Erinnerungen
Glühbirnen des Geistes
Der deutsche Tiefsinn ist eine französische Erfindung. Jüngstes Beispiel: Jean Daives Erinnerungen an Paul Celan
von Peter Hamm

Es ist eine böse Pointe, dass den Deutschen zumindest in der Geistesgeschichte der Endsieg doch noch gelang mittels ihrer im Schwarzwald versteckten Wunderwaffe Martin Heidegger. Sogar der französische Geist, von Descartes und Voltaire bis zu Valéry doch ein Synonym für Rationalität und clarté, streckte die Waffen und überließ sich willig dem Raunen und Dräuen aus den Wäldern jenseits des Rheins.

Bei dieser späten Spielart der Kollaboration tat sich am meisten Jean Beaufret hervor, der gleich nach 1945 in Frankreich heftig für Heidegger trommelte und ihn bald auch bei einem seiner Nachbarn in der Provence, bei dem Dichter René Char, salonfähig machte. Als ehemaliger Kämpfer in der Résistance diente René Char fortan Heidegger als hochwillkommenes Alibi. Allerdings sprach René Char kein Wort Deutsch, und auch Beaufret war lange Zeit auf Übersetzer angewiesen.

Es passt leider ins Bild, dass Jean Beaufret, der sich nach 1945 vom Sozialisten zum edlen Ritter des Heideggerschen Denkens gewandelt hatte, später als ein Halunke entlarvt wurde, der dem Auschwitzleugner Robert Faurisson beipflichtende Briefe schrieb (die Shoah, so Beaufret, sei nichts als »ein historisches Dogma mit der ganzen Aggressivität, die ein Dogmatismus an sich hat«). Doch die vielen Dunkelmänner aus Beaufrets Schule störte das, mit ganz wenigen Ausnahmen wie etwa Jacques Derrida, offenbar wenig.

Es sagt etwas über die Wucht der deutschen Wunderwaffe aus, dass selbst der Jude und Wahl-Pariser Paul Celan zeitweilig in den Bann jenes Schamanen der Eigentlichkeit geriet, der einst »die Verjudung des deutschen Geistes« beklagt, eine obszöne Hymne zum Ruhme Schlageters verfasst, gegenüber Jaspers von Hitlers Händen geschwärmt und 1933 Hitler als »dem Retter unseres Volkes und Vorkämpfer eines neuen Geistes« freudig zum Sieg gratuliert und die Freiburger Universität zu Füßen gelegt hatte.

Im Jahr 1967 fuhr Celan, der maßlose Masochist, zu Heidegger in den Schwarzwald, um ihn zu einem klärenden Wort zu bewegen. »Mit einer Hoffnung auf ein kommendes Wort im Herzen«, schrieb er in Heideggers Todtnauer Hüttenbuch und beschwor im kurz danach geschriebenen Gedicht Todtnauberg noch einmal inständig diese Hoffnung. Wir wissen, dass Heidegger, obwohl er doch das Fragen als Frömmigkeit des Denkens apostrophiert hatte, Celan nie dieses klärenden Wortes über seine nazistische Verstrickung würdigte. Es zeugt von Celans Scham, dass er sich bei seinem Besuch im Schwarzwald wenigstens nicht fotografieren lassen wollte mit diesem »Meister aus Deutschland« .

Warum dies alles an dieser Stelle? Weil die Heideggersche Sprachverfinsterung und Sprachverwilderung, die schon Oskar Maria Graf so genial parodierte, nun von der Philosophie auf die Philologie und die Erinnerungsliteratur übergreifen und gerade in der ins schier Unermessliche angewachsenen Celan-Sekundärliteratur mindestens so giftige Blüten treiben wie etwa in der Hölderlin-Exegese. Es ist ja kein Zufall, dass Heidegger selbst Celan so gern in die Unerreichbarkeit eines neuen Hölderlins entrückte und sich dabei auch auf Celans Phasen vollkommener Verstörung berief. Einem Umnachteten ist man keine Antwort schuldig.

Den Gipfel einer raunenden Heiligenbeschreibung hat jetzt Jean Daive gestürmt, ein französischer Lyriker, der 1941 als Jean de Schrynmakers in Nordfrankreich geboren wurde und in Celans letzten Lebensjahren zu seinem engeren Freundeskreis zählte. An Jean Daive, von dem er auch einige Verse übersetzte, zog Celan, wie er an Ilana Shmueli schrieb, »eine kleine Esoterik« an, aus der freilich in Daives Erinnerungen an Celan faustdicke Esoterik geworden ist.

