Redaktion: Hans-Georg Vorndran

BlickPunkt.e Nr. 1 / Februar 2017

 

Klaus-Peter Lehmann
Erste Gefährdung der Verheißung
Abrahams und Saras Rettung in Ägypten

Auslegung zu 1Mose 12,10-20 Der Text

V.1: Und es war Hunger im Land, und Abram ging hinab nach Ägypten, dort zu gasten, denn schwer war der Hunger im Land. V.11: Und es war, als nahe daran war nach Ägypten zu kommen, sprach er zu Sara, seiner Frau: Siehe doch, ich weiß, dass du eine Frau schön von Ansehen bist. V.12: Und so wird es geschehen, dass dich die Ägypter sehen und sagen: Seine Frau ist die da! Und umbringen werden sie mich und dich leben lassen. V.13: Sags doch! Meine Schwester bist du! Damit es mir gut ergehe um deinetwillen und meine Seele auflebe durch dich. V.14: Und es geschah, als Abram nach Ägypten kam, sahen die Ägypter die Frau, dass sie sehr schön war. V.15: Und es sahen sie die Fürsten Pharaos und priesen sie für Pharao und weggenommen wurde die Frau in Pharaos Haus. V.16: Dem Abraham tat er Gutes um ihretwillen und es waren ihm Kleinvieh und Rinder und Eselhengste und Knechte und Mägde und Graustuten und Kamele geworden. V.17: Und es plagte JHWH den Pharao mit großen Plagen und sein Haus wegen Sara, Abrams Frau. V.18: Und Pharao ließ den Abram rufen und sprach: Was hast du mir da getan? Warum meldetest du mir nicht, dass sie deine Frau ist? V.19: Warum sprachst du: Meine Schwester ist sie? Und ich nahm sie mir zur Frau. Und nun! Hier ist die Frau! Nimm und geh! V.20: Und Pharao orderte für ihn Männer und sie geleiteten ihn und seine Frau und alles, was sein war, hinaus. Wunsch auf gastliche Duldung als Flüchtlinge (1Mose 12,10)

Hungersnöte suchten die Erzväter immer wieder heim (1Mose 26,1; 43,1; 47,1). Abraham, der soeben mit dem Bau von zwei Altären Gottes Anspruch auf das verheißene Land deutlich gemacht hat und somit Kanaan als den erwählten Wohnsitz für seine Nachkommen markiert hat (12,7-9), muss das Land wegen der großen Schwere einer Hungersnot verlassen, wie der begründende Nachsatz am Ende des Verses mit der Wiederholung des einleitenden „Hunger im Land“ erklärt.

So verlassen Abraham und Sara Kanaan, mit dem Wunsch, vorübergehend als Gäste in Ägypten zu leben. Nur Martin Buber weist durch seine Übersetzung des hebräischen „lagur“ mit „zu gasten“ auf die besondere Rechtsstellung der Fremdlinge hin, die ihnen statt Vogelfreiheit Sicherheit und Rechtsschutz gewähren soll. Fremdling = Gast = hebr. ger ist in der Thora ein rechtlich gefüllter Begriff, der in der Weisung, den Fremdling zu lieben (3Mose 19,34), gipfelt. Der Text will wohl sagen, dass Abraham um den Rechtsstatus als anerkannter Gast in Ägypten nachsuchen wollte.  (1)  Ägypten als zentral organisierter Staat hatte eine Grenzmauer nach Norden und war mit seiner genauen Buchführung über die Grenzgänger in der Lage deren Rechte und Status bürokratisch festzuhalten. Wahrscheinlich genoss der Staat Ägyptens deshalb einen guten Ruf. Dagegen war Kanaan keine politische Einheit. Es zergliederte sich in kleine Territorien und Stadtgemeinden, mit denen man sich jeweils ins Benehmen setzen musste. Entsprechend verschieden und unsicher gestaltete sich das Verhältnis. Bestenfalls kam es zu einem Bündnis (14,13; 21,32). Der Regelfall war eher widerwillige Duldung (13,6).

