Geteilte Erinnerung
Wie evangelische und katholische Christen an die Zeit des Nationalsozialismus erinnern
von Simon Kuntze

Evangelische und katholische Kirche gehen unterschiedlich mit der Erinnerung an die Zeit des Nationalsozialismus und an ihre historische Rolle darin um. Simon Kuntze über konfessionelle Voraussetzungen in der Gedenkkultur.

Die evangelische und katholische Kirche teilt im doppelten Wortsinn die Erinnerung an die Zeit des Nationalsozialismus. Beide Kirchen erfahren durch die gemeinsame Erinnerung Gemeinschaft. Es gibt jedoch konfessionelle Spezifika der Erinnerung, die zum einen in der unterschiedlichen Erfahrung der Kirchen in dieser Zeit gründen, zum anderen in den konfessionellen Voraussetzungen, die diese Erinnerungen prägen. Zwei Phänomene dieser geteilten Erinnerung sind näherer Betrachtung wert:

– In der Gedenkstätte Plötzensee gedenken Katholiken und Protestanten alljährlich der Widerstandskämpfer des 20. Juli und ihrer Hinrichtung. Sie tun dies gemeinsam im Gottesdienst. Das Abendmahl wird in einem Raum gefeiert, doch an getrennten Tischen.

– Die katholische und die evangelische Kirche feiern in diesem Jahr am 25. Juni gemeinsam die Seligsprechung der »Lübecker Märtyrer«. Die Seligsprechung der katholischen Kaplane Hermann Lange, Eduard Müller und Johannes Prassek und das ehrende Gedenken des evangelischen Pastors Karl-Friedrich Stellbrink wird zwar einzig durch die katholische Kirche verantwortet; aber erstmals wurden die Feierlichkeiten zu einer Seligsprechung gemeinsam von Protestanten und Katholiken vorbereitet. Ein Evangelischer Gottesdienst wird am Vorabend des Pontifikalamts zur Seligsprechung gefeiert.

Sind diese Phänomene Grund zur Hoffnung auf eine tiefer gehende Ökumene?

Abendmahl – geteilte Erinnerung

Katholische und evangelische Christen eint die Erinnerung an Jesus Christus und an eine geteilte Geschichte. Das Ärgernis der fehlenden Tischgemeinschaft hebt diese gemeinsame Erinnerung nicht auf. Es erinnert einzig daran, dass die Menschen schwach sind und Gott der Herr nicht einzig der Gekommene ist, sondern als solcher auch der Kommende, der die Einheit in Christus sichtbar machen wird. Über diese Trennung am Tisch des Herrn wird der kommende Christus sein befreiendes Gerichtswort sprechen, auf das katholische und evangelische Christen gewiss gemeinsam hoffen.

Seit bald 40 Jahren versammeln sich am 20. Juli Angehörige hingerichteter Widerstandskämpfer in Berlin-Plötzensee. In dem sog. Hinrichtungsschuppen wurden viele der Männer getötet, die an dem Attentat auf Hitler am 20. Juli beteiligt waren, oder mit den Beteiligten in Verbindung standen. Markantes Signum des Ortes ist der Eisenträger mit seinen herabhängenden Haken, an dem Verurteilte gehenkt wurden. An diesem Ort wurden zwischen 1933 und 1945 2891 Menschen ermordet. Viele der hier Hingerichteten wurden als Widerstandskämpfer verurteilt, andere auf Grund von Bagatelldelikten, wenige auf Grund schwerwiegender Straftaten.
Surreal ist die Lage der Gedenkstätte mitten im Areal der modernen Justizvollzugsanstalt Plötzensee, abgegrenzt vom Vollzug durch hohe Mauern. Ungewöhnlich ist die Situation: katholische und evangelische Christen feiern den Abendmahlsgottesdienst zum 20. Juli gemeinsam in diesem Hinrichtungsschuppen – und doch getrennt. Die katholischen Feiernden treten gemeinsam zur Eucharistie, die evangelischen Gläubigen feiern im Anschluss Abendmahl.

