Diplomat, Flucht- und Flüchtlingshelfer:
Pfarrer Adolf Freudenberg

von Martin Stöhr

I
Krieg, Völkermord, Flucht und Vertreibung – Schlüsselerfahrungen im 20. Jahrhundert

Heute Abend begegnen wir einem Christenmenschen, dabei gewinnen wir auch einen Blick auf die europäische Geschichte des letzten Jahrhunderts und auf die Entstehung der ökumenischen Bewegung.

1968 erscheint in Frankreich ein Buch unter dem Titel “Les Clandestins de Dieu” – (Die Untergrundarbeiter Gottes). Untergrundarbeit im 2. Weltkrieg meint: Verfolgte und heimatlose Menschen benötigen rettende Hilfe und finden sie durch Menschen, die sehen was notwendig ist, die Mut haben, so schnell nicht aufgeben und „Gott mehr gehorchen als den Menschen!“ (ApGesch 5,29). Und das in einer Situation, in der die Öffentlichkeit gerade nicht öffentlich lebendig ist, sondern eher wegschaut, wenn ein Staat Unrecht tut und duldet. Diese Flüchtlingsarbeit beginnt mit denen, die nach dem Spanischen Bürgerkrieg aus der Franco-Diktatur nach Frankreich geflohen sind. Sie erweitert sich rasch auf die grossen Zahlen rassistisch oder politisch von den Nazis in Europa Verfolgten. Frankreich steht für Freiheit und Menschenrechte und erscheint deshalb vielen als rettender Hafen.

(Franco hatte mit Hilfe der deutschen Luftwaffe - man erinnere sich an Pablo Picassos Gemälde „Guernica“! - die Opposition unterdrückt, ins Ausland verjagt oder ermordet. Die deutsche Legion Condor mischt sich in den spanischen Bürgerkrieg ein, um die neu aufgerüstete deutsche Luftwaffe ab 1937 auch für die spätere Zerstörung Warschaus, Rotterdams, Coventrys, Kretas oder Minsks ebenso früh wie realistisch einzuüben. Die mörderische Folge dieses Testkrieges in Spanien war die Zerstörung fast aller deutschen Städte.)

Das Buch über die „Untergrundarbeiter Gottes“ im Zweiten Weltkrieg steht unter dem biblischen Motto

„Befreie, die zum Tode geschleppt werden,
und die zur Schlachtbank wanken, rette sie doch!
Wolltest du sagen: „Wir wussten das nicht“ –
Wird er, der die Herzen prüft dich nicht durchschauen?
Er, der auf deine Seele achtet, er weiss es
Und vergilt dem Menschen nach seinem Tun.(Sprüche Salomos 24,11+12)

Das Buch ist gemeinsam von Deutschen und Franzosen verfasst, von Frauen und Männern aus beiden Nachbarländern, die sich gemeinsam um Flüchtlinge kümmern, als ihre Nationen bitter verfeindet sind. Es wird herausgegeben von Adolf Freudenberg.

Er ist - nach dem Gründer des Heilsbergs, Pfarrer Otto Fricke, - der erste Gemeindepfarrer unserer heute genau vor 60 Jahren gegründeten Heilig-Geist-Gemeinde. Das Buch berichtet von einer ökumenischen Kooperation zur Rettung derer, die gedemütigt, gejagt oder in den Tod getrieben werden. Aber es verschweigt die Tatsache nicht, dass auch in der Verfolgung Deutsche und Franzosen teilweise zusammenarbeiten, nachdem Frankreich überfallen und besiegt worden war. Marschall Pétain, der Held des Ersten Weltkrieges, bildet eine hilfswillige Satellitenregierung des Deutschen Reiches.

Das Buch enthält eindrucksvolle Dokumente von einer jahrelangen Hilfe zur Flucht und zur Hilfe für Flüchtlinge. Es schliesst, nach einem Ausdruck Freudenbergs, neben dem Schmuggel von Geld und Hilfsgütern auch „Menschenschmuggel“ aus Verstecken und Lagern in die Schweiz ein. Es erzählt von Opfern, die nicht überleben, lässt die wenigen Überlebenden zu Wort kommen wie die Helferinnen und Helfer.

(„Rettet sie doch“ heisst die deutsche Ausgabe Zürich 1969, in einer zweiten Auflage „Befreie, die zum Tode geschleppt werden“, München 1985)

Die, die auf französischer Seite helfen, sind meistens Frauen, sie kommen aus den Jugendorganisationen der französischen protestantischen Kirche. Ihr entscheidender Partner im nicht von der deutschen Armee besetzten Europa ist der frühere Diplomat und jetzige evangelische Pfarrer Adolf Freudenberg. Er ist der Beauftragte des sich gerade bildenden Ökumenischen Rates oder Weltrates der Kirchen (ÖRK). Aus ihm sollte später, nach dem Krieg ab 1948 in Amsterdam, ein Zusammenschluss aller nicht römisch-katholischen Kirchen werden. Doch der ÖRK lebt in der Flüchtlingsarbeit im Krieg schon als ein äusserst aktiver Kern. Ökumene beginnt als ökumenische Diakonie. Vorformen des ÖRK (heute über 330 Mitgliedskirchen) hatten sich seit dem 19. Jahrhundert schon entwickelt, vor allem in den christlichen Jugendorganisationen.

(Ich nenne den Weltbund „Christlicher Vereine Junger Frauen“ (YWCA seit 1844); elf Jahre später entsteht der Weltbund der „Christlichen Vereine Junger Männer“ (YMCA seit 1855), beides sind Gründungen von Henri Dunant, der auch das Internationale Rote Kreuz ins Leben rief und die Anfänge des Internationalen Völkerrechts mit der Haager Landkriegsordnung voran brachte. Zu diesem ökumenischen Aufbruch gehören weiter der Christliche Studentenweltbund sowie die internationale Pfadfinderorganisation. Nicht zu vergessen sind der Internationale Versöhnungsbund, zu dessen Jugendsekretär 1931 der junge Theologe Dietrich Bonhoeffer gewählt wird. Einer der Vizepräsidenten war M. L: King, bekannte Mitglieder sind die Nobelpreisträger Albert Luthuli und Erzbischof Tutu aus dem Südafrika der Apartheid. Zu den Vorläufern des ÖRK gehört auch der Weltbund für „Praktisches Christentum“, eine Gründung des lutherischen Erzbischofs Nathan Söderblom aus Schweden.)