Als Gäste in Lebensgefahr (1Mose 12,11.12)

Was Ägypten angeht, scheinen der Ruf des Landes und seine Rechtswirklichkeit weit auseinanderzuklaffen. Denn was Abraham und Sara miteinander besprechen, als sie sich dem Land nähern, betrifft ausschließlich ihre tödliche Gefährdung auf ägyptischem Boden und hat mit ihrem Wunsch dort „zu gasten“ nichts mehr zu tun.

Abraham und Sara sprechen nicht zum ersten Mal über ihr Verhalten in lebensgefährlicher Umgebung. Blicken wir auf 1Mose 20,13, dann gab es ein länger zurückliegendes Gespräch bzw. eine Vereinbarung zwischen beiden, die sich auf Reisen in verschiedene kanaanäische Hoheitsgebiete bezog und die zum Inhalt hatte, dass sie sich zu ihrem Schutz immer nur als Geschwisterpaar ausgeben wollen. An diese wahrscheinlich Jahre zurückliegende Übereinkunft, möchte Abraham vor dem Eintritt ins Land der Pharaonen erinnern. Warum? Sie werden erst auf dem Weg dorthin erfahren haben, welche Zustände hinter der Grenze herrschen. Dass es keine Polizeigewalt gab, die die Innehaltung an der Grenze gewährter und eingetragener Rechte durchsetzen konnte. Ihr Wunsch dort „zu gasten“ erschien wie ein Luftschloss.

Zunächst ist wichtig, sich die Gefahr zu vergegenwärtigen, in die das Ehepaar mit seiner Reise sich  begab. Manche Exegeten sprechen mit Blick auf jene Vereinbarung vom „Verrat der Ahnfrau“ durch Abraham.  (2)  Das ist nur sinnvoll, wenn man unterstellt, Abraham wolle mit der Verabredung sich außer Gefahr bringen unter Inkaufnahme der Gefährdung seiner Frau. Dann hätte er tatsächlich große Schuld auf sich geladen, die Gott ihm über die Vorwürfe aus dem Mund des Pharao vorhalten würde (V. 18f). Nehmen wir aber die Auskünfte des biblischen Zeugnisses ernst, dann verhält es sich wohl eher so, wie Samson Raphael Hirsch schreibt: „In beiden Fällen, verheiratet oder unverheiratet, war Saras Ehre gefährdet. Allein als verheiratetes Frauenzimmer war die Gefahr geradezu drohend. Man tötet den Mann und raubt die Frau. Zu dem von einem Bruder begleiteten Frauenzimmer hofft man den Weg durch die Gunst des Bruders sich zu bahnen.“  (3) 

Demzufolge konnten beide davon ausgehen, dass Abraham in Gefahr war, ermordet zu werden und Sara die Verschleppung drohte, wenn sie als Ehepaar einreisen würden. Die Konsequenzen für Sara deutet der Text nur an: „und dich leben lassen.“ Was aber nur heißen kann: du würdest zur Witwe und absolut wehrlosen Beute in ägyptischen Händen. Allgemeine Sitte war es jedoch, keine Frau zu ehelichen, ohne die Einwilligung ihres Vaters oder Bruders einzuholen. So wollte Abraham, denn Sara war ja seine Schwester väterlicherseits (1Mose 20,12), die ägyptischen Freier bis zu ihrer beider Rückkehr nach Kanaan auf Distanz halten. Das war immerhin ein realistisch erscheinender Plan.  Dieser Plan schlug fehl, denn Abraham hatte nicht mit dem Pharao gerechnet, der über Sitte und Gesetz stehend, Sara einfach raubte. In dieser unvorhergesehenen Lage befinden sich die beiden aber erst in Vers 15b.

Zum Verständnis dieser Erzählung von Abraham und Sara in Ägypten ist es wichtig, sich klar zu machen, dass mit der Gefährdung Abrahams oder Saras oder beider das dem Abraham soeben von JHWH anvertraute verheißene heilsgeschichtliche Projekt der Erwählung Israels und der Versöhnung der Menschheit in seinem Namen in Frage gestellt war. Abrahams und Saras Entscheidungen sind u.E. besonders in diesem Lichte zu beurteilen.

