Urteil statt Vorurteil. Heute:
Reformation und Antijudaismus
von Klaus-Peter Lehmann

Allgemeines
Während der Reformationszeit änderte sich nur wenig an den prekären Lebensbedingungen der Juden. Das Vorurteil, sie seien wegen des angeblichen Mordes an Christus das von Gott verworfene Bundesvolk, seit der Antike eiserner Kern christlicher Theologie, bestand weiter. Dasselbe gilt für die Schmähung des Talmuds. Angeblich enthielt er Anweisungen, die Christen zu verfluchen. Deshalb erhoben sich immer wieder Stimmen, die jüdischen Schriften zu verbrennen. Von katholischer Seite drohten die mörderischen Anschuldigungen des >Ritualmordes und des >Hostienfrevels und ihretwegen Folter, Hinrichtung und Vertreibung. Auch der Vorwurf des Wuchers blieb virulent. Mit dem Vorrücken der Osmanen kam die Bezichtigung auf, Spionage für die Türken zu betreiben. Schriften von Konvertiten lieferten angebliche Beweise für diese Hetze. Die soziale Lage der Juden war deshalb äußerst prekär. Seit dem 15. Jh. entzog Stadt um Stadt den Juden das Aufenthaltsrecht. Sie wanderten in ländliche Siedlungen aus, meist jedoch nach Osteuropa. Die Vertreibungen setzten sich im 16. Jh. fort.  (1)  Die Verbliebenen lebten in rechtlicher Unsicherheit. Die Landesherren gaben ihnen nur Privilegien auf Zeit. So mussten sie um Bleibe und wirtschaftliche Sicherheit immer wieder neu verhandeln. Zudem forderten einflussreiche Reformatoren (Bucer, >Luther) eine drastische Erschwerung ihrer Lebensumstände, oft bis zur Zerstörung des religiösen Lebens. Der Kaiser, dessen Kammerknechte die Juden im reichsrechtlichen Sinne waren, konnte gegebene Schutzgarantien kaum durchsetzen. Kontakte von Reformatoren zu Juden ergaben sich nur aus Disputationen, aus Bemühungen um die hebräische Sprache (>Reuchlin) oder mit konvertierten Juden. Persönliche Kontakte wurden nur zum Zweck der Bekehrung wirklich geduldet.

Josel von Rosheim
Im Lebensweg des Josel von Rosheim (1476-1554) spiegelt sich die Situation der Juden in Mitteleuropa in der frühen Neuzeit. Er wurde in der ersten Hälfte des 16. Jh. zum Sprecher und Anwalt der jüdischen Gemeinden im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation.

Verfolgung und Tod zeichneten das Leben seiner Familie. 1470 wurden drei Brüder seines Vaters wegen eines angeblich acht Jahre zuvor verübten Ritualmordes hingerichtet, unter ihnen Rabbi Elieser. Ein bei ihm verschuldeter Schlachtermeister war als Ankläger aufgetreten. Daraufhin verließ die Familie Endingen (Südbaden) und ließ sich in Oberehnheim nieder. 1476 mussten sie mit der jüdischen Gemeinde vor den Verfolgungen durch schweizerische Landsknechte nach Hagenau fliehen. Dort wurde Josel von Rosheim geboren. In jungen Jahren wirkte er als Rabbiner und lebte von Handel und Geldverleih. 1507 gelang es ihm in Verhandlungen mit kaiserlichen Beamten, die Ausweisung von Juden aus Oberehnheim rückgängig zu machen. 1510 wählte man ihn zum Sprecher der elsässischen Juden.

1514 wurde Josel von Rosheim zusammen mit sieben anderen Juden der Hostienschändung angeklagt und eingekerkert. Er konnte ihre Unschuld beweisen und sie kamen frei. Danach ließ er sich für immer in Rosheim nieder.
1520 bei der Kaiserkrönung von Karl V. in Aachen erwirkte Josel einen Schutzbrief für alle Juden. Der bestätigte die von Kaiser Maximilian I. zehn Jahre zuvor gegebenen Rechte. 1530 erlangte Josel ihre abermalige Bekräftigung.
1525 während des Bauernkrieges gelang es ihm durch eine Disputation mit dem Bauernführer Erasmus Gerber, von der Stadt Rosheim die Erstürmung und von ihren Juden die Vertreibung abzuwenden.

Auf dem Reichstag zu Augsburg 1530 widerlegte Josel in einer Disputation alle Anschuldigungen, die der Konvertit Antonius Margaritha in seinem Buch Der gantze Jüdisch Glaub erhoben hatte. Daraufhin musste Margaritha die Stadt verlassen. Dennoch diente sein Buch Luther  (2)  u.a. bis in die nächsten Jahrhunderte als Beweis für antisemitische Vorwürfe.

Auf demselben Reichstag verlas Josel seine Takkanot (Kommentare) für einheitliche Regeln im Geldverkehr zwischen Juden und Christen. So verhinderte er antijüdische Verordnungen, die den Juden Betrug und Wucher vorwarfen. Gleichzeitig verabschiedete man eine Reichspolizeiordnung, die ihnen das Tragen eines gelben Ringes an Rock oder Kappe vorschrieb.