In der Solidarität mit Flüchtlingen lernt eine nonkonformistische Minderheit „Kirche ist nur Kirche, wenn sie für andere da ist!“. Manche der Beteiligten bezahlen mit ihrem Leben oder ihrer Freiheit. Es kommt zu Begegnungen mit Anderen, die „Fremde“ zu Freunden und Nächsten werden lassen. Feindbilder und Vorurteile werden verlernt. Die Mehrzahl nicht nur der Christen und Kirchen in allen Ländern trägt noch die Scheuklappen nationaler Enge und Angst. Dergleichen erleichtert das Wegsehen wie das Schiessen.

Man kann sagen, dass die europäische Vereinigung unter den Häftlingen in den Internierungs- oder Vernichtungslagern beginnt, im Widerstand und in der Kooperation von Helferinnen und Helfern aus verschiedenen europäischen Ländern. Es lohnt sich, die damals Aktiven nicht zu vergessen. Von ihrem Mut und ihrer Phantasie für Liebe und Gerechtigkeit damals können wir heute lernen, damit nicht noch einmal Menschen übersehen, ausgegrenzt, diffamiert und schliesslich verfolgt werden, damit die Verantwortung für Frieden und Gerechtigkeit gegen Hass und Unrecht eine grössere Chance haben als in der Generation unserer Grosseltern und Eltern.

Das Hilfsprogramm zeigt: Man kann etwas tun. Die Voraussetzung ist eine sehr einfache Grundhaltung: Mein Mitmensch ist mir nicht gleichgültig, Ich habe einen menschlichen Kompass, der aus der biblischen Tradition stammt. Ich halte die selten vorkommende, aber durchaus erlernbare  Zivilcourage für wichtiger als die massenhaft und jahrhundertelang praktizierte Militärcourage und Staatshörigkeit. Nationalismus zerfällt im ökumenischen Internationalismus, und Abgrenzung in Offenheit.

Es ist klar, dass die kleine Gruppe evangelischer HelferInnen zusammenarbeiten wollen und müssen mit jüdischen, katholischen und sozialistischen Hilfsorganisationen. Diese werden dementsprechend zu Partnern des Flüchtlingsdienstes des ÖRK und seines Flüchtlingsbeauftragten Adolf Freudenberg.

II

Über Adolf Freudenberg

Wer ist Adolf Freudenberg? Er wird im Jahr 1894 in Weinheim an der Bergstrasse geboren, wo seine Familie aus einer Gerberei einen heute international agierenden Betrieb aufgebaut hatte. Er ist das achte Kind in der Geschwisterreihe von zehn Kindern. Er macht eine Lehre in der Schweizer Schuhfabrik Bally. Als der erste Weltkrieg ausbricht, wird er 1914 Soldat. Ein Bruch in seinem Leben. Nach dem Krieg – die Wirtschaftslage vieler Betriebe ist unsicher – entschliesst er sich, Jura zu studieren. Seine Doktorarbeit beschäftigt sich mit der völkerrechtlichen Situation von Danzig.

Nach dem Studium tritt er in den diplomatischen Dienst der jungen Weimarer Demokratie. Das ist eine keineswegs selbstverständliche Entscheidung, da die Mehrheit der Deutschen, vor allem ihre „Eliten“ in Universitäten, Militär, Beamtenschaft, Medien  und Kirche, die Demokratie ablehnen und lieber der alten Monarchie und der Einheit von Thron und Altar nachtrauern.

1922 schliesst Freudenberg das Studium ab. Es ist das Jahr in dem der auf einen demokratischen Ausgleich zwischen den Kriegsführenden des Ersten Weltkrieges bedachte Aussenminister Walter Rathenau von zwei Reichswehroffizieren mit Waffen der Reichswehr ermordet wird – unter dem Ruf „Schlagt sie tot, die Judensau, den gottverdammten Rathenau!“

In Rom putscht sich im selben Jahr Mussolini, der spätere Verbündete Hitlers, mit seinen Faschisten an die Macht. Freudenberg bekommt in diesem Jahr seine erste Stelle an der Deutschen Botschaft in Rom, und zwar im Kulturreferat. Anschliessend wird er in die Zentrale des Reichsaussenministeriums zurück berufen, um sich um die Ausbildung junger Diplomaten zu kümmern. Das ist eine verantwortungsvolle, demokratische Aufgabe, da die alte Garde der Diplomaten mehrheitlich gegenüber der Weimarer Demokratie mehr als zurückhaltend ist – um es „diplomatisch“ auszudrücken.

Deutschland bewegt sich in diesen Jahren nach rechts. Der unfaire Versailler Friedensvertrag und die hohen Reparationen an die Siegermächte liefern den Rechtsparteien Munition für ihre demagogische Propaganda. Die sog „Dolchstosslegende“ behauptet in Deutschland, die deutsche Armee sei im Felde unbesiegt, die feige Heimatfront sei ihr aber in den Rücken gefallen. Zu Sündenböcken werden die Juden und die Linken gemacht. Sie seien an allem schuld. Die Wahrheit hat es schwer, nationale und rassistische Feindbilder haben es leicht.

Die Situation spitzt sich in der Weltwirtschaftskrise zu. Eine von Deutschlands Bevölkerung frei gewählte Mehrheit aus NSDAP und Deutschnationaler Volkspartei gibt Hindenburg die Handhabe, Hitler zum Reichskanzler zu ernennen. Bald sind die Grundrechte ausser Kraft gesetzt, die Opposition verhaftet oder vertrieben. Im Reichstag stimmt nur die SPD gegen das Ermächtigungsgesetz. Die Kommunisten sind schon verhaftet. Es ist erstaunlich, wie rasch sich fast alle gesellschaftlichen Institutionen „gleichschalten“ lassen - so nennt man die Selbstpreisgabe des Gewissens an die herrschende Macht.

Die Nazis hatten gemeinsam mit den Kommunisten 1931 im Reichstag die Absicht der Weimarer demokratischen Regierung abgelehnt, nach bereits fertig vorliegenden Plänen Autobahnen zu bauen, um die Arbeitslosigkeit abzubauen. Diese Weimarer Pläne greift Hitler jetzt als seine Idee auf. Er fügt ein gewaltiges Aufrüstungsprogramm hinzu, um seine Eroberungspläne im Osten vorzubereiten.