Das ist eine berührende und schmerzliche Geste des gemeinsamen Gedenkens an die Verstorbenen und eine Geste der geteilten Erinnerung an Jesus Christus. Dass es überhaupt möglich ist, zu einem gemeinsamen Abendmahlsgottesdienst in einem Raum zu gleicher Zeit zusammenzukommen, verdankt diese Gemeinde der gemeinsamen geistlichen Erfahrung katholischer und evangelischer Oppositioneller im Dritten Reich, dem Wunsch der Angehörigen nach einer gemeinsamen Gedenkfeier und dem Engagement der früheren Geschäftsführerin des »Hilfswerks 20. Juli«, Gertrud Lampe. Die Kirchen der evangelischen und katholischen Konfession konnten sich dieser ökumenischen Notwendigkeit nicht entziehen und wollten das auch nicht. Eberhard Bethge betonte allerdings, dass nicht der Wille, neue Wege bei der gemeinsamen Feier des Abendmahls zu gehen, ausschlaggebend war: »Jeder blieb bei seinen kirchenrechtlichen Festlegungen; wir verletzten keine Sperre im Sinne einer Konzelebration. Mit gewisser Trauer blieb jeder bei Lehre und Praxis seiner Kirche. Wir wollten keine Sensation als Vorreiter einer Kirchenreform. Aber wir wollen uns auch nicht mehr geographisch und zeitlich einfach wieder trennen lassen an der Stelle, wo unser Herz am stärksten von gleicher Erfahrung der Nähe und der Ferne Gottes getroffen war und ist.«1

Für Bethge war diese Ökumene bestimmt durch die Erfahrung der gegenseitigen Amtshilfe im Zellengefängnis Lehrter Straße 3. Der evangelische Pfarrer Bethge und der katholische Pater Odilo Braun teilten sich Wein und Abendmahlsoblaten, und sie verhalfen sich so gegenseitig zur Mahlfeier, freilich nicht zum gemeinsamen Mahl.

Die gottesdienstliche Feier in Plötzensee ist Ausdruck der Trennung: katholische und evangelische Christen kommen nicht gemeinsam an den Tisch des Herrn. Sie ist aber auch Ausdruck der gemeinsamen Trauer und der geteilten Erinnerung an die Zeit des nationalsozialistischen Regimes und des Widerstandes dagegen.

Für einige der damaligen Kämpfer stand damals staatlicher Totalitarismus gegen den Anspruch und Zuspruch Christi, der dem ganzen Menschen gilt: Helmuth James von Moltke hörte Freislers Anklage vor dem Volksgerichtshof deshalb als Gottes Wort aus Teufels Mund: »Nur in einem sind das Christentum und wir gleich: wir fordern den ganzen Menschen!« – Moltke schrieb dazu im Brief vom 10./11.1.1945 an Freya von Moltke: »Von der ganzen Bande hat nur Freisler mich erkannt, und von der ganzen Bande ist er auch der Einzige, der weiß, weswegen er mich umbringen muss.«2

Gemeinsames Zeugnis – ­Gemeinsames Martyrium

Die Heiligen der Kirche sind nach evangelischem Verständnis den Glauben stärkende Exempel der Gnade Gottes (CA XXI), nach katholischem Verständnis in besonderer Weise bei Gott Fürbittende für die Lebenden (DH 1821). Die Märtyrer sind Heilige der Kirche, die ihren Glauben im Widerspruch bekannt haben und dafür bewusst den Tod in Kauf nahmen. So wurden in der Kirche in besonderer Weise die Toten zu Zeugen der Herrlichkeit Gottes und der Gottestreue der Menschen. Während im Zeitalter der konfessionellen Spaltungen die Märtyrer auch zu Zeichen des Streits unter den christlichen Geschwistern wurden, erkennen wir in den Märtyrern des 20. Jh. das gemeinsame Bekenntnis evangelischer, katholischer und orthodoxer Christen zu Gott, auf den sie im Leben und im Sterben vertrauen und dem sie gehorsam sind. Dieses Bekenntnis wurde im totalitären Unrechtsstaat zum Zeugnis des Widerstands gegen die völlige Indienstnahme des Menschen durch den Staat.