Der Kurfürst von Sachsen Johann Friedrich, genannt der Großmütige, veröffentlichte 1536 ein Edikt, das den Juden sofortige Vertreibung androhte. Mit Empfehlungen des Straßburger Magistrates und des Reformators Capito an den Fürsten und an Luther reiste Josel von Rosheim nach Sachsen. Luther empfing ihn nicht und lehnte jede Fürsprache ab. Auf dem Reichstag in Frankfurt 1539 erreichte Josel eine Unterredung mit Johann Friedrich, dessen Aufmerksamkeit er geweckt hatte. Er hatte die bösartigen Vorwürfe des Reformators Bucer öffentlich widerlegt. Außerdem bewies Melanchthon die Unschuld der 39 Juden, die 1510 in Brandenburg des >Hostienfrevels angeklagt und verbrannt worden waren. Daraufhin nahm der Kurfürst von Brandenburg die Vertreibung der Juden zurück.  (3)  Auch der Fürst von Sachsen nahm von seinem Vorhaben Abstand.

Auf dem Reichstag zu Regensburg 1541 konnte Josel ein Edikt verhindern, das den Juden den Geldhandel verboten hätte.

Reformatorische Theologen
1538 entstand eine Kontroverse über die Judenordnung, die in der Landgrafschaft Hessen eingeführt werden sollte. Der Entwurf der Kanzlei des Grafen orientierte sich an christlichen Eigeninteressen: beste Bedingungen für die Judenmission, Schutz der christlichen Zünfte vor jüdischer Konkurrenz. Demzufolge sollten jüdische Familien gezwungen werden, Predigten von Judenmissionaren zu besuchen. Außer mit ihnen sollten sie mit keinem Christen über Glauben sprechen dürfen. Der jüdische Geldhandel sei auf Orte ohne Zünfte zu beschränken. Dagegen erarbeitete Bucer einem weitaus schärferen Ratschlag, ob christliche Obrigkeit gebühren möge, das sye die Juden undter den Christen zu wohnen gedulden. Wegen ihrer angeblichen Tücke wollte er den Juden Handel und Leihgeschäft untersagen und ihnen Zwangsarbeiten aufdrücken wie Kloaken reinigen, Kalk brennen, Befestigungen anlegen. Die Begründung entnahm er den sog. Fluchsprüchen an Israel 5Mose 28,43f: Der Fremdling, der bei dir ist, wird über dich steigen und immer oben schweben. Er wird das Haupt sein und du wirst der Schwanz sein. In einem eigenständigen Entwurf bezog sich Philipp der Großmütige auf 5Mose 10,18: Gott hat den Fremdling lieb, darum sollt ihr auch die Fremdlinge lieben und auf Röm 11: Hat denn Gott sein Volk verstoßen? Es ist aus ihrem Fall den Heiden Heil widerfahren. Philipp schloss daraus: Derwegen die Juden uns umb der väter willen zu lieben sind. Seine Judenordnung enthielt gleichwohl harte Einschnitte: Disputations- und Beischlafverbot zwischen Christen und Juden, Verbot der Verbreitung jüdischer Schriften, landesherrliche Kontrolle des gesamtem jüdischen Geschäftswesens.

Luthers Schrift Von den Juden und ihren Lügen (1543) ging über die Suche nach biblischen Gründen für eine Einschränkung jüdischen Lebens hinaus. Die hier erhobenen Anschuldigungen und die Empfehlungen, Synagogen und Häuser der Juden zu zerstören und sie zu vertreiben, sind von Judenhass geprägt. Weil diese Schrift vielerorts zu hartem Vorgehen gegen Juden geführt hatte, widerlegte Josel von Rosheim Luthers Gemeinheiten in einer umfangreichen Eingabe an den Straßburger Magistrat, woraufhin dieser ihre Neuauflage verbot.

Um Ostern 1540 wurde in Sappenfeld, einem Dorf bei Eichstätt, ein kleiner Junge ermordet. Die Volksmeinung bezichtigte die Juden in Tittingen des >Ritualmordes. Der Bischof ließ eine Untersuchung anberaumen. Unerwartet erstand den Juden in dem Nürnberger Reformator Andreas Osiander ein Verteidiger. In seinem Judenbüchlein. Schrift über die Blutbeschuldigung legte er dar, dass den Juden Mord und Blutgenuss verboten und alle Bezichtigungen frei erfunden seien. Gegen die aufsehenerregende Verteidigungsschrift verfasste der Theologe Johannes Eck eine umfangreiche Gegenschrift. Er stellte alle Ritualmordanschuldigungen als erwiesen hin. Allein der blutgierige Charakter der Juden spreche dafür. Osiander musste sich von katholischer und reformatorischer Seite Schmähungen gefallen lassen, er sei ein teuflischer Erzjude.  (4) 

Reichstag zu Speyer 1544
Das Speyerer Privileg gab den Juden Sicherheiten und Freiheiten wie nie zuvor. Es garantierte Geleit für Handel und Wandel, verbot die Schließung von Synagogen und jüdischen Schulen sowie Vertreibungen. Es garantierte den Juden dauerhafte Ansässigkeit und erlaubte ihnen höhere Zinsen zu nehmen.

