Redaktion: Hans-Georg Vorndran

BlickPunkt.e Nr. 5 / Oktober 2016

 

Daniel Neumann
Gehorsam und Widerspruch

In den letzten zwei Jahrhunderten hat so manch säkularer, atheistischer und bibelkritischer Zeitgenosse die monotheistischen Weltreligionen ins Fadenkreuz genommen. Und zwar nicht nur, weil dem modernen Geist die Idee eines überweltlichen Schöpfers, eines allmächtigen G“ttes oftmals absurd vorkommt. Sondern außerdem, weil man sich nicht mit der Idee anfreunden kann, dass ein himmlischer Steuermann darüber bestimmen soll, wie jeder Einzelne sein Leben gestaltet. Das Bild eines radikalen Über- und Unterordnungsverhältnisses zwischen dem Allmächtigen und dem Menschen, das in widerspruchslosem Gehorsam zum Ausdruck kommt, ist dabei weit verbreitet. Dieser landläufigen Vorstellung nach ist die Rangordnung also klar geregelt. Es gibt den König und die Untergebenen. Den Herrscher und die Beherrschten. Befehl und Gehorsam.

Zumindest im Judentum ist die Sachlage allerdings ein bisschen komplizierter: Ein schlicht hierarchisches Verhältnis zwischen dem Ewigen als absoluter Autorität und uns als seinen Untergebenen wird weder der biblischen Geschichte noch der jüdischen Wirklichkeit gerecht. Zumal die vermeintlichen Werte, die in manch anderer Religion betont werden, also etwa die bedingungslose und aufopfernde Unterwerfung unter den angeblich so klaren und unmissverständlichen Willen G“ttes, aus jüdischer Perspektive überaus kritisch betrachtet werden. Diese mutmaßlichen Tugenden, die in so vielen Fällen als Maßstab ernstgemeinter Religiosität und tiefgreifender Frömmigkeit daherkommen, erfahren im Judentum mitunter kraftvollen Widerspruch.

Zugegeben: Es existiert das Bild, in dem wir als Diener des Herrn, als Vasallen im Hofstaat des himmlischen Königs agieren. Doch das sind nur einige Steinchen in dem farbenfrohen Mosaik, welches die jüdische Wirklichkeit abbildet.

In Wahrheit ist unser Verständnis der Beziehung von Mensch und G“tt nämlich weit weniger von einem Über- und Unterordnungsverhältnis bestimmt, als von einer Partnerschaft. So etwa betrachteten die Rabbiner das jüdische Volk als Partner G“ttes bei der Schaffung und der Vervollkommnung der Welt.

Der Jude ist im Verhältnis zu G“tt nicht nur Diener, Untergebener oder Befehlsempfänger, sondern verfügt – zumindest im Idealfall – auch über ausgeprägte intellektuelle Fähigkeiten, emotionale Reife und ein gesundes Selbstbewusstsein. Eigenschaften, die ihn gegenüber seinem Schöpfer zu einem selbstbestimmten, kritisch denkenden Wesen machen, das gerade auch in religiösen Fragen befähigt ist, durchdachte und reiflich abgewogene Entscheidungen auf der Grundlage des himmlischen Gesetzeskodex zu treffen.

Eine Schilderung in einer unserer bedeutsamsten jüdischen Schriften, nämlich dem Talmud, lässt erahnen, welch außergewöhnliches Verhältnis zwischen den Juden und G“tt vorherrscht.

Die Geschichte ist unter dem Namen „Der Ofen von Akhnai“ bekannt und hat folgenden Hintergrund (Baba Metzia 59b):
Einstmals bereiteten Juden ihr Essen vorwiegend unter freiem Himmel zu. Und dafür benötigten sie laut der Koschervorschriften – also den Speisegesetzen – rituell reine Kochutensilien. Getöpferte Behälter oder Öfen konnte man im Gegensatz zu dem heutigen Glasgeschirr allerdings nicht mehr koscher machen, wenn sie - aus welchem Grund auch immer - erst einmal unrein geworden waren.