Die Arbeitslosigkeit sinkt, die Zahl seiner Anhänger steigt. Die „Rechnung“ wird im und nach dem Zweiten Weltkrieg serviert. Auf ihr erscheinen über 50 Millionen Tote, ein zerstörtes Europa, Flucht, Vertreibungen. Das Letzte beginnt aber schon 1933 mit Diskriminierung und Verfolgung der Juden, der Roma und Sinti, der Homosexuellen und der politischen Opposition. Dazu dienen über 1000 Erlasse bis 1945. Alles soll seinen gesetzmässigen Gang gehen.

Von der Judengesetzgebung sind auch Christen und Christinnen betroffen, deren Vorfahren aus jüdischen Familien stammen und die sich taufen liessen. Davon lebten damals in Deutschland etwa 300 000. Sie finden wie religiöse oder säkulare Juden fast keine Hilfe in der deutschen Bevölkerung, auch nicht in ihren Kirchengemeinden.

Zu dieser Gruppe der durch die antisemitische Politik Bedrohten gehört Freudenbergs Frau Elsa, geb. Liefmann. Sie ist als kleines Kind getauft worden. 1920 hatten der Jurastudent und die Medizinstudentin geheiratet. Die Familie ist also „nichtarisch, dh jüdisch versippt“, wie es in der Sprache von damals heisst. Weder er noch seine Frau sind es nach der damaligen Sicht und Gesetzgebung wert, deutsche Volksgenossen zu sein. 1934 beschliesst Freudenberg freiwillig, seine Stelle im Auswärtigen Amt aufzugeben. Weder will er seine gefährdete Frau im Stich lassen noch als Diplomat weiter die rassistische und kriegstreiberische Politik Deutschlands vertreten.

Er zieht mit seiner Familie, zu der fünf Kinder gehören, in die Gemeinde Martin Niemöllers in Berlin Dahlem. Der ehemalige U-Boot-Kommandant Niemöller ist dort ein ebenso angesehener wie angefeindeter Pfarrer. Bis zu seiner Verhaftung 1937 hat der Prediger 40 Strafverfahren am Hals - wegen „staatsgefährdender Hetze“. Der Nobelpreisträger Thomas Mann veröffentlicht in den USA Niemöllers Predigten als Ausdruck eines mutigen, vom Evangelium geprägten Gewissens. In seinem Vorwort zeigt er, dass dieser Prediger sich nicht angepasst hat, sondern für Recht und Freiheit eintritt. Der Titel des englischen Buches heisst „God is my Fuehrer“.

Niemöller ist die im Ausland bekannteste Stimme der Bekennenden Kirche (BK), die in christlicher Freiheit sich gegen Unrecht und Gewalt erhebt. Ihn beeindruckt, so schreibt Freudenberg einmal, der „unerschrockene Freimut in der Vergegenwärtigung des Wortes Gottes inmitten von Feigheit und Opportunismus“, die er bei Niemöller und seinen Freunden von der BK findet.

Die BK versucht, nur auf „das eine Wort Gottes“, also auf Jesus Christus, zu hören und nicht auf die Stimmen aller möglichen Mächte und Gewalten, weder auf die der Nation, der Rasse oder die von Blut und Boden. So hatte es die Barmer Bekenntnissynode 1934 tapfer formuliert.

Die Evangelische Kirche ist zerrissen – in einen kleinen Teil der BK, in einen auch kleinen Teil von nazitreuen, sog. Deutschen Christen (DC), und in eine Mehrheit, die obrigkeitsfromm und unpolitisch sein will - auf Deutsch, die die Dinge laufen lässt. Martin Luther King hat einmal zu Recht gesagt, dass die Bösen in der Welt nicht durch ihre Bosheit und Stärke siegen, sondern durch das Schweigen der Guten.

Als Vierzigjähriger entschliesst Freudenberg sich, beruflich noch einmal ganz neu anzufangen. Er studiert Theologie, wird kurz verhaftet und erhält (14 Tage nach Niemöllers Verhaftung 1937) mit elf anderen Studenten Studienverbot im ganzen Deutschen Reich. Der Grund für ihr „strafwürdiges Verhalten“ ist, dass er an der illegal von der Bekennenden Kirche 1935 eingerichteten Kirchlichen Hochschule in Berlin studiert und zugleich auch Vorlesungen an der staatlichen Berliner Universität hört. Er beendet seine Ausbildung schliesslich in Basel. Die Friedrich-Wilhelm-Universität (heute Humboldt-Universität) teilt ihm mit, dass er mit den anderen 11 Studierenden „im Interesse von Staat und Volk von der hohen Betrauung mit kirchlichen Ämtern fern gehalten werden“ müsse. Dann heisst es in dem nach oben servilen, nach unten brutalen Rausschmiss des Rektors und seines Chefjuristen, dass gegen den Angeschuldigten Dr. Freudenberg „keine Milde“ walten könne, da er als „früherer Staatsbeamter“ die jüngeren Studenten „auf jeden Fall zur Beachtung staatlicher Anordnungen hätte auffordern müssen.“ Dass er das nicht tat, „macht ihn ungeeignet, künftig hin als Seelsorger tätig zu sein.“

Er wird vom illegalen Prüfungsamt der BK geprüft, wird Vikar in Neustadt an der Dosse, macht aber auch bittere Erfahrungen, dass die Solidarität in Kirche und Gesellschaft mit den sog. „Nichtariern“ ganz, ganz schwach entwickelt ist. Öffentlich wird ihnen immer wieder Berufsverbot, Vertreibung oder gar Tod angedroht.

Nachdem 1938 die jüdischen Gotteshäuser in fast allen Dörfern und Städten verwüstet oder niedergebrannt sind und es kaum Widerspruch dagegen gibt, wird er zum Mitarbeiter des Pfarrers Heinrich Grüber. Dessen Berliner Büro ist eine Anlaufstelle für „rassisch“ Verfolgte und hilft bei Flucht oder Auswanderung. Etwa 5000 Juden und Christen jüdischer Abstammung werden gerettet. Grüber landet im KZ, überlebt – sein Nachfolger Sylten wird in Dachau ermordet.

Auch für Freudenberg wird der deutsche Heimatboden heiss. Als ehemaliger Diplomat bekommt Freudenberg den Auftrag der BK und des „Büro Grüber“, das Schweizerische Ev. Hilfswerk und den anglikanischen Bischof Bell in London zu informieren. Vor allem sollen die kirchlichen und jüdischen Hilfsstellen im Ausland zur Hilfe motiviert werden, den Massen nicht nur deutscher Flüchtlinge zu helfen, die versuchen, ihr gefährdetes Leben ins Ausland zu retten. Es gilt, Länder zu finden, die Flüchtlinge aufnehmen  und deutsche Behörden, die sie ausreisen lassen.

