Redaktion: Hans-Georg Vorndran

BlickPunkt.e Nr. 2 / April 2017

 

Klaus-Peter Lehmann
Kann es viele Bundesvölker geben?
Exegetische Gedanken zur Frage einer Ausweitung der Israeltheologie

1. Die Fragestellung
Die wichtige Frage, der sich der Vortrag von Prof. Bernhardt „Christusbund – Israelbund – Abrahamsbund – Schöpfungsbund. Wie verhält sich der Bund Gottes mit Israel zu den anderen Bünden?“ (1) widmet, ist die nach Möglichkeit einer Ausweitung des Bundes Gottes mit Israel auf weitere Völker. Das Problem, das sich dabei sogleich auftut, weist auf die Identität Gottes. Würde damit die Einzigkeit des Gottes Israels verwischt? Aber wie kommt sonst, wenn nicht über eine solche Erweiterung, die universale Güte Gottes zu den Völkern und der Schöpfung?
Es gibt zur Zeit kaum ein spannenderes und dringender zu reflektierendes theologisches Feld als „Schritte über die Israeltheologie hinaus auch auf andere religiöse Traditionen“ zu tun. „Nicht so, dass man die Besonderheit des Verhältnisses zu Israel einebnet in eine allgemeine Theorie der Religionen, aber doch so, dass man die im Blick auf Israel gewonnenen Einsichten auch für die Beziehungsbestimmung zu anderen Religionen fruchtbar macht.“ Dieses Vorhaben von Bernhardt verdient es, mit besonderem Interesse verfolgt zu werden. Dabei ist u.E. die entscheidende Frage, was es bedeutet bei der Verhältnisbestimmung zu den anderen Religionen über die Israeltheologie hinauszugehen. Bernhardt scheint davon auszugehen, dass das möglich ist, ohne die Einzigkeit Israels als Bundesvolk zu relativieren und ohne die Einzigartigkeit des Verhältnisses zwischen Israel und der Kirche zu tangieren. Wir folgen seinen Schritten.