Ein geschwisterliches Versprechen in Not (1Mose 12,13)

Alle Übersetzer gehen davon aus, Abraham würde hier Sara quasi vorsprechen, wie sie sich in Ägypten ausgeben soll, und übertragen deshalb meist so: „Sage doch, du seist meine Schwester!“ Benno Jacob bemerkt dazu, dass so niemand sprechen würde. Immer gehe der Sprecher von sich aus und sage von sich selbst her die Beziehung zum Anderen aus. Sara würde also sagen: „Er ist mein Bruder“ (vgl. 1Mose 20,13) statt: „Ich bin seine Schwester.“ So wird es einleuchtend, V. 13a als direkte Rede aufzufassen wie etwa Spr 7,4: „Sage zur Weisheit: meine Schwester bist du.“ Angesichts der unerwarteten Gefährdung in Ägypten erinnert Abraham hier also noch einmal an die beim Verlassen des Vaterhauses für ihre Gefährdung in Kanaan getroffene Vereinbarung (1Mose 20,13),  (4)   dass sie auch hier gültig sei: „Sags doch!“ Das folgende „Meine Schwester bist du!“ wäre dann ein Appell mit dem Inhalt: Du bist ja meine Schwester! Ein Appell an die geschwisterliche Solidarität.

In der Spur dieser Zwischenmenschlichkeit ist auch die zweite Hälfte des Verses zu verstehen. Es geht nicht um materielles Wohlsein, nicht um einen Vorblick auf die schlau erworbenen „Geschenke“ vom Pharao (V. 16), sondern um ein seelisches Wohlergehen, das einer erfährt, der auf die Satzungen der Thora hört (5Mose 6,18; 10,13; 12,28), ein Aufatmen wie am Sabbat. Es geht um die Befreiung von dem seelischen Druck, der auf beiden gelastet hätte, wenn Abraham in Todesangst zur Einwanderung nach Ägypten geschritten wäre.

So bestand die Aussicht, die eben begonnene Verheißungsgeschichte fortsetzen zu können. Die Voraussetzung dafür liegt ja im Wohlergehen von Abraham und Sara. Der Vers will sagen: Es soll ihm wohlergehen, damit sie den verheißenen Sohn gebären könne und Mutter vieler Völker werde (1Mose 17,16). Dafür muss aber von ihm die Todesgefahr, von seiner Seele die Drohung des Todes genommen werden: „Damit es mir gut ergehe um deinetwillen und meine Seele auflebe durch dich.“

Staatsaktion höflicher Frauenraub (1Mose 12, 14.15)

Saras Schönheit muss in Ägypten Aufsehen erregt haben, sodass die Kunde davon schnell an den Hof des Pharao drang. Die Höflinge scheinen sie in höchsten begeisterten Tönen als Kandidatin für Pharaos Harem gepriesen zu haben. Das hebräische „hillel“ kommt im Pentateuch nur hier vor und ist der prägnante Ausdruck für den liturgischen Lobpreis des Höchsten. Es ist dasselbe Wort wie in „hallelujah“ =  lobet den Herrn. Mit dem Verb für den liturgischen Lobpreis werden die Höflinge des Pharao als poetisierende Schwärmer für Saras Schönheit ausgemalt. So wird erzählt, wie der lakonisch berichtete Frauenraub für den Harem des Pharao („weggenommen wurde die Frau“) zum kulturellen Event am Hof erhöht und der Rechtsbruch durch ein zeremonielles Staatsfest verschleiert und verschlagen versüßt wurde. Nicht nur dass Abraham an der Abholaktion von Sara überhaupt nicht beteiligt erscheint, keine Überlassung, keine Anfrage, er hat es wohl weder veranlasst noch verhindern können. Auch das Passiv „tuqqach = sie wurde genommen“ des Verbs „laqach = nehmen“, passiv „genommen werden, wegnehmen lassen“, wirkt wie trockener Realismus und lässt keinen Zweifel an dem Tatbestand des widerrechtlichen Frauenraubs. Die Anonymisierung des Subjekts gibt eine Ahnung von der für Abraham ungreifbaren Übermacht des  ägyptischen Staats, „Pharaos Haus“.

