Treue zu seinen Verheißungen für die Menschheit.

Abraham, der Erbauer der Kaaba
Im folgenden Vers Sure 2,119 sehen wir Abraham und seinen erstgeborenen Sohn Ismael als Begründer des zentralen islamischen Heiligtums, der Kaaba in Mekka:
„Und als wir das Haus zu einem Versammlungsort für die Menschen und einem Asyl machten und (sprachen:) 'Nehmt Abrahams Stätte als Bethaus an', und wir Abraham und Ismael verpflichteten: 'Reiniget mein Haus für die Umwandelnden und darin Verweilenden und die sich Beugende und Niederwerfenden!“
Mit Abrahams Haus bzw. Stätte ist die Kaaba gemeint. Nach der Ablösung Abrahams von der Bundesgeschichte Israels, seiner Entjudaisierung in V. 118, erbaut er als Urvater der Muslime ihr Heiligtum und begründet nach göttlichem Befehl die hier zu vollziehenden Riten. An dieser Stelle entsteht die Frage, ob die gemeinsame Berufung des Islam und der biblischen Religionen auf Abraham mehr Gemeinsames hat als den hohlen Namen, der jeweils nur wie die Verpackung für einen ganz anderen Inhalt erscheint. Denn im Koran beginnt Gott mit Abraham eine vollkommen andere, mit der biblischen nicht zu vereinbarende Geschichte. Kann es sich dabei um denselben Gott handeln, wenn er in der Bibel die Nachkommen Abrahams  aus Isaak zum ewigen Bundesvolk erwählt und im Koran ausdrücklich nicht, sondern Abraham als ersten Muslim und Imam einsetzt sowie mit seinem Sohn Ismael als Erbauer der Kaaba sieht?

Natürliche Gotteserkenntnis
Dem Ausklinken aus dem biblischen Geschichtsdenken entspricht, dass die Erkenntnis Gottes im Koran nicht an die geschichtlichen Befreiungstaten Gottes wie dem Exodus Israels aus der ägyptischen Sklaverei gebunden ist, sondern zu einer Sache der allgemeinen Vernunft mutiert. Jeder Mensch, der seine Sinne beisammen hat, kann Gott ganz natürlich erkennen:
„Und wer, außer dem, dessen Seele töricht ist, verschmähte die Religion Abrahams?“ (Sure 2,124).
Der Koran sieht in Abraham den Vertreter des Ur-Islam, als dessen Erneuerer Mohammed sich verstand, des reinen Monotheismus ohne Beigesellung von Götzen: ...die Religion Abrahams, der den rechten Glauben bekannte und kein Götzendiener war“ (Sure 2,129). Abraham gilt dem Islam als Ur-Monotheist, als Vertreter der natürlichen, vernunftgemäßen Religion noch bevor es Judentum, Christentum und Islam als institutionell organisierte Religionen gab.
„Abraham war weder Jude noch Christ, sondern ein wahrer Gläubiger, ein Gottergebener (d.h. ein Muslim). Und er war keiner von den Beigesellern (Sure 3,60).
Abraham ist im Islam der paradigmatische Muslim, der seine Vernunft gebraucht und auf dem Weg des vernünftigen Suchens zur Gotteserkenntnis findet. Sure 6,74-79 schildert, wie Abraham Gott in den Gestirnen sucht, schließlich die Welt der endlichen Dinge überschreitet und auf die Allmacht eines unsichtbaren Allverursachers schließt. Ob dieser Gott des natürlichen, Transzendenz suchenden Denkens  mit dem Gott, der als Schöpfer der Welt die äußeren Bedingungen für sein Bundeshandeln mit Israel und der Menschheit schafft, harmonisierbar ist, erscheint mehr als fraglich.