Stattdessen mussten sie komplett zerschlagen werden. Wenn man also gerade dabei war, im Freien zu kochen oder zu backen und ein totes Insekt oder Kleintier geriet in einen Ofen, so wurde das ganze Behältnis unkoscher und musste komplett zerschlagen werden. Man kann sich vorstellen, dass dies nicht auf ungeteilte Begeisterung stieß, da man anschließend wieder mühsam einen ganz neuen Ofen töpfern musste.

Eines Tages jedoch kam ein findiger Kopf auf die Idee, einen Ofen zu entwickeln, der bereits vor der Benutzung zerschlagen worden war. Eine recyclebare Backstation sozusagen. Diese kam in einzelnen Stücken, wurde mit Lehm an den Bruchstellen aufgefüllt, gebrannt und so funktionsfähig gemacht. Wenn dieser Ofen nun unrein wurde, nahm man ihn mit wenig Aufwand auseinander, setzte ihn anschließend mithilfe von Lehm wieder zusammen, brannte ihn erneut und voila: Schon hatte man einen neuen, rituell reinen Ofen hergestellt. Eigentlich eine genialer Einfall.

Rabbi Elieser ben Hyrcanos fand diese Idee wunderbar, während die anderen Weisen dem Vorschlag eine Absage erteilten, weil man es sich damit viel zu einfach mache. Nun war der genannte Rabbi Elieser nicht irgendwer, sondern ein weithin bekannter Gelehrter, mit dem sich die übrigen Rabbiner im Folgenden eine heftige Debatte im örtlichen Lehrhaus lieferten.

Im Laufe dieser Diskussion deutete Rabbi Elieser auf einen Baum und rief: „Wenn ich Recht habe, dann wird es dieser Baum bezeugen.“ In diesem Moment hob sich der Baum, der im Vorgarten des Lehrhauses stand, wie von Geisterhand aus der Erde heraus und schoss einhundert Fuß gen Himmel – manche sagen sogar: 400 Fuß. Woraufhin die Weisen antworteten: „Wir diskutieren hier über Kochgegenstände, Behältnisse und Unreinheit. Glaubst Du denn tatsächlich, Du könntest einen Beweis für die Richtigkeit deiner Ansicht durch einen Baum erbringen?
Was hat denn der Baum mit unserer Diskussion zu tun?“
Daraufhin meinte Elieser: „Sollte ich Recht haben, dann wird der Fluss dies beweisen“ und mit einem mal änderte der Fluss die Laufrichtung des herabströmenden Wassers. Plötzlich floss es bergauf und nicht mehr bergab, woraufhin die Weisen sagten: „Du kannst mithilfe eines Flusses keinen Beweis für die Richtigkeit deiner Meinung erbringen.“
Elieser rief daraufhin: „Wenn ich Recht habe, dann sollen die Wände dieses Lehrhauses es beweisen“ und in dem Moment begannen sich die Wände kräftig nach innen zu neigen.
Da stand Rabbi Yehoshua auf und rief: „Ihr Wände! Was geht es Euch an, wenn wir Rabbiner uns streiten?“ und aus Respekt vor ihm, stürzten sie nicht vollständig ein. Doch aus Respekt vor Rabbi Elieser bewegten sie sich auch nicht zu ihrem Ausgangspunkt zurück, sondern blieben bis zum heutigen Tag schief stehen.
Schließlich erklärte Rabbi Elieser: „Wenn ich Recht habe, dann wird es eine himmlische Stimme beweisen!“.
Da erschallte die Stimme G“ttes und rief: „Was habt ihr gegen Rabbi Elieser. Ihr wisst doch bestimmt, dass er in jedem einzelnen Fall Recht hat und das Gesetz sich stets nach seiner Ansicht richtet.“ woraufhin Rabbi Yehoschua aufstand, zum Himmel blickte und erwiderte: „Die Tora ist nicht im Himmel! (5. Buch Moses, 30:12)
Du hast uns die Tora schon gegeben, Ewiger und in eben dieser Tora steht geschrieben, dass sie nicht mehr im Himmel ist, sondern auf Erden. Hier wird durch die demokratische Mehrheit
entschieden (2. Buch Moses 23:2). Und die Mehrheit hat sich gegen Rabbi Eliesers Meinung gewandt!“
G“tt und Rabbi Elieser wurden damit von einem halben Dutzend anderer Rabbiner glatt überstimmt. Die demokratische Mehrheit hat gewonnen.
Doch damit ist die Erzählung noch nicht zu Ende!
Stattdessen berichtet der Talmud im Anschluss an diese Ereignisse von einer Begegnung zwischen einem der beteiligten Rabbis und Elijahu, dem wohl prominentesten Propheten.
Der Rabbi fragte Elijahu, wie G“tt denn reagiert habe, nachdem er von seinen Kindern überstimmt worden war, woraufhin Elijahu antwortete: „Er hat fröhlich gelacht und gesagt:
Meine Kinder haben mich besiegt, meine Kinder haben mich besiegt!“