Es erscheint einleuchtend, dass der hebräische Autor den Rechtsbruch (V. 15b) bewusst mit dem zeremoniell stilisierten Lobpreis der Schönheit Saras (V. 15a) und der ungefragten Erhebung Abrahams zum Günstling des Hofes (V. 16) umrahmt hat. Damit wird der Pharaonenhof als Räuberhöhle mit Willkür rechtfertigender Kultur und rechtsbrecherischer Günstlingswirtschaft charakterisiert.

Staatsaktion ungefragte Gönnerschaft (1Mose 12,16)

Abraham hat an beiden Staatsaktionen keinen aktiven Anteil. Weder an der Überführung Saras an den Hof des Pharao, noch an der Gunst, in die er danach fällt und die dieser Vers schildert. Das Wohlwollen, die aufgezählten Güter hat er nicht erworben, „es waren ihm... geworden“, wie es das Hebräische sagt, sie kamen ihm ungefragt und anonym vonseiten des Pharao zu.

Würde es sich um ein Geschäft oder ein Geschenk handeln, müsste das Subjekt genannt werden. Bei einem Geschenk würden Silber und Gold kaum fehlen. Auch würde der Pharao, wenn er sich betrogen sähe (V. 18f), dem Abraham alles wieder abnehmen. Trotz der halben Verschleierung des Akteurs formuliert der Text unmissverständlich, dass Abraham den ihm zusätzlich zufließenden Reichtum um Saras willen erhält, d.h. Abraham wird durch einen im Dunkel bleibenden, aber dennoch deutlichen Wink von oben in seiner wirtschaftlichen Existenz als Herdenzüchter vom Hof begünstigt, natürlich um ihm den Raub seiner Frau zu versüßen und den Anschein der Legalität darüber zu legen.  (5)

Abraham konnte davon ausgehen, dass der Pharao sich Sara nicht sofort und gewaltsam nähern wollte, sondern wie es üblich war über ihn, den Bruder, der als ihr Vormund galt, Zugang zu ihr gewinnen wollte. Deshalb „waren ihm“ erst Ziegen und Rinder, dann Arbeitskräfte und Lastenträger (Esel) und schließlich Lasttiere für den Transport von Gütern auf Reisen, Kamele „geworden“. Darin ist eine Klimax erkennbar. Pharao wollte mit an Wert ansteigenden Guttaten bzw. Bestechungsgütern, Abraham dazu bewegen seine Schwester freizugeben. Abraham konnte, was ihm da zuwuchs, nicht ausschlagen, ohne den Pharao zu brüskieren und seine Gewalt zu provozieren. Das Einzige, was ihm blieb, war den Pharao hinzuhalten, eine prekäre Situation, die, sollte der König merken, dass er nicht an sein Ziel kommt, schnell zur Katastrophe sich wenden konnte.

Peinlicher Ausschlag für den Pharao (1Mose 12,17)

JHWH, der soeben Abraham zum Erzvater des Gottesvolkes erklärt und zum Begründer seines menschheitlichen Versöhnungsprojektes berufen hat, in dem allen Geschlechtern der Erde Segen in seinem Namen verheißen bzw. versprochen wird (1Mose 12,3), muss offenbar eingreifen. Warum?

Der Text wirft einige Fragen auf. Was war geschehen? Das hebräische „wegen = `al dbar“ wird oft benutzt, um den Grund einer Strafe anzuzeigen. JHWH greift also rettend ein, um Pharao zu strafen und Sara zu schützen. Weswegen? Es kann nur die drohende Entehrung Saras durch den Pharao gemeint sein. Eine andere Frage bezieht sich auf die Art der Schläge oder Plagen. Nahe liegt an Aussatz zu denken, weil das hebräische „näga`“ zugleich: „Schlag, Ausschlag, Aussatz“ (3Mose 13) bedeutet. Wir zitieren den Midrasch zur Stelle aus Bereschit Rabba:

„ ...so wird auch jeder, welcher Israel quält, zuletzt seine Strafe erhalten. Du kannst das daraus erkennen, dass Pharao, da er die Sara eine Nacht bei sich behielt, samt seinem Hause mit Plagen geschlagen wurde, wie es heißt: Und der Ewige schlug den Pharao mit großen Plagen. Nach der Meinung des Resch Lakisch im Namen des R. Bar Kapra wurde er mit Eiter und Beulen geschlagen. R. Simeon ben Gamliel sagte: Ich traf einst einen Greis in Sepphoris mit solchen Beulen behaftet, er sprach zu mir: Es gibt 24 Arten von Ausschlag, keiner aber ist so schädlich für den Umgang mit einem Weibe als das Eitern, womit Pharao geschlagen wurde... Die ganze Nacht lag Sara ausgestreckt mit dem Gesicht auf dem Boden und rief: Herr der Welten! Abraham ist mit einer Verheißung ausgezogen und ich mit Vertrauen; er ist außer Not, aber ich bin in Not. Da sprach Gott zu ihr: Alles, was ich tue, geschieht nur deinetwegen, darum sagten auch alle: Wegen Sara, des Weibes Abrahams. R. Levi sagte: Die ganze Nacht stand der Engel mit einer Knute in seiner Hand bereit und sprach zu ihr: Sobald du sagen wirst: schlage! so werde ich schlagen. Sobald du aber sagen wirst: höre auf! werde ich aufhören. Und warum das? Weil sie Pharao gesagt hatte: ich bin ein Eheweib, und er enthielt sich dennoch nicht.“  (6) 

Dieser Midrasch liegt in der Logik des Thora-Textes. Er bringt das nicht direkt Ausgesprochene ans Licht und lässt uns Sara als den wahren Mittelpunkt der kleinen Erzählung erkennen.

Staatsaktion Gesicht bewahren (1Mose 12,18-20)

Wie ist im Rahmen dieser Auslegung die scheinbare Vorhaltung, die der Pharao Abraham macht, zu verstehen? Um eine hoheitliche Ausweisung, weil der König von Abraham belogen worden sei, kann es sich kaum handeln.  (7)  Dem widerspricht das quasi offizielle Geleit, das der Pharao dem Paar mit seiner in Ägypten rechtmäßig vermehrten Habe bis zur Grenze entbietet. Buber übersetzt das hebräische „´anaschim“ treffsicher mit „Mannschaft“. Abraham wird, damit der Pharao nach außen hin das Gesicht wahren kann, wie offiziell hinauseskortiert. Was wie ein berechtigter Vorwurf an Abraham aussieht, ist in Wahrheit nur geheuchelte Moral, auf die Abraham nicht antworten kann. Denn hätte Abraham ihm gefahrlos die Wahrheit sagen können, dass „er ihn für nicht besser als  sein Volk gehalten“?  (8)  

An einen freiwilligen Verzicht auf Sara hat der Pharao nie gedacht, denn erst die Schläge JHWHs lassen ihn zurückschrecken, halten ihn ab. Um den Zusammenhang scheint er aber zu wissen, spricht er doch den herbeizitierten Abraham direkt auf seine Ehe mit Sara an. Verlogen gibt er den Unschuldigen, der nur aus Unwissenheit gehandelt habe. „Heuchlerisch bedauert er, dass er Sara nicht zu seiner Gattin erheben kann“. Mit dem „hinneh ´ischtah = Siehe, dein Weib!“ präsentiert er sie quasi offiziell und gibt sie ihm quasi rechtlich zurück. So wahrt der Pharao sein Gesicht bis zuletzt.  (9)   Auch das hebräische „qach walek = Nimm und geh!“ deutet nicht auf eine schroffe Ausweisung, sondern auf eine besorgte Verabschiedung, die zwar von oben auferlegt ist, aber so „fürsorglich“ organisiert werden muss, damit des Pharaos Ehre keinen Schaden nimmt und der Anschein des Rechtes gewahrt wird. Das war unbedingt nötig, denn dem Pharao war wegen einem königlichen Kavaliersdelikt absolut Peinliches passiert: Schläge hat er bekommen wegen Frauenraub und Ehebruch.