Immer wieder dieselbe Sendung und dieselbe Instruktion
Eine entsprechende Unvereinbarkeit zeigt sich auch im Verständnis von Offenbarung. Für den christlichen Glauben ist die Offenbarung in Jesus Christus nur zu verstehen im Zusammenhang mit den Verheißungen Abrahams, den messianischen Erwartungen Israels. Für Lukas und Paulus ist Christus gekommen, um die Verheißungen an die Väter zu bekräftigen, d.h. zu aktualisieren (Lk 1,54f; Röm 15,8). Es handelt sich dabei um eine Erlösungsgeschichte, die mit Abraham einsetzt und der unheilsamen Völkergeschichte seit Adam, Kain und Babylon verheißungsvoll entgegenläuft. Die Erlösung ist biblisch die geschichtlich zu verwirklichende Verheißung des Friedens auf Erden, die von Abraham ausgeht (1Mose 12,3) und von Jesus messianisch aktualisiert wird (Lk 2,14).
Im Koran stehen die Menschen nicht in einem geschichtlichen Hoffnungszusammenhang, sondern jeder einzelne Mensch steht in allen Zeiten vor demselben Urbild des ursprünglichen Gottesverhältnisses, in das er sich im Halten an die Instruktionen von Gott und seinem Gesandten Abraham zurückversetzen kann. Um die Menschen je in ihr Gottesverhältnis zurückzurufen, wurden jedem Volk seine Gesandten geschickt (Sure 10,48). Sie sagen alle dasselbe, haben alle denselben Auftrag, die Menschen in ihr abrahamisches Urbild zurückzuführen, damit sie sich dem göttlichen Gesetz (Scharia) unterwerfen. Das meint: Wir sind Muslime.
In der Bibel, erhalten z.B. Mose, Jeremia und Jesus in der einen Verheißungsgeschichte entsprechend der Lage Israels verschiedene Aufgaben. Dem gegenüber lesen wir im Koran: „Sprecht: Wir glauben an Allah und was er zu uns niedersandte, und was er niedersandte zu Abraham und Ismael und Isaak und Jakob und den Stämmen, und was gegeben ward Moses und Jesus, und was gegeben ward den Propheten und ihrem Herrn. Keinen Unterschied machen wir zwischen ihnen; und wahrlich, wir sind Muslime.“ (Sure 2,130; 3,78; 4,161).

Ein anderes Schriftverständnis
Im Islam bringen alle Gesandten und Propheten den Menschen dieselbe sakrosankte, absolute, göttliche Instruktion, den Koran. Seine wiederholte Sendung war notwendig, weil die Völker diese Botschaft immer wieder verfälschten, auch die Juden und Christen. Unverfälscht liegt diese Botschaft nur im Koran vor, er ist quasi die Photokopie der göttlichen Stimme ins Schriftliche. Der Islam lehrt die Unerschaffenheit des Koran. Anders als in der Bibel wirkt der Empfänger der Botschaft an ihrer literarischen Formgebung nicht mit. Seine Kenntnis oder Unkenntnis anderer religiöser Traditionen spielt für die Gestalt des Koran keine Rolle. Mohammed empfing den Koran als Analphabet absolut passiv. Er ist nicht der aktive Vermittler der Botschaft, sondern ihr Trichter und Lautsprecher.
Die biblischen Schriften sind menschliche Erzeugnisse aus prophetischem Geist. Der Koran ist allein göttliches Erzeugnis und Mohammed quasi Allahs Lautsprecher, die späteren Schreiber nur mechanische Überträger seiner Worte. Während das biblische Wort in eine geschichtliche Situation  eingebracht wird mit dem Ziel, Geschichte und Politik in eine bestimmte Richtung zu bewegen, stellt der Koran eine Instruktion von zeitloser und indiskutabler Autorität dar.