Papst Johannes Paul II. sprach 1995 in der Ökumene-Enzyklika »Et unum sint« von dem »Ökumenismus3 der Märtyrer und Glaubenszeugen«, der lauter spreche als die »Faktoren der Trennung« und »am meisten überzeuge«. Denn in den Heiligen, die in der Gemeinschaft mit dem verherrlichten Christus sind, ist eben die Gemeinschaft der Kirche in Christus verwirklicht, die in den Kirchen noch nicht zu sehen ist4. Auch wenn die katholische Kirche die evangelischen Kirchen nicht als Gemeinschaften anerkennen könne, in denen die »Fülle der Elemente« der bereits im Pfingstereignis vollendet offenbar gewordenen Kirche vorhanden ist, sind doch die Märtyrer dieser kirchlichen Gemeinschaften in der »vollen Gemeinschaft der Heiligen«5. Es bereitet der katholischen Kirche deshalb keine Schwierigkeiten, die Märtyrer anderer kirchlicher Gemeinschaften als Heilige anzuerkennen.

Die Deutsche Bischofskonferenz und die Evangelische Kirche in Deutschland veröffentlichten 2002 eine »Sammlung von Lebensbildern« christlicher Märtyrer des 20. Jh. – »Zeugen einer besseren Welt« –, die ganz im Sinne der päpstlichen Enzyklika an die »Gemeinsamkeit im christlichen Zeugnis« erinnern soll6. Anlässlich der Veröffentlichung dieses ökumenischen Martyrologiums feierten der Ratsvorsitzende der EKD, Präses Manfred Kock, und der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Bischof Kardinal Lehmann, den Gedenkgottesdienst am Fest Allerheiligen 2000 in der Gedenkkirche der Deutschen Katholiken in Berlin, Maria Regina Martyrum.

Am 25. Juni 2011 ehren die katholische und die evangelische Kirche gemeinsam die drei katholischen Kaplane Eduard Müller, Johannes Prassek und Hermann Lange und den evangelischen Pastor Karl-Friedrich Stellbrink. Die Vorgeschichte dieser besonderen Feier bezeugt aber nicht allein den »Ökumenismus des Märtyrergedenkens«, sondern auch die unterschiedliche Konnotation der Erinnerung in der evangelischen und katholischen Kirche.

Die unterschiedlichen Erfahrungen, die die evangelische und katholische Kirche in der Zeit des Nationalsozialismus mit sich selbst gemacht haben, prägten in der Nachkriegszeit die Erinnerung und Bewertung der kirchlichen Opfer des Nationalsozialismus. Die evangelische Kirche kämpfte in dieser Zeit mit sich um das rechte Bekenntnis und die diesem Bekenntnis entsprechende Verhältnisbestimmung zum Staat; die katholische Kirche kämpfte gegen die widerkirchlichen Gewalten, wie sie sie im 20. Jh. im Nationalsozialismus und im Bolschewismus wahrnahm.

Die Frage nach der Anerkennung als Märtyrer oder Glaubenszeuge, die sich nach dem Krieg stellte, wurde in der evangelischen Kirche auch vor dem Hintergrund der innerkirchlichen Auseinandersetzung um das rechte Bekenntnis beantwortet. Der Lübecker Märtyrer Karl-Friedrich Stellbrink fand keine Aufnahme in das 1948 von Bernhard Heinrich Forck im Auftrag des Bruderrates der EKD herausgegebene »Gedenkbuch für die Blutzeugen der Bekennenden Kirche«. Hingerichtet wurde Stellbrink wegen einer Predigt am 29. März 1942, in der er die Bombardierung Lübecks als »Gottes mächtige Stimme« deutete: »Die Lübecker werden wieder lernen zu beten«7. Doch Stellbrink war kein glänzender Heiliger, und schon gar kein lupenreiner Bekenntnispfarrer. Er hatte sehr früh Partei für die NSDAP ergriffen und gehörte noch bis 1942 den Thüringer Deutschen Christen an. Es erschien fraglich, ob seine Widerständigkeit den Glauben der nachgeborenen Christen stärken könne. Zugleich war die fehlende Unterstützung für den zum Tode verurteilten Pastor seitens der evangelischen Kirche eine belastende Erinnerung. Die evangelische Kirche hatte ihren Geistlichen nach Bekanntwerden seiner Gerichtspredigt nicht etwa gegen die Gestapo in Schutz genommen, sondern ihn seines Amtes enthoben und ein Disziplinarverfahren eingeleitet. Stellbrinks Widerstand gegen die Nationalsozialisten wurde entsprechend auch nach dem Krieg als politischer Widerstand interpretiert. Die Ehrung des evangelischen Pfarrers durch die katholische Kirche brachte die EKD nach dem Krieg überhaupt erst in die Not, sich mit der Frage zu befassen, ob denn Stellbrink als »Blutzeuge« anerkannt werden könne. Die Antwort wurde zunächst einmal – eben in dem von Forck herausgegebenen Gedenkbuch – abschlägig beschieden. Erst 1960 wird Stellbrink im Märtyrer-Artikel des Lexikons »Religion in Geschichte und Gegenwart«8 genannt.