Fazit und Folgerung

Diese kleine Erzählung bezeugt die Rettung und Bewahrung von Abraham und Sara als Träger der Verheißungen JHWHs für Israel und die Menschheit. Unsere Auslegung entdeckte Sara als ihren verborgenen Mittelpunkt. Als Abrahams Überlebensplan für ihren Aufenthalt in Ägypten zu scheitern droht, weil der Pharao sich Sara naht, greift sie zum letzten Mittel, ihn abzuhalten. Sie gesteht ihm ihre Ehe. Ein Versuch, an sein Gewissen zu appellieren, der wohl vergeblich war. Der Pharao zeigt sich als Herrscher ohne Moral. Gott musste eingreifen, um die Träger seiner Verheißung vor ihm zu bewahren. So löst sich das scheinbare Geheimnis, woher denn der Pharao von Saras Ehestand weiß, den sie der bindenden Verabredung mit Abraham zufolge, nicht verraten sollte noch wollte. Das kann sie nur aus der ultima ratio angesichts der Not ihrer anders nicht mehr abwendbaren Entehrung und des drohenden Endes für JHWHs Verheißungsprojekt getan haben. Sara legte so dem gerechten Gott ihre und Abrahams Zukunft in seine Hände. Ohne ihr Geständnis hätte sie dem Unheil seinen Lauf gelassen. Indem sie mit ihrer Offenbarung an Pharaos Gewissen appelliert, eröffnet sie ihm eine Chance als Menschen und vertraut auf die geschichtliche Durchsetzungskraft der ewigen Güte Gottes.

Die Erzählung soll zeigen, dass die Frauen Israels getrost sein dürfen. Der himmlische Vater seines erwählten Volkes  Israel wird in der größten Not ihre Ehre retten. Auch gegen Mächte, die sich für absolut halten wie Pharao, wird JHWHs Verheißung durch Israels Bewahrung als Volk sich durchsetzen.

Die Kirche sollte sich viel stärker als bislang und jemals, nämlich grundsätzlich, im Horizont Abrahams und seiner Verheißungen verstehen. Nach dem Zeugnis des Neuen Testamentes ist Jesus Christus gekommen, um die Verheißungen Abrahams zu bekräftigen (Lk 1,54f; Röm 15,8). Als Christen leben wir auch aufgrund der Erzväter. Diese kleine unscheinbare Rettungsgeschichte am Anfang der jüdischen Verheißungsgeschichte, ist ein geschichtlicher Baustein unserer Existenz als Kirche, ebenso wie das Vertrauen Abrahams in die utopischen Verheißungen (1Mose 12,1-9). Denn was wäre, wenn Sara resigniert hätte? Weil sie wie ihr Mann Abraham die Hoffnung nicht aufgab, wurde sie Mutter vieler Völker (1Mose 17,16), auch des Kirchenvolks.

  1. Benno Jacob, Das Buch Genesis, Stuttgart 2000, S. 317

  2. G. v. Rad, ATD, Das erste Buch Mose, Göttingen 1976, S. 129

  3. S. R. Hirsch, Die fünf Bücher der Tora, Bereschit, S. 250; vgl. B. Jacob, a.a.O., S. 348; G. Cohen,  Lüge aus Liebe Jüdische Allgemeine 45/05, 10.11.2005. Dass mit räuberischem Ehebruch im Nahen Osten ganz allgemein zu rechnen war, veranschaulicht am besten die hinterlistige Beseitigung Urias, des Ehemannes der Bathseba, durch König David (2Sam 11), und das in dem Volk der Thora mit institutionalisiertem Prophetentum.

  4. S. R. Hirsch meint, dass der als Apostat vom allgemeinen heidnischen Volksglauben sein Vaterhaus verlassende Abraham besonders gefährdet war (a.a.O., S. 364).

  5. B. Jacob, a.a.O., S. 351f

  6. Midrasch Bereschit Rabba, deutsch von A. Wünsche, 1881, Nachdruck Krupp, Jerusalem 2010, S. 185F

  7. G. v. Rad, a.a.O., S. 128

  8. S. R. Hirsch, a.a.O., S. 252

  9. B. Jacob, a.a.O., S. 354

Klaus-Peter Lehmann, Jg. 1946, studierte Theologie bei Gollwitzer und Marquardt und war bis zu seinem Ruhestand Pfarrer der Nordelbischen Kirche in Hamburg. Aktiv im jüdisch-christlichen Dialog mit zahlreichen Veröffentlichungen in kirchlichen Zeitschriften und Buchveröffentlichungen. Er lebt seit 2005 in Augsburg.

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