Lachen verboten?
Neben prinzipiellen Unterschieden lassen sich auch scheinbar weniger bedeutsame Abweichungen von der biblischen Vorlage beobachten. Ein Beispiel. Der Koran nimmt in Sure 11 die Erzählung von Abrahams Gastfreundschaft auf (1Mose 18,1-16). Die Thora erzählt hier vom zweifelnden Lachen Saras, als sie die Botschaft hört, dass ihnen, der „welken“ Sara und dem „alten“ Abraham, noch ein Sohn geboren werden soll (1Mose 18,12). Gott antwortet auf das Lachen und fragt: „... Ist den irgendetwas unmöglich für dem Herrn?“ Auch der Koran erwähnt das Lachen Saras (Sure 11,71). Aber es erfolgt anders als in der Thora schon vor der wunderbaren Verheißung eines leiblichen Sohnes für das alte Ehepaar. Hinter dieser Vorordnung könnte ein theologisches Motiv stehen. Für Mohammed war das Lachen Saras über die göttliche Botschaft anstößig, gotteslästerlich, nicht hinnehmbar. Die Annahme, hier hätten die Juden ihre Schrift verfälscht, könnte sich ihm aufgedrängt haben. Diese Abweichung vom biblischen Text ließe auf ein autoritäres Bild von Gottes Majestät schließen und wäre ein Aspekt für die Blasphemie-Debatte über die Mohammed-Karikaturen.

Die Erhabenheit von Allahs Entscheidungen über alle Diskussionen
Die andere Hälfte desselben Kapitels erzählt von der Fürbitte Abrahams für Sodom, der mit Gott beratschlagt, wie über die Bewohner dieser Stadt wegen ihrer himmelschreienden Amoralität ein gerechtes Urteil zu fällen sei (1Mose 18,16-33). Abraham wird in den Ratschluss Gottes einbezogen, weil er sich als Zeuge von Gottes Gerechtigkeit und Frieden bewährt hat (1Mose 18, 17-19). In der Urteilsfindung macht Abraham dann Gott gegenüber eine immer kleinere Zahl von Gerechten geltend, um derentwillen Sodom überleben darf. Weil sich kein Gerechter fand, stand das Urteil schließlich fest.
Auch diese Geschichte übernimmt der Koran, doch mit einer bemerkenswerten Veränderung. Hier beginnt Abraham „mit uns (= Allah) über das Volk Lots zu streiten. Siehe, Abraham ist wahrlich milde, mitfühlend und reumütig. Abraham! Wende dich davon ab. Die Entscheidung deines Herrn ist gefallen. Siehe, über sie wird Strafe kommen, die unabwendbar ist“ (Sure 11,77f).
Ein Ratschluss Gottes in der Form einer typisch jüdischen Diskussion zwischen Mensch und Gott scheint für den Islam unvorstellbar. Vielleicht weil er die Majestät Gottes darin herabgewürdigt sieht. Die mitmenschlichen Gefühle Abrahams gelten dem Koran zwar als achtenswert, aber sie spielen für Allahs Urteil und Strafbeschluss keine Rolle. Dabei missdeutet der Koran Abrahams Einspruch. In der Thora geht es nicht nur um seine Gefühle der Empathie, sondern um das Zeugnis von Gottes universalem Gerechtigkeitswillen für die Menschheit. Deshalb müssen die Gerechten in Sodom im Urteil über die Stadt berücksichtigt werden. In diesem Zusammenhang wird es für den biblischen Gott unabweisbar, den mitbestimmen zu lassen, „in dessen Namen sich alle Völker segnen werden“ (1Mose 18,18; 12,3). Dem entgegen wird Abraham im Koran geradezu zurückgewiesen. Anders als in der Bibel ist Allahs Entscheidung nicht mehr diskutierbar.

Der Augsburger Religionsfriede – wegweisendes Modell eine für tolerante Streitkultur
Eine Harmonisierung der aufgezeigten grundsätzlichen Unterschiede zwischen der Bibel und dem Koran, was die Person und Rolle Abrahams angeht, erscheint u. E. ohne Abbrüche im jeweiligen Selbstverständnis der Partner im interreligiösen Dialog nicht möglich. Solche Selbstdemontage  kann nicht Inhalt des Dialoges oder Trialoges sein. Aber Wahrnehmung der jeweiligen Eigenständigkeit, der theologischen Differenzen und der Andersartigkeit. In der friedlichen Diskussion darüber, liegt ein höherer Begriff von Toleranz als in der interesselosen Duldung, aber auch als in der ungeprüften Voraussetzung vom identischen Gott bei den Schrift- oder gar allen Religionen, die einem theologischen Disput tendenziell den Boden entzieht. Der interreligiöse Dialog, gerade wo er unüberbrückbar Verschiedenes kontrovers diskutiert und trotzdem nebeneinander stehen lässt, könnte das Vorbild für eine friedliche Streitkultur werden.