Es ist dieser unglaubliche Moment, in dem G“tt sich vor seiner eigenen Schöpfung verneigt. In dem er dem Menschen in seiner intellektuellen Kühnheit Tribut zollt. In dem er einem stolzen Vater gleich anerkennt, dass seine Kinder zu eigenständigen, mutigen und kritischen Geistern gereift sind.
Es ist dieser Moment, der uns kraftvoll vor Augen führt, dass es G“tt aus jüdischer Perspektive nicht darum geht, unterwürfige, abhängige und geistig verarmte Wesen zu erschaffen, die ihm wie Schafe folgen, sondern selbstbewusste und emanzipierte Partner, die ihm bei der Vervollkommnung der Welt zur Seite stehen.
Es ist dieser Moment, in dem der Ewige dem Individuum Raum gibt, sich fortzuentwickeln, zu wachsen, zu reifen, um sich für die kommenden Aufgaben zu wappnen.

Das heißt nicht, dass wir Juden uns vom Herrscher des Universums distanzieren sollten. Und es ist auch kein Freibrief, seine Gesetze mit überheblicher Herablassung missachten zu dürfen.
Keinesfalls! Vielmehr sollen wir uns selbstbewusst und kreativ aber nichtsdestotrotz innerhalb des g“ttlich vorgegebenen Referenzrahmens, des biblischen Gesetzes, bewegen.
Und während Dankbarkeit, Ehrfurcht, Liebe und Treue die Grundpfeiler des gegenseitigen, intimen Bundes bilden, lassen wir das in der Tora geoffenbarte Wort lebendig werden.
Überbrücken wir die Kluft von geschriebenem Wort zu gelebter Wirklichkeit durch kreative,
kritische und herausfordernde Interpretation. Bringen wir zum Ausdruck, dass es an uns selbst liegt, unser Leben, unsere Realität, unser Schicksal zu bestimmen.
Gehorsam und Widerspruch sind im Judentum keine entgegengesetzten Pole, sondern zwei Seiten ein und derselben Medaille.
Treue und Kühnheit, Loyalität und Emanzipation, Dienst und kritische Reflektion bilden somit das Fundament des außergewöhnlichen Verhältnisses zwischen dem Volk Israel und G“tt.

Möge der Ewige stets darüber lachen und mit Zufriedenheit und Stolz auf seine manchmal ziemlich halsstarrigen und widerspenstigen, dafür aber stolzen und selbstbewussten Kinder blicken.
Er hat es ja schließlich nicht anders gewollt.

Der Autor ist Geschäftsführer des Landesverbandes der Jüdischen Gemeinden in Hessen, K.d.ö.R

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