2. Die Weisheit der EKHN und der Lesefehler Bernhardts
Bernhardt setzt sachgemäß bei den zwei Sätzen ein, um die die EKHN vor 25 Jahren den Grundartikel ihrer Verfassung erweitert hatte, und kommentiert, dass man das „Ersetzungsmodell ersetzt (habe) durch das Bekenntnis zur bleibenden Erwählung der Juden und Gottes Bund mit ihnen.“ Diese Formulierung sei „deuteoffen“ für zwei verschiedene Modelle der Ausdehnung des Bundes auf andere Völker und Gemeinschaften (Erweiterung des einen Bundes oder Zuwachs von weiteren Bünden). Blicken wir auf den zur Rede stehenden Text der EKHN, so müssen wir feststellen, dass Bernhardt - am Ausgangspunkt seines Weges! - falsch zitiert und damit die theologische Aussage der Erklärung entscheidend verschiebt.
Die beiden Sätze, um die es geht, lauten: „Aus Blindheit und Schuld zur Umkehr gerufen, bezeugt sie (scil. die EKHN) neu die bleibende Erwählung der Juden und Gottes Bund mit ihnen. Das Bekenntnis zu Jesus Christus schließt dieses Zeugnis ein.“
Bernhardt macht aus dem „Zeugnis“ der EKHN von Gottes Bund mit den Juden ein „Bekenntnis“ zu ihm. Niemand bekennt sich zum Bund Gottes mit Israel außer die Juden selbst. Christen bekennen sich zu Jesus als ihrem Herrn und dem Messias, durch den Gott sich seines Knechtes Israel angenommen hat (LK 1,54). Juden und Christen bekennen sich in ihrem Bekenntnis zum Gott Israels jeweils zu der der besonderen Zuwendung, die er ihnen zuteil werden ließ. Juden danken ihm für den Bund und bekennen sich zu ihrer Existenz als Gottes Volk. Christen danken ihm für die Sendung Jesu Christi und bekennen sich zu ihm, weil er sie zur Kirche zusammengeschlossen und in die Erwartung der Verheißungen Abrahams hineingenommen hat. Mit diesem Bekenntnis bezeugen die Christen (automatisch bzw. implizit) die ewige Erwählung Israels. Die Erklärung der EKHN betont das in der Vergangenheit vergessene und verschüttete aber prinzipiell im Christusbekenntnis eingeschlossene Zeugnis vom Bund Gottes mit Israel. Sie bekennt sich also nicht zum Bund Israels, sondern bezeugt ihn mit ihrem Bekenntnis zu Jesus Christus. Die EKHN hat also sehr genau differenziert und sehr überlegt formuliert. Für einen weiteren Bund ist diese Formulierung u.E. nicht „deuteoffen“.
Aber Bernhardt hat sich diesen Satz durch die unscheinbare Ersetzung des Zeugnisses vom Bund durch das Bekenntnis zu ihm für solche Deutungen geöffnet. Denn wo wir uns zu dem Bund Gottes mit Israel bekennen, setzen wir uns ungefragt als sein Mitglied. Die Beschneidung gliedert in den Bund ein, aber nicht die Taufe. Sie geschieht auf den Namen Jesu Christi. Wäre das anders, selbstredend würde dann die EKHN-Formulierung deuteoffen sein für viele Bünde. Bernhardt scheint zu übersehen, dass ein bedeutsamer Unterschied besteht zwischen der Zeugenschaft von einem Geschehen an Anderen und dem Bekenntnis zu einem Geschehen an mir selbst. Dieser Unterschied bedeutet nicht, dass ich als Zeuge nicht involviert sein kann in das bezeugte Geschehen. Aber als äußerer Teilnehmer und nicht als innerer. Das meint keine wertmäßige Abstufung der Teilnahme, sondern ihre Ortsbestimmung. Es gibt – und das sagt das Wort „Zeugnis“ - eine äußere solidarische Teilnahme an der Bundesgeschichte Israels, die in der Heilsgeschichte Gottes ihre eigene Bedeutung und Funktion hat (Lk 1,73f; Röm 15,18b). Zu einem solidarischen Dienst an den Beschnittenen (Röm 15,8) ist die Kirche durch Jesus Christus berufen. Und indem sie sich dazu bekennt, bezeugt sie die ewige Erwählung Israels.

3. Die Ausdehnung des Sonderstatus
Bernhardt betont, dass er den „Sonderstatus“, den das Judentum für das Christentum hat, nicht bestreiten will, „sondern es geht um eine differenzsensible Ausdehnung auf andere Religionen. Nicht um Relativierung, sondern um Extrapolation.“ Welch eigenartige Begriffswahl. Sie ist in ihrer äußerlichen Formalität schon irgendwie korrekt, aber ohne theologischen Inhalt und Empathie. Bernhardt redet von Israels Sonderstaus, was eine eigenartig schillernde Hohlformel bleibt. Er beteuert immer wieder an diesem Sonderstatus nichts ändern zu wollen. Er will Israels Bund „nicht einebnen“, „nicht reduzieren“ und „nicht relativieren“. So redet jemand, der sich gedrängt fühlt, sein Vorhaben verteidigen zu müssen. So redet nicht jemand, dem Israel oder die Erkenntnisse der Israeltheologie ein inneres Anliegen sind. Bernhardt hört sich so an wie: Ich trete dem Sonderstatus der Juden schon nicht zu nahe, wenn ich den Bund extrapoliere. Doch logisch betrachtet ist die Ausdehnung eines Sonderstatus ins Universale seine Aufhebung. Wenn alle im Sonderstatus sind, ist es keiner mehr. Credo quia absurdum.