Das beginnt bereits auf der ersten Seite, wo Daive aus der simplen Tatsache eines Glühbirnenkaufs ein Mysterium macht: »Celan kauft eine Glühbirne, die er in ein riesiges Einkaufsnetz legt. Der Gehende mit der Glühbirne im Netz schreitet souverän voran. Und das Netz wiegt schwer.« Selbst wenn Celan, der in seinen letzten Lebensjahren getrennt von seiner Frau Gisèle lebte, einmal Wäsche in der Badewanne wäscht, bekommt das bei Daive die Bedeutung einer Erleuchtung. Auch über Spaziergänge mit Celan kann Daive nur in der feierlichsten Frequenz berichten: »Der Spaziergang kann den Ortswechsel euphorisch machen. Ein Schritt. Ein Schritt plus ein Schritt. Ein Schritt. Ich gehe. Ich schreite. Ich kann den Schritt eindunkeln. Der Schritt sprengt die Besorgnis, er überhitzt die Entfernung in sich.«

In dieser Manier füllt Jean Daive Seite um Seite und überlässt sich dabei wahren Orgien des triefenden Tiefsinns: »Wenn ich Paul Celan beim Essen zusah, kam mir immer der Gedanke, sein Kiefer sei heilig.« Oder: »Die Welt ist heute eine Lupe, die Äußerungen kommen mit dem Herbst, der sie stört, und die Rechen polieren Gott, der von verschwommenen Formen verschleiert wird. Die Rechen, die Rechen polieren Gott, polieren eine dunkle Trauer, unter der Gott ein Frauenbild verschleiert, in dem sich das Stammeln eines Kindes verliert.«

Mit seinen fatalen Frauenbildern verschont uns Daive so wenig wie mit seinen rätselhaften Rechen, so verlangt eine dieser Frauen, die ihm gerade »ihre Schenkel und ihre Notizbücher geöffnet« hat, dass er ihr zusieht, wie sie »mit einem Weißgoldrechen« ihre Schamhaare kämmt: »Mein Schamdreieck, ein Demokratiemodell.« Darüber mag man noch lächeln.

Überhaupt nicht mehr zum Lächeln ist es, wenn Jean Daive sich an Gisèle, Celans Frau, vergreift, zumindest im Ton. Es stimmt wohl, dass Daive in der Zeit, in der Paul und Gisèle Celan getrennt lebten, oft als eine Art go-between zwischen beiden fungierte, der Gisèle über seine Besuche in den Kliniken, in denen Celan immer wieder verwahrt war, berichtete und umgekehrt ihm, der begierig auf Nachrichten von seiner Frau war, von Gisèle erzählte. Auch dass Gisèle, nachdem Paul Celan aus seiner letzten Wohnung in der Rue Émile Zola verschwunden war, zunächst Jean Daive telefonisch um Nachforschungen nach ihm bat, ist erwiesen. Doch wenn Daive »ganz selbstverständlich ein Dreiecksverhältnis Paul–Gisèle–ich« unterstellt und Gisèle nach Celans Freitod auch noch filmgerecht durch Paris irren und »stundenlang« den Namen Jean Daive rufen lässt oder wenn er erklärt, Gisèle habe ihm nach Celans Tod aufgetragen, »eines Tages das Wort Herz für mich, zum Andenken an mich«, zu schreiben, dann ist das so geschmacklos wie schon Daives allererste Aufzeichnung zu Gisèle, in der er sich diese pseudopoetisch einverleibt: »Ich sehe mich an, und in mir sehe ich Gisèle an.« Gerade die Frau Paul Celans, die alle Höllenstürze dieses gepeinigten Menschen mit nun wahrhaft übermenschlicher Sanftmut und Geduld zu mildern suchte, hat solche Zudringlichkeiten noch über das Grab hinaus nicht verdient. So wenig wie Paul Celan die Heiligsprechung.