Die Ökumene-Zentrale in Genf meint, in ihm den „richtigen Mann“ (so der damals designierte, später gewählte Generalsekretär des ÖRK Willem Visser`t Hooft) für die internationaler Flüchtlingshilfe mit Sitz in London gefunden zu haben. In einem Fürbittgottesdienst für alle Verhafteten der BK und für die, die in Deutschland nicht mehr leben können bzw dürfen, verabschiedet die Dahlemer Kirchengemeinde Familie Freudenberg. Propst Grüber schreibt, er habe den „denkbar besten Eindruck von ihm und seiner (Flüchtlings-) Arbeit“ gewonnen.

Der Kriegsausbruch 1939 überrascht die Familie im Urlaub in der Nähe von Genf. London hätte im Krieg nicht das Zentrum der Flüchtlingsarbeit werden können; man hätte ihn dort als Deutschen bei Kriegsaúsbruch interniert. Visser`t Hooft nennt es eine Fügung Gottes, dass Freudenbergs bei Kriegsbeginn in der Nähe von Genf sind. Er sagt, dass ein Ökumenischer Rat der Kirchen ohne „konkrete Diakonie“ für Verfolgte aller Völker und Rassen nie ein echter ÖRK sein könne.

Bei einer Teamberatung in Genf sagt eines Tages Willem Visser`t Hooft zur Mitarbeiterin Madeleine Barot, die gerade verdreckt und abgerissen in Genf ankommt, nachdem sie einige Flüchtlinge über die Grenze von Frankreich in die Schweiz geschmuggelt hatte: Wir lernen gemeinsam in dieser Arbeit, wie zwischen „Feinden“ das „Band des Friedens in Christus“ (Eph 4.3) wirklich verbindet und wie Feindschaft überwunden wird, weil die Praxis Christi, also Menschlichkeit und Hilfe, nicht gefragt ist, sondern auch eingeübt wird: „Du, Adolf Freudenberg, bist Deutscher und kein guter Staatsbürger in Hitlerdeutschland; Ich Holländer und ein guter Untertan der Königin Wilhelmine, und Du Madelaine Barot, ihr von der Cimade (s.u.), seid rechte Franzosen, die meist zur Résistance standen, für euch waren die nicht seltenen Berührungen mit den deutschen „Feinden“ doch recht schwierig! – Aber: Ökumenisches Vertrauen lässt die Barrieren sinken und wir arbeiten einfach zusammen.“ Von der neutralen Schweiz aus kann mit Geld, echten und falschen Pässen, Kleidern und Lebensmitteln geholfen werden.

Nach einem Winter 1939/40 im nicht zu heizenden Ferienhaus in 1600 m Höhe in Champex finden Freudenbergs in Genf eine Wohnung. Sie wird oft für viele Flüchtlinge aus Frankreich und Deutschland wochenlang zur rettenden, engen Unterkunft, auch für den mit falschem Pass in die Schweiz im Auftrag des Deutschen Widerstandes einreisenden Dietrich Bonhoeffer. Ihn hatte Freudenberg bezeichnenderweise in einem Gestapobüro in Berlin kennen gelernt, wo sich beide für Verhaftete einsetzten. Die in London eingerichtete Wohnung verbrennt mit allem, was Familie Freudenberg in die Emigration hatte retten können, durch die ersten deutschen Raketen, die sog Wunderwaffe für den Endsieg, auf London. Alles ist vernichtet, wieder macht ein Bruch einen Neuanfang nötig.

Der im Aufbau befindliche ÖRK ernennt ihn zum internationalen Beauftragten für Flüchtlingsarbeit. Sein Haus, sein Büro und seine Arbeit werden zum Zentrum eines internationalen Netzwerkes. Hier werden die ersten Informationen über die Berliner Massendeportationen und Massenmorde an Juden im „Osten“ an die britische und amerikanische Regierung übermittelt, auch darüber, dass es eine kleine Widerstandsbewegung in Deutschland gibt. Die Regierungen in London und Washington schweigen dazu. Im ÖRK aber hält man Kontakt zum deutschen wie zum norwegischen, holländischen und französischen Widerstand. Die Verbindungsleute sind vor allem Dietrich Bonhoeffer und Adam von Trott zu Solz.

Freudenberg freut sich, dass einige, wenige alte Kollegen aus dem deutschen Auswärtigen Amt wegen ihrer Karriere sich nicht den Nazis anpassen. Sie gehören mit ihren mutig wahrgenommenen diplomatischen Möglichkeiten auch zum Netzwerk der Retter. Freudenberg kann mit seiner geringen Pension, die einem Flüchtling nicht ins Ausland überwiesen werden darf, in Berlin Leute von seinem Sperrkonto mit Geld in der Dahlemer Gemeinde, zB durch Helene Jacobs und andere Helferinnen, mit Lebensmittelkarten oder Passfälschungen finanzieren helfen. Auf Freudenbergs Unterstützungsliste stehen die Namen von Untergetauchten oder vor dem Abtransport stehenden Gemeindegliedern.

In Berlin läuft allerdings auch die Fahndung nach Helfern der Verfolgten. Die Gestapo schreibt an den deutschen Konsul in Genf. „Wir haben den Eindruck, dass sich beim ÖRK in Genf mancherlei gefährliche Machenschaften mit internationalen Agenten und Geheimdiensten abspielen. Meinen Sie nicht auch, Herr Generalkonsul, dass es besser wäre, wir schickten einen geeigneten Beamten nach Genf, um diesen Dingen richtig auf die Spur zu kommen?“ Der Generalkonsul, ein früherer Kollege und Freund von Freudenberg, antwortet: „Wir sind im Bilde, aber nicht Genf, sondern Lausanne ist der Umschlagplatz“. Die Gestapo schickt einen Beamten auf diese falsche Fährte nach Lausanne, der dort nichts findet, aber als erfolgloser Jäger wohl eine angenehme Zeit in Hotels und Cafes verleben kann.

„Illegale Loyalität“ nennt Freudenberg das was er in der illegalen Ausbildung der Bekennenden Kirche schon einmal geübt hatte. Was nach staatlichen Gesetzen illegal ist, kann nach biblischen Gesetzen legal sein: Menschen zu retten vor und gegen den Staat und seine Mitläufer. Ein praktisches Gewicht gewinnt der biblische Botschaft: „Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen“ (ApGesch 5,29). Die Christenheit hatte bisher besser, weil bequemer, den Halbsatz des Paulus nach Rom (Röm 13.1a) gelernt: „Seid untertan der Obrigkeit!“ und dabei vergessen, dass Paulus die christliche Gemeinde in Rom daran erinnert, dass über der „Obrigkeit“, damals dem Tyrannen Nero, Gott steht. Menschliche Gesetze, auch die eines Staates, wenn sie Menschen und Menschlichkeit vernichten, haben für ChristInnen keine letzte Autorität.