4. Der Bund oder die Bünde
Die Grundlage für das Vorhaben der Extrapolation, der Ausdehnung des Bundes Gottes mit Israel auf andere Religionen, erblickt Bernhardt in der Bibel. Wir schauen uns seine Belegstellen genauer an.

a) Christusbund oder der neue Bund für Israel
Im Neuen Testament gehe es um das Verhältnis des Christusbundes zum Sinaibund, wie die Passahmahl-Worte Jesu angeblich zeigen: „Dieser Kelch ist der neue Bund in meinem Blut, das für euch vergossen wird“ (Lk 22,20; 1.Kor 11,25). Für Bernhardt sind diese Deuteworte ein Beleg dafür, wie Gott immer wieder Bundesschlüsse mit den Menschen initiiert. Genau besehen dürfte die Sache ein wenig komplexer sein. In den Worten Jesu wird nämlich der in Jer 31,31 Israel verheißene neue Bund aufgerufen bzw. erinnert und als in der Hingabe Jesu für die angesprochenen Apostel aktualisiertes Verheißungsgeschehen an Israel ausgelegt. Der erste Satzteil spricht von der Verheißung des neuen Bundes für Israel, die im Blute Jesu lebendig sei. Der anschließende Relativsatz knüpft aber nicht beim neuen Bund an, sondern bildet einen eigenen Schwerpunkt, indem er sich an die angesprochenen Jünger richtet (für euch vergossen). Das Blut Jesu ist für die Jünger hingegeben, d.h. sie werden in das Leben, die Verwirklichungsgeschichte der Verheißung für Israel als Gesandte Jesu hineingenommen. Aus den Jüngern werden die Apostel. So erweckt die Lebenshingabe Jesu „für euch“ seine Jünger dazu, dass sie als seine Apostel ein Verkündigungsgeschehen in der Völkerwelt vorantreiben, das Israel zugute kommen wird, weil es die Israel verheißene Wirklichkeit des neuen Bundes der Erfüllung nahe bringen soll. Wie im Einzelnen auch immer. (2) Die Mahlworte Jesu sprechen in keinem Fall von einem Christusbund, sondern von der Hoffnung auf Verwirklichung der Verheißung des neuen Bundes für Israel unter Mithilfe der Apostel, der Kirche Jesu Christi.

b) Der Bund mit Noah
Weiterhin weist Bernhardt auf den Bund mit Noah. Aber dieser Bund mit der ganzen Schöpfung ist hingeordnet auf den Bund Gottes mit Israel. Bernhardts Problem oder Irrtum liegt darin, die Bundesschlüsse der Bibel additiv zu verstehen. Dagegen sind sie aufeinander bezogen und ergänzen sich zu einer Art Bundes-Komplex mit Israel. Der Noahbund legt den Grund für die Geschichte Israels, die mit dem Bund Gottes mit Abraham beginnt. Die Deuteworte Jesu aktualisieren dessen Verheißungen zur alle Völker erfassenden Reich-Gottes-Verkündigung (Mt 28,19f; Lk 22,18). Der Noahbund ist am besten mit der Formel Karl Barths von der Schöpfung als dem äußeren Grund des Bundes und dem Bund als dem inneren Grund der Schöpfung auszulegen. Aber auch die rabbinische Tradition fragt nach dem Grund oder Ziel der Schöpfung und findet es in Israel, der Thora oder dem Gottesdienst. (3) Dementsprechend wäre der Bund mit Noah die Vorbereitung für den Bund mit Israel. Denn der Bestand der Schöpfung ist die Voraussetzung für die Bundesgeschichte mit Israel, deren messianisches Ziel die Befreiung der Menschheit zum Frieden auf Erden ist (Jes 2,4; Lk 3,14).