Nicht allein durch Friedrich Dürrenmatts grandiose Schilderung kennen wir doch den faunisch ausgelassenen, russische Revolutionslieder grölenden und ganze Batterien von Wein- und Schnapsflaschen leerenden anderen Celan, der mit seinem Wortwitz brillierte – »czernowitzen« nannte er das selbst –, der blödeln konnte wie Thomas Bernhard und so gern den Clown gab (sein Sohn Eric ist nicht ganz zufällig Clown geworden). Diesen unglaublich vital wirkenden Celan mit seinem unheimlichen Übermut enthält uns Jean Daive ebenso vor wie den geradezu manisch misstrauischen Celan, der nach der von Claire Goll bösartig lancierten Plagiatsaffäre, bei der seine von ihm als »Helfenichtse« geschmähten deutschen Schriftstellerfreunde ihm zuletzt tatsächlich nicht mehr beizustehen vermochten, sogar einen Heinrich Böll des Nazismus verdächtigte.

Fast unvermeidbar, dass sich selbst unter diesen so enttäuschenden (und auch täuschenden) Erinnerungsblättern ein paar finden, bei denen man für Augenblicke das Gefühl hat, den authentischen Celan vor sich zu sehen und sprechen zu hören. Den Entwurzelten, der nirgends, auch nicht im kalten Paris, eine Heimat findet, den in gesichtslosen Kliniken Verwahrten, bei dem eine schwarze Krawatte eine Panikattacke auslösen kann, der aber gleich darauf wieder begeistert von seiner Kafka-Lektüre erzählt oder energisch die gemeinsame Übersetzerarbeit an seinen eigenen Gedichten oder denen Johannes Poethens vorantreibt. Es ist der Celan, der die Berühmtheit, die er durch seine Todesfuge in Deutschland erlangt hat, als schwere Last empfindet (»auch die Berühmtheit überwacht einen«) und der dieses Gedicht am liebsten ungeschrieben machen würde, weil es doch nur das schlechte Gewissen der Deutschen entlaste.

Aufschlussreich auch Celans Geständnis, er sei zu Heidegger gefahren in der Illusion, »ihn überzeugen zu können«: »Ich wollte, dass er mit mir spricht. Ich wollte ihm verzeihen.« Nein, zwischen Celan, der bis zuletzt das Andenken Rosa Luxemburgs und Karl Liebknechts hochhielt und über die beiden Arbeiterführer, laut Daive, so eindringlich erzählte wie über seine eigenen ermordeten Eltern, und dem Meisterdenker der Nazis konnte es unmöglich irgendeine Art der Verständigung geben.

Auch eine andere prekäre Beziehung Celans, die leidenschaftliche Liebesbeziehung zu Ingeborg Bachmann, die erst durch den kürzlich veröffentlichten Briefwechsel der beiden Dichter ins Blickfeld der literarischen Öffentlichkeit geriet (ZEIT Nr. 35/08), kommt bei Daive einmal zur Sprache, bezeichnenderweise ziemlich stockend. Celan fragt eines Tages Jean Daive: »Kennen Sie…« (sehr langes Schweigen)… »Ingeborg Bachmann?« – »Ich habe einige ihrer Gedichte gelesen…« – »Sie sind nicht immer sehr gut…« (sehr langes Schweigen)… »Wir haben uns gekannt… sie erwartete viel von mir… im Leben… und ich habe sie enttäuscht… aber ich habe sie geliebt.«

Wenn es auch den vielen heideggernden Sprachmystikern sowie den Artistikanbetern unter den Celan-Auslegern wider den Strich geht, so ist es doch eine Tatsache, dass Celan selbst seine Lyrik durchaus nicht als dunkel, hermetisch oder monologisch empfand. Er reagierte geradezu bestürzt, ja tief verärgert, wenn etwa in Gerhard Neumanns Deutungen diese Gedichte »ins Absolut-Metaphorische verrückt« wurden, für ihn waren sie klar im Sinne von autobiografischen Zeugnissen, und wenn ihn jemand um Erklärungen bat, verweigerte er diese und las stattdessen seine Gedichte lieber ein zweites oder drittes Mal laut vor (mit der charakteristischen Czernowitzer Aussprache Gesan-g, Din-g, Klan-g).

Ganz ernsthaft bezeichnete sich Celan sogar als Realist, zuletzt noch in einem Brief an seine in Israel wiedergefundene Jugendfreundin Ilana Shmueli: »Es gibt keine Zeile meiner Gedichte, die nichts mit meiner Existenz zu tun hätte; ich bin, Du siehst es, auf meine Art Realist.« Jean Daive aber lehnt die biografische Interpretation von Celans Lyrik ebenso ab wie Gerhard Neumann, der als Assistent von Gerhart Baumann an der Freiburger Universität aus jenem Dunstkreis Heideggers kam, dem auch Celans Herausgeber in Deutschland, Beda Allemann, nie entkam. Es ist bezeichnend, dass Celan, nachdem er erstmals Verse Jean Daives gelesen hat, diesen spontan nach seiner Biografie befragt, um zu erfahren, »von welchen Verletzungen diese Verse herrühren«.