In Genf, der Stadt des Reformators Johannes Calvin, einst auch ein Flüchtling aus Frankreich, der Stadt des Roten Kreuzes und des Völkerbundes, schliesst er Freundschaft mit einem Berliner juristischen Kollegen, Gerhard Riegner, den seine arischen Mitstudenten 1933 aus dem Fenster der Berliner Universität geworfen hatten, wozu – bis auf Prof. Smend – die Professoren wie die Kommilitonen schweigen. Riegner wird als Generalsekretär des Jüdischen Weltkongresses ein wichtiger Partner in der Rettungsarbeit. Unterschiede des Glaubens hindern weder eine tiefe persönliche Freundschaft noch eine Rettungsarbeit in elenden Zeiten.

Gemeinsam rufen der Jüdische Weltkongress und der ÖRK auf dem Höhepunkt der Massenvergasungen und Massenerschiessungen 1943 alle neutralen Länder zum Handeln und nicht zum Handel auf. Sie sollen weder Waffen noch Rohstoffe an Deutschland für dessen Kriege in Europa liefern, sie sollen vor allem aber alle deutschen Geschäftsleute verhaften und nur gegen die Häftlinge aus den Konzentrationslagern freigeben. Aber der Markt der neutralen Länder ist entscheidend, denn seine Waffen, Lebensmittel oder Erze werden nach Deutschland geliefert. Besonders die Schweiz ist wichtig, um das in Prag, Budapest, Amsterdam, Luxemburg, Paris, Warschau, Brüssel oder in den KZs gestohlene Gold und Geld zu „waschen“.

Es gibt bewegende Listen im Archiv des ÖRK in Genf (Akte Freudenberg, auf denen er bzw seine Flüchtlingsabteilung um Zucker und Öl, Geld und Decken, Erbsen und Bibeln, um Pässe und Visa gebeten werden. Er mobilisiert Kirchengemeinden und Einzelpersonen  in der Schweiz, in Schweden und in den USA, Geld zu spenden. Er ringt mit Schweizer Behörden um Einreisegenehmigungen auch für illegal ins Land gekommene Ausländer und protestiert für Schweizer Grenzbeamte, die auf ihre eigene Gewissensentscheidung Flüchtlinge ins Land lassen und dafür bestraft werden. Nach zwanzig Jahren erst wird zB der damals wegen Flüchtlingshilfe entlassene und degradierte Grenzbeamte Grüninger rehabilitiert.

Freudenberg wirbt in Kirchengemeinden und Schulen – wenn die Behörden es erlauben – für die Rettung der Flüchtlinge, für Öffnung der Grenzen, gegen den dummen Spruch „Das Boot ist voll!“ und für Geld und Lebensmittel. Er ist genau informiert über das Schicksal der Flüchtlinge, die oft seit Jahren auf der Flucht sind. Eine Informantin ist zB Frau Mireille Philip. Sie hat sich als russgeschwärzte Heizerin anheuern lassen, um mit den wenigen Zügen zwischen Frankreich und der Schweiz Menschen und Nachrichten über die Grenze zu schmuggeln. Ihr Mann, Kollege und Freund Dietrich Bonhoeffers 1931 im Aufbau der Friedensarbeit des anvisierten ÖRK, kämpft im Untergrund gegen die deutsche Besatzung und für die Befreiung Europas. Nach dem Krieg wird er französischer Justizminister. Ein paar Blitzlichtaufnahmen und Menschen machen deutlich, wie ein ökumenischer christlicher Glaube alltagstauglich wird.

Wenn es um das Flüchtlingsdasein, den Totalverlust aller Habe sowie um Neuanfänge geht, wissen Freudenberg und seine Familie sehr wohl genau, wovon sie reden. Es sind die eignen Erfahrungen von Menschen, die Heimat, Beruf .und Wohnung verloren und neu anfangen mussten.

Es ist deutlich, dass er in der Schweiz seit 1939 bereits tut, was er auf und für den Heilsberg fortsetzt. Er sammelt Spenden für den Aufbau dieser Heilig-Geist-Gemeinde zTl bei denselben Gebern in der Schweiz, den USA oder Skandinavien, die er für die Flüchtlinge während der Nazizeit angesprochen hatte.

Er, der nach 1945 wieder als Diplomat die neue Bundesrepublik hätte vertreten können, lehnt alle Anfragen aus Bonn ab. Er bleibt Pfarrer. Martin Niemöller ruft ihn 1947 als Pfarrer auf den Heilsberg, der eine Gründung des Ev. Hilfswerkes ist – dem Vorgänger des heutigen Diakonischen Werkes unserer Kirche. Zu tief hat ihn die ökumenische und diakonische Aufgabe geformt, als dass er die Hilfe für Vertriebene und Flüchtlinge je wieder hätte aufgeben können. Sein Leben lang lässt seine Frau und ihn der Gedanke nicht los, dass es so wenige nur waren, die man retten konnte, wenn sie an die Millionen Verfolgter und Ermordeter denken.

III

Die Cimade

An dieser Stelle muss ich etwas über einen wichtigen Partner der Flüchtlingshilfe und des Menschenschmuggels erzählen, über die Cimade. Übersetzt heisst die französiche Abkürzung „Komitee der verbündeten Jugendorganisationen bei (nicht: für die…!!) den Flüchtlingen“ (Comité Inter-Mouvements auprés des Evacués). In der evangelischen Minderheitenkirche Frankreichs leben zwei Traditíonen weiter - ganz anders als in den deutschen Kirchen:

Es ist (1.) die Erfahrung von Verfolgung und Unterdrückung. Seit der Zeit der kreuzzugmässigen Vernichtung der Waldenser und der calvinistischen Reformation durch Regierung und katholische Kirche Frankreichs wurden Hunderttausende von Evangelischen umgebracht. Viele landeten als Flüchtlinge in Frankreichs Nachbarländern – hierzulande später Hugenotten genannt (französische Verballhornung von Iguenots = Eidgenossen). Es gibt aber nicht nur eine europäische Tradition von Verfolgung. Es gibt auch eine der Aufnahme von Flüchtlingen – auch in unserem Land.