c) Der Bund mit Abraham
Auch dieser Bund ist nicht einfach ein zusätzlicher, sondern er ist die Vorgeschichte zum Sinaibund. Abraham erhält die Verheißungen (Land, Volk, Völkerversöhnung; Gen 12,1-3), um deren Verwirklichungsgeschichte es beim Sinaigeschehen entsprechend der neuen geschichtlichen Situation, in der sich Mose im Unterschied zu Abraham bewegt, geht. Nun handelt es sich um die beginnende Verwirklichung der Verheißungen „des Gottes Abrahams, Isaaks und Jakobs, der hat mich (Mose) zu euch (Israel) gesandt“ (Ex 3,15): Die Verheißung der Geburt eines großen Volkes aus den Nachkommen Abrahams hat sich verwirklicht. Die Volkwerdung Israels ist die Voraussetzung für den Empfang der Thora. Ihr Besitz wiederum die für die Besiedlung eines Landes. Die Landverheißung beginnt sich nach dem Sinaibund und dem 40jährigen Zug durch die Wüste mit Josuas Überquerung des Jordans zu verwirklichen. So erscheint es sinnvoll, dass zum Abschluss des Pentateuchs Josua im Rückblick auf diese Befreiungs- und Erwählungsgeschichte Israels den Bund mit allen Stämmen Israels feierlich erneuert (Jos 24). Nicht nur der ewige Bund soll in Israel erinnert werden. Auch die Verheißung der Völkerversöhnung soll von Israel aus an die Heiden ergehen. Sie wird ausstrahlen von zum Priestervolk bestimmten Israel hin zu allen Völkern (Ex 19,5f; Jes 61). In der Bibel geht es, indem von mehreren Bundesschlüssen erzählt wird, um die Geschichte Gottes mit seinem einzigen erwählten Volk. In dieser Bundesgeschichte werden die Zusagen an Abraham (Gen 12,1-3), die sowohl Israel als auch den Völkern gelten, bestätigt, erneuert, aktualisiert oder erfüllt. (4) Weil es in allen Bundesschlüssen der Bibel im Kern um die Geschichte des erwählten Volkes geht, kann man zusammenfassend von dem einen Bund Gottes mit Israel sprechen, den die Bibel bezeugt, der aber vom Heil für die Menschheit kündet.

5. Verlorene Dimensionen
Für Bernhardt spielt die Bezogenheit der biblischen Bünde aufeinander offenbar keine Rolle. Er liest das biblische Zeugnis wohl nur von der Seite seines universalen Horizontes her. Die dazugehörige Partikularität Israels fällt unter den Tisch. Sie hat lediglich ein Echo in den unausgeführten Beteuerungen, die Besonderheit des christlich-jüdischen Verhältnisses nicht relativieren zu wollen. Dadurch zerfällt ihm die Komplexität der biblischen Bundesgeschichte Israels zu einem rein summarischen Tatbestand von untereinander isolierten Bundesschlüssen, der unter dem inhaltslosen Gesichtspunkt der numerischen Vollständigkeit sicherlich noch großer Ergänzung bedarf. So entgleitet Bernhardt neben der Komplexität des biblisch bezeugten Bundesgeschehens auch, dass der universale Horizont in der Partikularität des Bundes mit Israel verankert ist. Daneben blendet Bernhardt auch aus, dass der Bund mit Israel einen ethischen Inhalt hat, die Thora. Eine Kompatibilität anderer Religionen mit Israels Bund müsste auf einem Vergleich ihrer Zukunftshoffnungen mit Abrahams Hoffnung und ihrer ethischen Zentralaussagen mit der Thora beruhen.

6. Partikularität und Universalität
Obwohl der Bund mit Israel einmalig, unwiederholbar und exklusiv, also ewig ist, gibt es an ihm eine Tür, durch die alle Völker eintreten können, so wie sie in den Tempel eintreten können, dem Bethaus für alle Völker (Jes 56,7; Mk 11,17; 1Kön 8,41ff). Das Neue Testament spricht von der Tür zum Glauben (Apg 14,27), zum Vertrauen in die Verheißungen Abrahams (Röm 4,9-18), eine Tür, die offen steht seit Abraham zum Vater vieler Völker erwählt wurde (Gen 17,5; Röm 4,16f). Abrahams Erwählung ist partikular und universal zugleich. Seine partikulare Erwählung hat einen universalen Horizont; der Bund mit Abraham begründet Israel und bezieht sich auf die Menschheit. Die universale Hoffnung hat partikularen Bezug; sie hat in Abraham, dem Freund Gottes (Jes 41,8; Jak 2,23), weil er den Verheißungen unerschütterlich vertraute, einen geschichtlichen Anker; der Erzvater Israels ist das reale Unterpfand für die an ihn ergangenen Verheißungen. Deshalb heißt es: „Mit deinem Namen werden sich Segen wünschen alle Geschlechter der Erde“ (Gen 12,3).
Ohne diesen bleibenden partikularen Bezug würde die universale Hoffnung auf Erlösung und Versöhnung, die in der Menschheitsgeschichte immer wieder erwacht, von den dröhnenden Stiefeln der Imperien endgültig zertreten werden. Einem Volk aber, den Nachkommen Abrahams, sind mit der Thora auch die Verheißungen in die Wiege gelegt. Die Juden sind auf sie beschnitten, als Volk mit einem Gottessiegel versehen (Röm 4,11). Verkettet mit der Ewigkeit des jüdischen Volkes, dessen Geschichte eine Leidensgeschichte für die Verheißungen und die Thora ist, wird die Hoffnung auf Versöhnung nicht untergehen können, sondern sie behält mit Abraham als realem Unterpfand einen ewigen Anker, aufgrund dessen die Hoffnung auf eine Revolutionierung aller ungerechten Verhältnisse lebendig bleibt und immer wieder auferstehen kann. (5) Der Bund Gottes mit Israel ist das leidensbereite Trotzdem des einen Wortes Gottes gegen die blutverschmierte, hungernde und schicksalsgläubige Hoffnungslosigkeit der Welt. (6)
Ohne die universale Verheißung wäre die partikulare Erwählung Israels für die Menschheit leer und bedeutungslos. Ohne die partikulare Erwählung hätte die universale Hoffnung keine dauerhafte geschichtliche Verankerung und wäre nur wie eine Nussschale auf den Wogen des Ozeans der Geschichte. (7)