In seiner Auffassung vom Dichter, so betont Celan gegenüber Jean Daive, müsse die Sprache immer neu »wiedergefunden«, »neu erlernt« werden: »Das ist ein bisschen so, als kämen Sie nach siebzehn Jahren Koma wieder zu sich und hörten sich selbst ein einziges Wort sagen: ›schreiben‹, ohne zu begreifen, was dieses Wort bedeutet.« Das vollendete Gedicht aber legitimiert sich für Celan nur durch seine »Richtigkeit…die Darstellung unseres Widerstandes«. Dieses Gedicht müsse »die Welt zerkratzen«, wie »Graveure die Platten zerkratzen müssen, von denen Abdrücke gemacht werden«.

Einmal apostrophiert Celan die dichterische Arbeit als »mit dem Blitz hantieren«, und die poetologischen Blitze Celans, die Daive registriert, machen seine Erinnerungen für Momente zur lohnenden Lektüre. Aber gleich darauf nimmt Daive den Umstand, dass Celan sich regelmäßig von ihm mit der Bemerkung verabschiedet, er könne ihn nicht zu sich in die Wohnung bitten, weil die Putzfrau nicht gekommen sei, zum Anlass, um wieder schrecklich zu schwadronieren: »Und ich werde in die Stadt hinuntergehen und dabei Frau und Putzen in Verbindung bringen. Ist Schreiben Putzen? Ist Schreiben eine Frau? Eine Stimme bittet mich, aufzuhören.« Es kann nur die Stimme der Vernunft gewesen sein, für die sich Jean Daive freilich zumeist als taub erwies.

Jean Daive: Unter der Kuppel

Erinnerungen an Paul Celan; a. d. Französischen von Anke Baumgartner; Urs Engeler Editor, Basel/Weil am Rhein 2009; 216 S., 19,- €

DIE ZEIT 19. November 2009 Nr 48 S. 52

Paul Celan
TODTNAUBERG

Arnika, Augentrost, der
Trunk aus dem Brunnen mit dem
Sternwürfel drauf,

in der
Hütte,

die in das Buch
--wessen Namen nahms auf
vor dem meinen?-,
die in dies Buch
geschriebenen Zeile von einer Hoffnung, heute
auf eines Denkenden
kommendes
Wort
im Herzen,

Waldwasen, uneingeebnet,
Orchis und Orchis, einzeln,

Krudes, später, im Fahren,
deutlich,

der uns fährt, der Mensch
der's mit anhört,

die halbbeschrittenen
Knüppelpfade
im Hochmoor,

Feuchtes,
viel.

(aus Lichtzwang [1970])
Dieses Gedicht ist Celans Kommentar zu seinem Besuch bei Heidegger in der Schwarzwaldhütte des Philosophen in Todtnauberg, 25.7.1967.

 

Rüdiger Safranski
"Ein Meister aus Deutschland. Heidegger und seine Zeit"
Vierundzwanzigstes Kapitel
Paul Celan in Freiburg und Todtnauberg.