 

1              Dazu gibt es ein Gemälde von Marc Chagall im Museum in Nizza; s. im Internet: France-Nice-Marc_Chagall_Painting-Abraham_and_the_Three_Angels.jpg
2              Diese drei Artikel erscheinen in „Ma Nishma?“ (hebräisch: Was gibt’s Neues?), dem vierteljährlichen Rundbrief der Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit in Augsburg/Schwaben.
3              Zur Haremspolitik der nahöstlichen Potentaten, die Abraham und seine Nachkommen ständig gefährdete vgl. 1Mose 20,1ff; 26,7f).
4              Martin Buber hat das deutlich gemacht an „Jerusalem“, was er als „Angesicht des Friedens“ verstand. Für ihn kein zufällige Name für die Stadt, sondern eine weltpolitisch bewusste Namensgebung. Genauer übertragen bedeutet Melchizedek: Mein König (ist) Gerechtigkeit. Dann wäre es ein Bekenntnis.
5              1Mose 17,1 heißt es: „Und der Herr erschien Abraham und sagte zu ihm: Ich bin der allgütige Gott, wandle vor meinem Angesicht und werde vollendet.“ S. R. Hirsch sieht in den „vollendet“ die vollständige Verwirklichung der reinen Humanität und für den Menschencharakter die reine Entsprechung zu Gott dem Allgütigen.
6              Christen sprechen von der Opferung Isaaks, die es aber nicht gab.
7              Die Erzählung könnte ein Sinnbild für die bedingungslose Verheißungstreue Abrahams sein, auch wenn die Verhältnisse sich tödlich gegen die Verheißung wenden.
8              Heiden ist die gängige Wiedergabe des hebräischen Gojim = nichtjüdische Völker. Diese Unterscheidung ist ohne den in der Vergangenheit gängigen diskriminierenden Unterton für die ganze Bibel grundlegend. Das Gegensatzpaar ist nicht Christen – Heiden, sondern es geht um die Erwählung Israels. Christen sind nicht im Sinne Israels Erwählte, sondern an die Seite Israels in besonderer Weise Dazuberufene, wie unser Artikel zu erklären versucht.
9              Nach dem ersten Buch Mose hörte und vertraute Abraham Gottes Wort im Alter von 75 Jahren (12,4), im Alter von 99 Jahren lässt er sich und sein Haus beschneiden (17,23ff). In der Bibel sind mit den Heiden die nichtjüdischen Völker, die Unbeschnittenen gemeint.
10            Luther konzentrierte seine Theologie manchmal so auf die Gerechtigkeit allein durch Glauben, dass er den Brief des Jakobus eine „stroherne Epistel“ nannte.

Dieser Text entstand in Zusammenarbeit mit dem jüdisch-christlichen Gesprächskreis Augsburg.
Klaus-Peter Lehmann, Jg. 1946, studierte Theologie bei Gollwitzer und Marquardt und war bis zu seinem Ruhestand Pfarrer der Nordelbischen Kirche in Hamburg. Aktiv im jüdisch-christlichen Dialog mit zahlreichen Veröffentlichungen in kirchlichen Zeitschriften und Buchveröffentlichungen. Er lebt seit 2005 in Augsburg.

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Die BlickPunkt.e erscheinen 6mal im Jahr. Die Printausgabe kann für 25 Euro/Jahr bestellt werden bei ImDialog. Evangelischer Arbeitskreis für das christlich-jüdische Gespräch in Hessen und Nassau.  


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