7. Ein Dritter im Bunde? - Das Verhältnis zum Islam
Bernhard schlägt im Rahmen eines Konzeptes der abrahamitischen Religionsökumene eine Familiarisierung von Juden, Christen und Muslimen vor, weil jede der drei Religionen Abraham für sich reklamiert. Er konzediert Schwierigkeiten dieses Konzeptes, weil es für die drei Bezüge auf Abraham keinen übergreifenden Gemeinsamkeitsgrund gebe. Dennoch sieht er eine Möglichkeit, „die Muslime als 'Dritten im Bunde' in den Zweierbund mit Juden und Christen aufzunehmen.“ Denn Isaak und Ismael sind beschnittene Söhne Abrahams, „beide gehören zum Bund Gottes.“ Biblisch ist das nicht mehr. Es bleibt Bernhardts Geheimnis, wie er eine derart divergente Tradition wie den Islam gegen den Wortlaut des biblischen Zeugnisses zu Partnern im Bund erklären kann, eine Tradition, die an zentraler Stelle dem biblischen Bundesgedanken ausdrücklich widerspricht (Sure 2,118). (8) Ismael ist nach der Thora zwar Erstbeschnittener, er wird auch gesegnet. Aber der Bund bleibt ausdrücklich bei Isaak (Gen 17,19-21).
Einen zweiten Ansatz für das abrahamitische Dreiermodell erblickt Bernhardt in dem scheinbar gleichberechtigten und parallelen Zugang der drei Religionen zu Abraham, die ihn einmal als Erzvater, dann als Ur-Christ und schließlich als Ur-Monotheist sehen. Ist Abraham für das Neue Testament wirklich der Ur-Christ? Die dafür angeführte Stelle bei Johannes 8,58: „Ehe Abraham ward, bin ich“ ist jedoch keine Aussage über Abraham als religiösen Typus, sondern eine über die Präexistenz Christi. Nach dem Neuen Testament geschieht das messianische Befreiungswerk des Sohnes Gottes, das die Verheißungen Abrahams bekräftigt und neu aktualisiert, aus dem ewigen Willen Gottvaters, der die Welt eben zu dem Zweck einer freien Menschheit geschaffen hat. Im Befreiungswerk des Messias Jesus wird also sichtbar, wozu Gott die Welt geschaffen hat. Insofern ist Christus die rechte Hand des Willens Gottes (sitzend zur Rechten Gottes) und deshalb vor Erschaffung der Welt und vor Abraham, mit dem das Befreiungswerk auf dem Boden der Schöpfung geschichtlich beginnt. Dem entspricht, dass Gott durch Jesus Christus die Verheißungen an Abraham bestätigt (Röm 15,8).