... Heideggers Schweigen. In der Begegnung mit Paul Celan sollte es noch einmal eine Rolle spielen. Der 1920 in Czernowitz geborene Lyriker Paul Celan, der den Vernichtungslagern, wo seine Eltern umgebracht wurden, nur zufällig entkam und seit 1948 in Paris lebte, hatte besonders zu Heideggers Spätphilosophie einen Zugang gefunden. Der Philosoph Otto Pöggeler berichtet, dass Celan ihm gegenüber gerade jene späten, sprachlich so schwierigen Formulierungen Heideggers verteidigte und dass er 1957 Heidegger das Gedicht "Schlieren" schicken wollte, das dann später im Band "Sprachgitter" erschien. Das Gedicht spricht von einem Auge, dessen Verwundung die Welt erschließt und das Gedächtnis bewahrt: "Schliere im Aug: / dass bewahrt sei / ein durchs Dunkel getragenes Zeichen." Wahrscheinlich sollte dieses Gedicht selbst das Zeichen einer angestrebten Verbindung sein, die der 'Wunde' eingedenk bleibt, welche die beiden, Celan und Heidegger, trennt. Ungewiss ist, ob Celan das Gedicht wirklich abgeschickt hat. Nach den zahlreichen intensiven Gesprächen über den Philosophen fragte Otto Pöggeler Celan, ob er ihm sein Buch über Heidegger widmen dürfe. Celan lehnte "nicht leicht" ab. Er müsse darauf bestehen, "dass sein Name vor einer Aussprache mit Heidegger nicht mit dessen Name verbunden werde". Gleichwohl hat Celan Heideggers Werk gründlich studiert, in seiner Ausgabe von SEIN UND ZEIT finden sich zahlreiche ausführliche Anmerkungen, er kannte Heideggers Deutungen von Hölderlin, Trakl, Rilke. Im Gedicht "Largo" spricht er von dem "heidegängerisch Nahen". Martin Heidegger seinerseits hatte seit den fünfziger Jahren Paul Celans Werk aufmerksam verfolgt. Als der Germanist Gerhart Baumann im Sommer 1967 eine Lesung mit Paul Celan in Freiburg vorbereitete und Martin Heidegger davon brieflich in Kenntnis setzte, schrieb dieser zurück: Schon lange wünsche ich, Paul Celan kennen zu lernen. Er steht am weitesten vorne und hält sich am meisten zurück. Ich kenne alles von ihm, weiß auch von der schweren Krise, aus der er sich selbst herausgeholt hat, soweit dies ein Mensch vermag... Es wäre heilsam, Paul Celan auch den Schwarzwald zu zeigen. Bei der Freiburger Lesung am 4. Juli 1967 im Auditorium maximum der Universität sah sich Paul Celan der zahlreichsten Zuhörerschaft in seinem Leben gegenüber. Über tausend Hörer hatten sich eingefunden. Unter ihnen Martin Heidegger in der ersten Reihe. Heidegger war zuvor durch die Buchhandlungen gegangen und hatte darum gebeten, den Celan-Gedichtbänden in den Schaufenstern einen bevorzugten Platz einzuräumen. Es geschah so. Bei seinem ersten Rundgang durch die Stadt konnte der Dichter überall in den Buchhandlungen seinen Gedichtbänden begegnen und berichtete erfreut davon bei einem Treffen mit einigen Bekannten im Foyer des Hotels, eine Stunde vor Beginn der Lesung. Martin Heidegger, der auch anwesend war, verriet seine hilfreichen Vorgespräche nicht. Bei diesem ersten Zusammen- treffen zwischen Heidegger und Celan kam es zu der folgenden Szene. Nachdem man eine Weile angeregt miteinander gesprochen hatte, äußerte jemand den Wunsch, ein Foto machen zu wollen. Celan sprang auf und erklärte, er wünsche nicht, mit Heidegger fotografiert zu werden. Heidegger blieb gelassen, bedächtig kehrte er sich zur Seite und bemerkte zu Gerhart Baumann: Er will nicht, - nun, dann lassen wir es (62). Celan entfernte sich für eine kurze Zeit, und als er wieder zurückkam, gab er zu verstehen, seine Einwände, zusammen mit Heidegger aufgenommen zu werden, seien entfallen. Doch die erste Zurückweisung wirkte nach, keiner nahm den Vorschlag wieder auf. Jetzt zeigte sich Celan betroffen von der Wirkung seines Verhaltens und versuchte das Verletzende zurückzunehmen. Nach der Lesung traf man sich wieder zu einem Glas Wein. Heidegger schlug vor, in der Morgenfrühe hinauf in in den Schwarzwald zu fahren, ein Hochmoor zu besuchen und die Hütte in Todtnauberg. So wurde es vereinbart. Heidegger war kaum aufgebrochen, da erhob Celan, der mit Gerhart Baumann zurückblieb, Einwände und Bedenken gegen den Vorschlag, dem er zuvor zugestimmt hatte. Es falle ihm schwer, erklärte er, mit einem Mann zusammenzukommen, dessen Vergangenheit er nicht vergessen könne. "Das Missbehagen steigerte sich rasch zur Ablehnung", berichtet Baumann, der Celan an seinen ausdrücklichen Wunsch erinnerte, Heidegger zu treffen und mit ihm zusammen zu sein. Celan machte keinen Versuch, die Widersprüche aufzulösen. Die Vorbehalte blieben, andererseits beeindruckten ihn das Werk und die Person Heideggers. Er fühlte sich angezogen und machte sich dies zugleich zum Vorwurf. Er suchte die Nähe und verbot sie sich. Am nächsten Tag unternimmt Celan den Ausflug nach Todtnauberg. Er verbringt einen Vormittag mit Heidegger auf der Hütte. Worüber die beiden gesprochen haben, wissen wir nicht. Celans Eintragung ins Hüttenbuch lautet: "Ins Hüttenbuch, mit dem Blick auf den Brunnenstern, mit einer Hoffnung auf ein kommendes Wort im Herzen.“ Das "kommende Wort" - es konnte vieles bedeuten. Erwartete Celan ein Schuldbekenntnis und war enttäuscht darüber, dass Heidegger es nicht ablegte? Aber enttäuscht wirkte Celan ganz und gar nicht, berichtet Baumann, der die beiden wenige Stunden später in einem Gasthaus trifft: "Zu meinem freudigen Erstaunen fand ich den Dichter und den Denker in aufgeräumter Stimmung. Sie skizzierten die Ereignisse der zurückliegenden Stunden, der Gang zur 'Hütte' wurde nachdrücklich erwähnt. Von Celan war alle Schwere gewichen." Hochgemut sei Celan am anderen Tag nach Frankfurt abgereist. Marie Luise Kaschnitz trifft dort zu ihrer Überraschung einen völlig veränderten Paul Celan. Zu Freunden sagte sie: "Was haben die in Freiburg aus ihm gemacht, was ist in ihm dort vorgegangen; er ist nicht wiederzuerkennen" (72).