Die grösste Fluchtbewegung entstand nach der sog. Bartholomäusnacht, als auf Befehl von Katharina von Medici Zehntausende von Protestanten niedergemetzelt wurden (1572) und Papst Gregor XIII in Rom ein Tedeum anordnet.

Und (2.) gibt es im französischen Protestantismus die Tradition eines sich politisch auswirkenden Widerstandes aus christlichen Motiven. Eine Symbolfigur dafür ist zB eine Frau wie Marie Durand. 38 Jahre ist sie in einem Turm eingekerkert. Ihre ins Mauerwerk eingeritzte Schrift ist dort bis heute zu lesen: „Resister!“ – Widerstehen!. Widerstehen gegen Gewalt und Unrecht! Sie weigert sich katholisch zu werden, als der Staat die Duldung der Protestanten (einmal ausgesprochen im Edikt von Nantes 1685) aufhob durch den „Sonnenkönig“ Ludwig XIV. (Er wollte ein einheitlich katholisches Frankreich durch Dragonaden, Zwangsbekehrungen und Vertreibungen erreichen).

Die in der Cimade zur Menschenrettung vereinten fünf evangelischen französischen Jugendorganisationen sind: Der Christliche Verein Junger Frauen, der Christliche Verein Junger Männer, die ev. Pfadfinderinnen, die ev. Pfadfinder sowie der christlichen Studentenverband. Frau Madelaine Barot, aus einer Hugenottenfamilie stammend, wird mit 30 Jahren die erste Vorsitzende von Cimade. Sie kam von den Pfadfinderinnen und aus der ev. Studentenarbeit. Sie hatte in vielen ökumenischen Aufbaulagern mit anderen Europäern zusammengearbeitet und entschloss sich später, ganz in die ökumenische Arbeit zu gehen.

Neben den schon genannten Namen sind beispielsweise noch zu nennen: Paul Vogt, Leiter des Schweizer Ev. Hilfswerks, das schwedische Ehepaar Cedergren, die „Mutter Kurz“, Leiterin des christlichen Friedensdienstes in der Schweiz, der US-Amerikaner Tracy Strong.

Madelaine Barot hatte Archeologie studiert und dann eine glänzende Stelle am französischen archeologischen Institut in Rom erhalten. Dort baut sie wichtige ökumenische Kontakte zu Waldensern und Katholiken auf. Als die deutsche Armee 1940 das neutrale Luxemburg, Belgien und Holland überfällt und Frankreich besiegt, als daraufhin riesige Flüchtlingsströme von deutschen, polnischen, jüdischen und tschechischen Emigranten ins vorläufig noch nicht besetzte südliche Frankreich strömen, Flüchtlinge, die sich nach Frankreich aus ihren besetzten Ländern gerettet hatten, da kehrt sie nach Frankreich zurück und übernimmt tatkräftig den Vorsitz der Flüchtlingshilfsorganisation der Cimade.

Nach dem Krieg sorgt Madelaine Barot, jetzt hauptamtlich im ÖRK, mit Freudenberg und den Kollegen dafür, dass die Flüchtlinge in Jugoslawien, Finnland, dem Baltikum und aus den deutschen Ostgebieten auch zum Aufgabenbereich des ÖRK gehören. Nicht zu vergessen, die Displaced Persons, die über 10 Millionen ehemaliger ZwangsarbeiterInnen und Überlebenden der KZ’s, sowie die in ihre zerstörten Heimatländer zurückströmenden Kriegsgefangenen – insgesamt eine der grössten und schlimmsten Völkerwanderungen der Menschheitsgeschichte. Bald kamen Flüchtlingsströme aus den algerischen und indochinesischen Befreiungskriegen dazu. So wurde sie neben vielen Gründungsvätern, zu denen auch Freudenberg gehört, eine der (wenigen) Gründungsmütter der ökumenischen Bewegung.

Die Arbeit der Cimade spiegelt auch die Arbeit ihres Genfer Partners Freudenberg. Hier ein paar Schwerpunkte während des Krieges:

  • Besuche und tatkräftige Unterstützung versteckter Juden und Politisch-oppositioneller, Besorgung und Verteilung von Lebensmitteln, Kleidern und medizinischer Hilfe, Sammeln von Spenden und Auskundschaften neuer Wege im immer enger werdenden Überwachungssystem. Natürlich werden bei weitem nicht alle Hilfsbedürftigen erreicht. Hier sind die PfadfinderInnen ebenso unersetzlich wie die Berghütten im Touristengebiet der Alpen. Ein Bericht nennt die sonst so schönen Alpen „furchtbare Berge“. Werden wir rüberkommen? Wem kann man trauen von den Leuten, die wir treffen, wem nicht? Wer wird uns helfen?

  • Aufbau von Hilfsbaracken in den zahllosen Internierungslagern in Frankreich für diese Personengruppen, in denen Hilfsgüter, die aus Genf kamen, verteilt und jüdische oder christliche Gottesdienste gefeiert werden oder die eine oder andere kulturelle Veranstaltung stattfinden konnte. Einige der Helferinnen setzen es durch, zeitweise im Lager mitzuwohnen. Die Situation eines Gottesdienstes dort beschreibt ein Bericht: „In jener bitterkalten Winternacht 1940 erfroren 30 Lagerinsassen…und in der gleichen Nacht schuf Gottes Geist die ökumenische Gemeinde von Gurs. Menschen aus vielen Ländern, mit verschiedenen Sprachen und Bekenntnissen sammelten sich in ihr.“ In diesem grössten Lager verhungern und sterben an Seuchen Tausende. Darunter auch ein Onkel von Frau Freudenberg, zwei Tanten überleben die Lagerseuchen nur knapp. Frau Freudenbergs Verwandte hatte die deutsche Polizei mit vielen anderen Juden nachts in Freiburg aus den Betten geholt und nach Frankreich ins KZ verschleppt.