8. Abrahamskindschaft und Reich-Gottes-Botschaft statt weiterer Bünde
Bernhardts Anliegen einer Nutzbarmachung der Israeltheologie für eine interreligiöse Theologie können wir wie folgt zusammenfassen. Er verweist auf die vielen Bundesschlüsse der Bibel und ihre universale Perspektive: „In all dieser Bundesgeschichte Gottes geht es um den Erweis der erwählenden Güte und Treue Gottes, die Leben ermöglicht und letztlich die ganze Schöpfung in der Gemeinschaft mit seinem Gott hält.“ Dabei spielt er diesen zweifellos gegebenen Horizont gegen die Partikularität der Erwählung Israels aus, wie folgender Satz im unmittelbaren Kontext deutlich macht: „Das Modell der 'Abrahamitischen Religionsgemeinschaft'... weist zurecht darauf hin, dass der Bundeswille Gottes über das Volk Israel hinausgeht.“ Dementsprechend bestünde das Reich Gottes für Bernhardt in der Vollzahl der Bundesschlüsse Gottes mit allen Völkern einzeln. Sein Irrtum liegt darin, den Bundeswillen Gottes mit seinem universalen Heilswillen zu identifizieren, statt beide ineinander zu begründen, nämlich so: Gottes Treue zu seinen universalen Verheißungen hat ihren Grund in der Partikularität des ewigen Bundes mit Israel und die partielle Erwählung Israels hat ihr Ziel in der Universalität der im Namen Abrahams gesegneten Menschheit, dem Reich Gottes.
Im Neuen Testament beginnt das Reich Gottes, wo Juden und Nicht-Juden gemeinsam den Gott Israels preisen (Röm 15,8-12). Die versöhnte Völkerökumene von Israel mit den anderen Völkern ist für Paulus das Ergebnis der Mission der Apostel unter den Völkern. Das Reich Gottes ist nicht, wie für Bernhardt, die Vollzahl der Bundesschlüsse Gottes mit allen Völkern oder Religionen, die die Erwählung und Berufung Israels zum Verheißungsträger und Licht aller Völker (Jes 49,6; Röm 3,1f) überflüssig machen würde. Augenscheinlich geht es um zwei einander ausschließende Konzepte vom irdisch-geschichtlichen Handeln Gottes. Für Bernhardt wirkt Gott durch eine Folge von vertikalen Aktionen, den Bundesschlüssen mit jedem Volk oder jeder Religion einzeln bis zu ihrer Vollzahl. Anders das biblische Zeugnis. Es bezeugt eine einzige vertikale Offenbarungs- oder Bundesbeziehung, den Bund mit Israel und seine Geschichte, und die von ihm ausgehende horizontale Wirkung in die Menschheitsgeschichte hinein. Von solchen Wirkungen im Umkreis Israels berichtet schon das Alte Testament (Gen 21,22-34; Ex 18) und erwartet die entscheidende, die Völkerwelt in ein Friedensreich verwandelnde Wirkung, die vom Zion ausgehen wird, für eine fernere Zukunft (Jes 2,1-5). Gemäß dem Neuen Testament bekräftigt der Gott Israels im Messias Jesus die Verheißungen Abrahams erneut (Lk 1,54f; 1,73; Joh 8,58 (s.o.!); Röm 15,8) und kündigt das Reich Gottes mit einer Vielzahl von Gemeinden aus jüdischen und heidnischen Kindern Abrahams an (Gal 3,29).