In dieser hochgemuten Stimmung schreibt Celan am 1.August 1967 das Gedicht "Todtnauberg":

"ARNIKA; AUGENTROST, der / Trunk aus dem Brunnen mit dem / Sternwürfel drauf, // in der / Hütte, // die in das Buch / - wessen Namen nahms auf / vor dem meinen? -, / die in das Buch geschriebene Zeile von / einer Hoffnung, heute, / auf eines Denkenden / kommendes (un- / gesäumt kommendes) / Wort / im Herzen..."
Das "kommende Wort" - diese Zeile antwortet auch auf Heideggers metaphysischen Adventismus, auf Heideggers kommenden Gott, auf das Unterwegs zur Sprache, das eine Kehre zu bringen vermag. Das "kommende Wort" ist jedenfalls nicht nur ein Wort der politischen Absolution Heideggers. "Ungesäumt kommendes Wort" heißt es in der ersten Fassung des Gedichtes, das Celan Heidegger 1968 übersendet. In der Gedichtsammlung "Lichtzwang" von 1970 tilgt Celan die in der Klammer ausgesprochene Hoffnung auf das "ungesäumt kommende" Wort. Inzwischen hatte es weitere Begegnungen gegeben, es wurden Briefe gewechselt. Die Bindung wurde freundschaftlich. Im Sommer 1970 wollte Heidegger Celan durch die Hölderlin-Landschaft der oberen Donau führen. Er hatte Vorbereitungen getroffen. Aber es kam nicht mehr dazu. Im Frühjahr 1970 nahm sich Paul Celan in Paris das Leben. Heidegger verhielt sich Celan gegenüber werbend, aufmerksam, bisweilen fürsorglich. Bei der letzten Begegnung am Gründonnerstag 1970 war es nochmals zu einem kleineren Eklat gekommen. Celan hatte Gedichte vorgetragen, man hatte darüber gesprochen. So aufmerksam war Heidegger der Lesung gefolgt, dass er danach ganze Verse wörtlich zitieren konnte. Dennoch bezichtigte ihn Celan im Verlaufe des Gesprächs der Unachtsamkeit. In gedrückter Stimmung ging man auseinander. Baumann begleitete Heidegger auf dem Heimweg. Bei der Verabschiedung am Gartentor sagte Heidegger "mit Erschütterung" zu Baumann: "Celan ist krank heillos." Was hatte Celan von Heidegger erwartet? Wahrscheinlich wusste es Celan selbst nicht. Heideggers Wort Lichtung war für ihn ein Versprechen, er wartete auf seine Einlösung. Vielleicht enthält Celans Wort "Lichtzwang" die ungeduldige Antwort.

aus: Rüdiger Safranski: Ein Meister aus Deutschland. München: Hanser, 1994
Zitiert nach: http://www2.hu-berlin.de/literatur/mitarbeiter/hoernigk/GNPRESS/SAFRANSZ.HTM

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