  • Werden für die Flüchtlinge materielle Güter nach Frankreich geschmuggelt so spricht Freudenberg mit demselben Ausdruck von einem „Schmuggel von Menschen“ aus Frankreich in die nicht immer rettende Schweiz. Es gibt einige Bergpfade, Klöster sowie ev. und kathol. Pfarrhäuser, auch einige im guten Sinne für Menschenleben „sündigende Zöllner“ auf der Schweizer wie auf der französischen Seite, die helfen. Freudenberg entdeckt in Genf einen deutschen wie einen französischen Konsul, die Tipps für Wege und Personen zum Sach- wie zum Menschenschmuggel geben – unter gewaltigem persönlichen Risiko, von ihren Kollegen oder Vorgesetzten verpfiffen und bestraft zu werden. Denunziation ist weit verbreitet. Die französische Satellitenregierung  unter Marschall Pétain übernimmt die deutsche Judengesetzgebung. Ab 1942 wird auch das südliche Frankreich besetzt und die Züge mit Zehntausenden von Juden werden in Richtung Theresienstadt, Treblinka und Auschwitz in Bewegung geschickt. Die Lager werden geräumt. Von Drancy aus wurden die mit Flüchtlingen voll geladenen Güterzüge in die Vernichtungslager geschickt. Nach der Wannseekonferenz (Januar 1942) mit den verstärkt einsetzenden Massenmorden müssen die bisher von Genf aus betriebenen Hilfsaktionen für das Ghetto in Warschau eingestellt werden. Das von der Schweiz 1938 verhängte Einreiseverbot wird durch den Druck der vereinten Flüchtlingshelfer 1942 etwas gelockert, sodass einige Tausend über die grünen Grenzen ins Land kommen können.

  • Es gibt eine gute Zusammenarbeit mit jüdischen, katholischen oder sozialistischen (AWO) Hilfsorganisationen. Man kann sagen, dass die christlich – jüdische Zusammenarbeit unter Verfolgten und Helfern beginnt. Zu ihren Mitgründern gehören neben dem britischen Methodistenpfarrer Bill Simpson, dem Heidelberger Pfarrer Hermann Maas, der das Ehepaar Freudenberg einst traute, die Berliner Sozialarbeiterin Charlotte Friedenthal, Propst Grüber auch der französische Gelehrte Jules Isaac. Diese Bekanntschaften führen 1947 zur Gründung des Internationalen Rates der Juden Christen und 1948 zu den ersten christlich-jüdischen Gesellschaften in Wiesbaden, Stuttgart und Frankfurt. An beiden Gründungen ist nach dem Krieg Adolf Freudenberg massgeblich beteiligt. 1947 werden in der Schweiz die sog. Seelisberger Thesen gemeinsam von Juden und Christen erarbeitet. Sie setzen gegen die jahrhundertelange christliche Judenverachtung einige vergessene biblische Wahrheiten – zB: Der Gott des jüdischen Volkes ist derselbe wie der Gott der Christenheit und der Welt, Altes und Neues Testament sind in gleicher Weise Gottes befreiendes Wort. Es waren die Römer (die dafür nie verachtet wurden), die Jesus kreuzigten. Das Gebot, Gott und den Nächsten zu lieben wie sich selbst, steht in der Hebräischen Bibel.

  • Freudenberg gelingt es in Frankfurt diese für viele christlichen Ohren damals unerhört klingenden Selbstverständlichkeiten in seien Schwalbacher Thesen für Hunderte von Lehrern und Pfarrern in Seminaren und Vorträgen unters Volk zu bringen. Er gewinnt den Rektor der Frankfurter Universität Böhm, die ebenfalls aus dem Exil nach Deutschland zurückgekehrten Professoren Max Horkheimer und Theodor W. Adorno zu Vorträgen des Deutschen Koordinierungsrates der Gesellschaften für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit. Er wird ihr langjähriger Evangelischer Vorsitzender. Eine regelmässig tagende Erzieherkonferenz beschäftigt sich mit altem und neuen Rechtsextremismus. Adorno zB spricht über das Thema „Erziehung nach Auschwitz“. Und die ist eine kritische Erziehung, die vor Autorität sich nicht einfach gehorsam duckt, die keine Sündenböcke braucht, um von eigenen Fehlern oder Schwächen abzulenken.

 

IV

Auf dem Heilsberg

Martin Niemöller hatte bei einem Vortrag in der lutherischen Holy-Trinity-Gemeinde von Buffalo Anfang 1947 10.ooo $ gesammelt für die noch nicht gegründete Kirchengemeinde auf dem Heilsberg und eine dort nötige Kirche. Der Leiter des Ev. Hilfswerks Otto Fricke und Martin Niemöller bitten den ÖRK um eine Persönlichkeit, die in die Leitung des Siedlungswerkes zu berufen sei und die in der (schon früh) auf 5000 – 6000 Bewohner angelegten Flüchtlingssiedlung arbeiten soll. Man denkt dabei an den in der Flüchtlingsarbeit lange und international tätigen Adolf Freudenberg – eine echte Abwerbung. Im Herbst 1947 kommt er ins zerstörte und demoralisierte Deutschland und in den Lehm des ausgedienten Truppenübungsplatzes auf der Vilbeler Höhe. Neben seinem Engagement als Pfarrer bringt er seine Erfahrung aus dem Ökumenischen Rat in Genf und seine vielen internationalen Kontakte mit. Freudenbergs Erfahrungen in der Flüchtlingshilfe und seine internationalen Verbindungen sind dem Heilsberg nicht schlecht bekommen. Es ist wieder ein Neuanfang unter äusserst schwierigen Bedingungen.

Schon im Juni 1945 hatte Freudenberg im Auftrag des ÖRK eine abenteuerliche, aber notwendige Erkundungsreise durchs zerstörte Deutschland gemacht. Flüchtlinge aus vielen Ländern ziehen durchs Land. Viele wissen nicht, wo ihre Angehörigen sind. Leben sie noch? Nach einem neuen Zuhause suchen neben vielen anderen Polen und Juden, Russen wie Deutsche. Ihn beeindrucken die von der eigenen Wehrmacht zerstörten Brücken, die genau so wie der Mangel an Lebensmitteln und Wohnraum den Wiederaufbau erschweren. Er sieht den Schwarzmarkt, die miserable Ernährung, die Seuchen, er hört von den Vergewaltigungen, besonders im Osten – von allem berichtet er genau an sein Flüchtlingskomitee in Genf - immer mit der Frage, wie zu helfen sei. Aber er notiert auch, dass viele Deutsche nicht wahrhaben wollen, wann und durch wen das ganze Elend angefangen hatte. Er kritisiert nicht, er versucht zu verstehen, bewundert den Mut vieler, neu anzufangen, spricht von der Notwendigkeit, die Justiz wie die Kirche, die Politik wie die Schule und Hochschule, die Medien wie die Verwaltungen personell zu erneuern. Zu viele waren Mitläufer, hatten weggeschaut, getan, was befohlen war, ohne zu fragen, wer den Schaden eines falschen Gehorsams erleiden muss.