9. Das Heil kommt von den Juden (Joh 4,22)
In den Verheißungen des Bundes Gottes mit Israel hören die Völker aller Epochen vom messianischen Ziel der Menschheitsgeschichte, d.i. von ihrer Erlösung oder ihrem Heil (= griech. sootheeria = Errettung), dem Reich Gottes. Die Apostel des Gesalbten Jesus öffnen ihnen durch ihr Wort vom Reich Gottes Ohren und Herzen und den Zutritt zur Abrahamskindschaft. Das Reich Gottes kommt nicht in einer Vielzahl separater Bundesschlüsse quasi an Israel vorbei, sondern allein von den Juden. Denn die Hoffnung auf ein alle Geschöpfe erlösendes Friedensreich ist eine Idee vom Heil, die nur das Judentum kennt und wegen ihrer Verwurzelung in ihm auch die Kirche. Insofern bedeutet der Eintritt von Heiden in Abrahamskindschaft einen radikalen Kulturwechsel, konkret ihre Judaisierung. Durch ihr Vertrauen auf die Verheißungen oder das kommende Friedensreich Gottes setzen sich die Völker in ein positives Verhältnis zum Gott Israels und in ein kritisches zu ihren heidnischen Nationalidentitäten. Sie wissen, dass sie an den Verheißungen des Bundesvolkes nur Anteil bekommen haben, weil Gott seinem Volk bis dato die Treue hielt. Sie wissen um Israels unersetzbare heilsgeschichtliche Funktion, die darin besteht, durch seine ewige Existenz dafür zu sorgen, dass die Verheißungen und Weisungen der Thora nicht im Schlachtengetümmel der Völkergeschichte untergehen, sondern für alle Menschen zugänglich bleiben. Im Vertrauen auf die Verheißungen Abrahams oder im Reich-Gottes-Glauben gibt es einen Zugang zum Entscheidenden, zur Anteilhabe an der Hoffnung auf Erlösung. Ein weiterer Bund würde, auch bei bestem theologischen Wollen, die heilsgeschichtliche Konzeption des biblischen Zeugnisses unterminieren. Er würde die einzigartige Bedeutung des Judentums für die Menschheit und die einzigartige Botschaft seiner Bibel, die die Treue Gottes zu seiner universalen Verheißung mit der Treue zu seinem einzigen und ewigen Bundesvolk begründet, negieren.

10. Die Bundesfrage ist die Gottesfrage
Die Frage nach dem Handeln Gottes haben wir bisher so gestellt: Handelt Gott durch den Bund mit einem Volk oder durch Bundesschlüsse mit vielen Völkern? Wir können sie aber auch so wenden: Geht es, weil Gott sich in seinem geschichtlichen Handeln ja offenbart, bei der Bundesfrage nicht um die Gottesfrage?
Die Idee von einem Gott, der mit allen Völkern Bünde schließt, erscheint mit dem biblischen Zeugnis von Gott schwer vereinbar. Wäre der Gott eines solchen Konzeptes noch der Gott Israels? Auch wäre zu fragen, ob Gott, wenn er viele Bünde eingeht, nicht in ebenso viele Volksgötter zerfallen würde und dann nur der Gott des jeweiligen Volkes wäre? Außer er würde allen Völkern ebenfalls die Thora zum Bundesschluss geben. Aber welchen Sinn kann das haben, wenn die Thora schon auf der Welt ist?
Oder welches Volk, welche Religion wäre überhaupt bereit mit dem Gott der Juden einen Bund zu schließen? Oder mit welchen der vielen ihre Diktatoren liebenden und nationalistischen Völker würde der barmherzige und gerechte Gott einen Bund eingehen wollen? Und zu welchem Zweck?
Außerdem: Geht ein Bundesschluss nicht auf eine Initiative Gottes zurück, so dass wir es Gott schon selber überlassen müssen, mit wem er einen Bund eingehen mag? Wir können nur danach fragen, mit wem Gott wirklich einen Bund eingegangen ist. Uns bleibt doch nichts anderes übrig, als uns an den bundesgeschichtlichen Konkreta zu orientieren, an dem was Gott getan hat und wir sollten nicht versuchen, eine Theologie an den Gottesfakten vorbei oder über sie hinaus zu entwickeln. Ihre Grundlage wären nicht die von Gott geschaffenen Tatsachen, sondern unsere religiösen Wünsche und theologische Spekulation. Es gibt unter all den vielen Völkern, Indern, Chinesen, Deutschen, Arabern usw. eben ein erwähltes Volk. Es gibt ein Volk, mit dem Gott einen ewigen Bund geschlossen hat: die Juden. Und darüber hinaus gibt es kein weiteres. Wie sollten wir daran etwas ändern können wollen? Gegen das theologische Faktum der Existenz dieses einen Bundesvolkes ist alles theologische Wollen mit dem Wunsch nach weiteren Bünden machtlos und eitle Theorie. Ein anderes konkretes Faktum, das wir bedenken sollten, ist, dass Gott genug berufenes, nur leider oft unwilliges Bodenpersonal, die Kirche, hat, um die von Israel ausgehenden, in ihrer Gerechtigkeit revolutionären Verheißungen bekannt zu machen, zu verbreiten.
Die EKD schreibt in ihrer Studie „Christen und Juden III“: „Darin, dass ihm (scil. Israel) der Bund geschenkt ist, unterscheidet sich Israel von den 'Völkern'. Zugleich wird damit der Bund Gottes mit Israel zum Identitätszeichen Gottes selber.“ (9) Sie stellt auch fest, „dass Gottes Bund mit seinem Volk über dieses hinaus auf das Heil für alle Menschen zielt.“ (10)
Wir hoffen aufgezeigt zu haben, dass die Frage nach einer Ausweitung des Bundes mit Israel oder der Israeltheologie ins Leere geht, weil sowohl im Israelbund wie in der Israeltheologie der nachgefragte universale Horizont schon enthalten ist.