Das kontrastierte mit der Eingabe des Kurfürsten von Sachsen, der vorschlug, die Hälfte des jüdischen Vermögens für die Finanzierung der Türkenhilfe zu konfiszieren und die Juden aus dem Reich zu vertreiben. Denn sie würden Christum erschrecklich lestern, für die Türken spionieren und im Reich die Untertanen und Stände außwuchern.

Josel erwirkte 1548 eine Bestätigung des Privilegs, die er damit begründete, dass die Juden auf den strassen, stetten und märkten des heiligen Reichs Raub, Mord, Entführung und Vertreibung ausgesetzt seien. Diese Begründung gab die Realität jüdischer Existenz wieder und macht deutlich, wie wenig der kaiserliche Judenschutz griff.

Ausblick
Nach dem Tod Josels von Rosheim hatten die Juden keine Gesamtvertretung mehr. Die aktive Politik am kaiserlichen Hof kam zum Erliegen.  (5)  1603 versuchte eine Rabbinerversammlung in Frankfurt eine übergeordnete Autorität zu schaffen. Die Erzbischöfe von Köln und Mainz strengten einen Prozess wegen Verschwörung an. So verblieben die jüdischen Gemeinden in organisatorischer Vereinzelung und wurden noch mehr zum wehrlosen Spielball von Machtinteressen.

Alle Reichstage im 16. Jh. hatten sich mit den Juden befasst. Man behandelte sie durchweg als Wirtschaftssubjekte, deren Wucher es einzudämmen galt. Die Reformatoren reproduzierten dieses tief sitzende Vorurteil. Ihre Ablehnung der Wahnideen von Ritualmord und Hostienfrevel brachten den Juden kaum Entlastung. Entscheidend für die Zukunft war die bleibende Verwurzelung des antijüdischen Wahnkomplexes aus Christusmord und Wucher im Volk. So sehr die Reformatoren das rebellische Verhalten der Bauern geißelten, so wenig predigten sie gegen den Antijudaismus des Volkes. Eine Konstellation, die die neuzeitliche Haltung aus Obrigkeitsgehorsam und Antisemitismus beförderte.

  1. 1418 Trier; 1424 Köln; 1439 Augsburg; 1475 Bamberg; 1492 Mecklenburg, Pommern; 1493 Magdeburg; 1494    Reutlingen; 1496 Steiermark, Kärnten, Krain; 1498 Nürnberg, Württemberg, Salzburg; 1499 Ulm; 1510 Berlin, Mark Brandenburg; 1519 Regensburg; seit 1520 schlossen fast alle Reichsstädte Südwestdeutschlands die Juden vom Wohnrecht aus; 1553 Bayern; 1555 Pfalz-Neuburg; Oberpfalz; 1567 Würzburg. Danach existierten im Reichsgebiet noch vier große jüdische Gemeinden: in Prag, Frankfurt a. M., Worms, Friedberg. Im 17. Jh. gingen die Vertreibungen weiter: 1614 Frankfurt; Worms; 1616 Bekräftigung der Ausweisung aus Bayern, Zutritt nur per Transit; 1636 Kaufbeuren.
  2. In seinem antijüdischen Pamphlet Von den Juden und ihren Lügen bezog sich Luther auf Antonius Margaritha. Josel von Rosheim kommentierte: Margaritha ging nachher zu Luther in den Bund und wurde wie Dornen in unserer Seite.
  3. Im Berliner Hostienschändungsprozess wurden auf Grund von durch Folter erpressten Selbstbezichtigungen am 19.7.1510 auf dem Neuen Markt in Berlin 39 Juden verbrannt und anschließend alle Juden aus der Mark vertrieben.
  4. Osiander sei ein Judenvater, ein Spitzbube, aus dem der Teufel rede (J. Eck) bzw. er war ein Jude, ist ein Jude und wird ein Jude bleiben. Der Teufel hat einen Ring durch Osianders Nase gezogen und führt ihn dorthin, wohin er will (Humanist und Reformator Johann Agricola); s. Die Juden und Martin Luther, Hrg. H. Kremers, 1987, S. 68f.
  5. Das Hagenauer Memorbuch rühmte Josel von Rosheim nach seinem Tode, weil er weder Ehre noch sein Vermögen geschont und weil er viele Jahre sein Leben in Gefahr gebracht hat durch seine Fürbitte und seinen Schutz für die Gesamtheit und für Einzelne. Er ging länger als 40 Jahre an die Höfe der Könige und hielt von der jüdischen Nation Austreibungen, Unterdrückungen, Verfolgungen und Ermordungen fern. Für alles nahm er weder Dienst noch Belohnungen. Er tat es nur aus Liebe zu Gott und zu Israel.

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