Und dann wird 1947 das erste Lehmhaus gebaut. Es ist eine Bauweise, die der Gründer von Bethel, Friedrich von Bodelschwingh, für Arbeits- und Obdachlose zuerst in grösserem Stil eingeführt hatte. Das Programm auf dem Heilsberg heisst: „Die Seelsorge der Kirche kann und darf nicht an der Existenzfrage von Millionen unter uns lebender heimat- und besitzloser Menschen vorübergehen. Sie brauchen Heimstatt, Lebens- und Arbeitsmöglichkeiten.“ Es wird ein Lastengausgleich gefordert, um Ungerechtigkeit und Chaos zu bannen. Und dann heisst es weiter: „Das Evangelium lässt den Menschen nach dem Menschen fragen.“

So wird eine Siedlung mit 6000 Leuten mit Läden, Schule, Handwerksbetrieben, Ausbildungsmöglichkeiten, Strassen und Kirche geplant, die heute einen ganz normalen Stadtteil von Bad Vilbel bildet. Aus gehärtetem Lehm werden die ersten  Häuser gebaut, der nicht gehärtete Lehm bildet die ersten Strassen, in denen bei Regen so mancher Schuh stecken bleibt.

Familie Freudenberg hilft mit unglaublichem persönlichem Engagement, eine völlig neue Lebenswelt mit den ersten Siedlern aufzubauen. Frau Freudenberg richtet am Anfang in der privaten Wohnung eine Kleiderkammer ein, wo Kleider und Carepakete aus den USA verteilt werden. Kranke werden besucht. Die neuen Häuser mit ihren Bewohnern gesegnet – Segen ist kein blosses Gefühl, sondern verwirklichte Liebe. Seelsorge und „Leib“-sorge fallen nicht auseinander. Die Tochter Jutta (Frost) richtet im Freudenberg`schen Haus, im Dachgeschoss, den ersten Kindergarten ein. Es entstehen nach und nach Lehrwerkstätten, ein Gemeindehaus, die Amsel, eine Notkirche – vieles mit ökumenischen Spenden. Die Kirche wird von Kirchenpräsident Niemöller eingeweiht. Viele der heute Anwesenden sind dort getauft, getraut oder konfirmiert worden. Das Wort „erbaulich“ verliert seinen frömmelnden Sinn und bedeutet wieder, was es in der Bibel meint: Einen Aufbau von Menschen und Gemeinden – materiell, geistig und geistlich.

Freudenbergs wie allen, denen das ökumenische Erbe nichts Vergangenes ist, bleibt auch wichtig, dass im Zusammenleben von Menschen nicht nur eine neue Gemeinde gebaut und im wahrsten Sinn des Wortes niedergeschlagene Menschen aufgerichtet werden, sondern, dass auch die Beziehungen zwischen den Völkern sich auf Frieden und Gerechtigkeit aufbauen. Als der Ökumenische Rat der Kirchen 1948 in Amsterdam gegründet wird, bekennen alle Kirchen gemeinsam: „Krieg darf nach Gottes Willen nicht sein!“ Es soll nicht noch einmal auf Waffen und Gewalt vertraut werden. Die biblische Lektion ist bis heute noch viel zu wenig gelernt. Konsequent beteiligt sich Freudenberg am Ostermarsch. Sein und Niemöllers Freund, der Bundespräsident Heinemann, kommt zu Vortrag und Gespräch in die Gemeinde. Freudenberg engagiert sich politisch. Das gehört zu den Lehren aus 12 Jahren Naziherrschaft und einem Krieg, der über viele Völker und Länder Leid und Zerstörung, Flucht und Vertreibung brachte.

Vor 60 Jahren bekommt die Kirchengemeinde ihren Namen „Ev. Heilig-Geist-Gemeinde“ und der Ort heisst jetzt „Heilsberg“ in einer doppelten Anspielung an den biblischen Berg des Heils, an Zion, an Jerusalem, den Juden und Christen wichtig sowie in Erinnerung an die Stadt Heilsberg in Ostpreussen

Dieser neue Geist, der in der Tat etwas mit dem Heiligen Geist, dem Geist Gottes und Jesu Christi zu tun hat, kann Menschen aufrichten wie Häuser. Und beide haben Fenster oder Augen, die uns nicht nur uns selber sehen lassen, sondern die anderen, den Nächsten.

Freudenberg sagt einmal: „Es fällt uns Menschen schwer, angesichts so ungeheuerlicher Verbrechen die eigene Ohnmacht in ihrer kläglichen Nacktheit zu erkennen. Selbstachtung lässt sich leichter durch überlegentuendes Ignorieren des allzu Peinlichen bewahren.“ Selbstachtung dadurch zu gewinnen, dass ich andere, vor allem Leidende und Übersehene, helfend achte und beachte statt sie zu verachten – das ist ein Erbe dieser ökumenischen Arbeit.

Das Leben der Freudenbergs war ein gerettetes Leben. Deswegen ist ihre Grundeinstellung ein lebensfreundliches und lebenrettendes Verhalten. Es ist in dem Satz begründet, den Freudenberg in seinen vielen Bettelvorträgen in der Schweiz zB in Gwatt 1943 aus der Bibel zitiert: „Es ist dir gesagt, Mensch, was gut ist, und was Gott von dir fordert, nämlich Recht tun, Liebe üben und aufmerksam wandeln vor deinem Gott“ (Micha 6,8).

U.a. benutzte Literatur: Uta Gerdes, Ökumenische Solidarität mit christlichen und jüdischen Verfolgten. Die CIMADE in Vichy-Frankreich 1940-1944; Wolfgang Gerlach, Als die Zeugen schwiegen. Bekennende Kirche und die Juden, Berlin 1993; Hartmut Ludwig, Die opfer unter dem rad verbinden. Vor- und Entstehungsgeschichte, Arbeit und Mitarbeit des „Büro Pfarrer Grüber“, MS der Diss. Humboldt-Universität Berlin 1988; Werner Simpfendörfer, Frauen im ökumenischen Aufbruch, Stuttgart 1991; Martin Stöhr / Klaus Würmell (Hg), Juden, Christen und die Ökumene. Adolf Freudenberg 1894-1994: Ein bemerkenswertes Leben, Frankfurt/M 1994; Willem Visser`t Hooft, Die Welt war meine Gemeinde, München 1972.

Vortrag aus Anlass „60 Jahre Heilsberg” am 9. Juni 2008

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