 

  1. BlickPunkt.e Nr. 6, Dezember 2017, S. 17. Alle Zitate ohne Angabe in diesem Aufsatz entstammen dem Vortrag.

  2. Es handelt sich bei den Passahmahlworten Jesu nicht schon um die Aussendung der Apostel, sondern um die Einsetzung der Jünger in dieses Amt. Jesus hat sein Blut hingegeben für sie, seine Jünger und für die Vielen, die Völker (Mt 20,28; 26,28; Mk 10,45). Zusammengeführt wird beides durch den vom Auferstandenen ausgehenden Sendungsbefehl an seine Jünger zu den Völkern zu gehen (Mt 28,19). Dass das Ganze ein Geschehen für Israel und die ihm verheißene Zukunft ist, sagt der liturgische Rahmen des Passahmahles aus und die exegetische Verbindung zu 2Mose 24,8 und Jes 53,10-12.

  3. KD III/1, S. 103.258; wir übernehmen aber nicht Barths christologische Zentrierung. Siehe D. Krochmalnik, Im Garten der Schrift, Wie Juden die Bibel lesen, S. 116F

  4. Gen 12,1-3 ist eine dreigliedrige Verheißung. Sie umfasst die Verheißung eines Landes (1), die Verheißung eines Volkes aus Abrahams Nachkommen (2) und die Völkerversöhnung zu einer sich in Abrahams Namen Segen wünschenden Menschheit (3). Diese Verheißungen bilden von Anfang den Horizont, auf den Gottes Verheiißungs- und Bundesgeschichte mit Israel zuläuft und auf den die Propheten und auch der Messias Jesus sich beziehen.

  5. Durch Passion und Auferstehung Jesu Christi sind die Gläubigen aus den Völkern (Christen) unter den Horizont der die Völkerwelt revolutionär verändernden Verheißungen Abrahams gekommen (Lk 1,51-55; Röm 4, 16-18).

  6. „...welcher gegen alle Hoffnung auf Hoffnung hin glaubte, damit er der Vater vieler Völker würde“ (Röm 4,18; Gen 17,5)

  7. Aber diese Verankerung in Abraham ist kein beweisbares objektives Faktum, sondern Inhalt des glaubwürdigen Zeugnisses der Bibel, dem nur geglaubt werden kann.

  8. K. P. Lehmann, Abraham – ein biblisches Vorbild – wofür?, Blickpunkt.e Nr. 5 / Oktober 2016, S. 19

  9. Christen und Juden III, Eine Studie der EKD, Gütersloh 2000, S. 26

  10. a.a.O., S. 27

Klaus-Peter Lehmann, Jg. 1946, studierte Theologie bei Gollwitzer und Marquardt und war bis zu seinem Ruhestand Pfarrer der Nordelbischen Kirche in Hamburg. Aktiv im jüdisch-christlichen Dialog mit zahlreichen Veröffentlichungen in kirchlichen Zeitschriften und Buchveröffentlichungen. Er lebt seit 2005 in Augsburg.

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