Die evangelische Kirche erinnert also mit Stellbrink nicht allein den Tod eines standhaften Christen, sondern auch die zerrissene Situation der evangelischen Kirche, die zur Zeit des Nationalsozialismus teilweise staatstragend und dem Nationalsozialismus treu ergeben, teilweise intern kirchlich, teilweise auch politisch widerständig war. Der katholischen Kirche hingegen scheint es leichter zu fallen, diese inneren Widersprüche – die es ja auch in der katholischen Kirche gab – in ein Kirchen- und Märtyrerverständnis einzuschreiben, das diese Beispiele des Glaubensmutes immer auch in einem gewissen kirchlichen Gegensatz zur Welt sieht. Dieser Gegensatz zwischen dem nationalsozialistischen Staat und der katholischen Kirche kann so auch ein Licht auf das gegenwärtige Verhältnis zwischen Kirche und Gesellschaft werfen. Papst Benedikt XVI. erinnerte im letzten Jahr in einer Ansprache an die Lübecker Märtyrer und zog daraus Konsequenzen für die Beurteilung der gegenwärtigen Situation: Ein solcher Glaubensmut, ein solches Vertrauen auf den persönlichen Gott – so der Tenor seiner Ansprache – fehle in der heutigen Gesellschaft, wo der Mensch in seiner Integrität und Würde durch Entwicklungen in der Biotechnologie oder der Sexualethik gefährdet werde9. Nicht diese Selbstsicherheit, mit den Lübecker Märtyrern auf der richtigen Seite zu stehen, ist dabei bemerkenswert oder konfessionell spezifisch, sondern die Unterscheidung zwischen einer Gott vergessenden Welt und einer Gott erinnernden Kirche.

In der evangelischen Theologie hingegen wurde und wird der Kampf dieser Zeit als eine Auseinandersetzung um die »rechte Kirche« innerhalb der Kirchenmauern verstanden. Diesem Selbstverständnis entsprechend ist die Erinnerung der evangelischen Kirche geprägt: Nicht so sehr die Gottvergessenheit der Welt gerät hier in den Blickpunkt (diese wird vielmehr vorausgesetzt und der Mission anheimgestellt), als vielmehr die Gotteslästerung und Schuld der Kirche selbst.

Wir sind damit bei der Kernfrage der ökumenischen Auseinandersetzung mit der Vergangenheit: Wie setzen sich die evangelische und die katholische Kirche mit der Schuld auseinander, die Christen und christliche Würdenträger in der Zeit des Nationalsozialismus auf sich geladen haben?

Mea culpa – mea maxima culpa. Das Schuldbekenntnis der ­evangelischen und der ­katholischen Kirche

Schuldig geworden ist die Kirche aus Juden und Heiden am Tode Christi. Weil so das Maß der Schuld übervoll wurde, ist auch Gottes Gnade übermächtig geworden. Aber ist nun etwa Gottes Gnade an des Menschen Schuld gebunden und der Mensch die Kraft, die die göttliche Gnade durch eigene Schuld erwirkt? Nein: Der Mensch ist nicht verantwortlich für Gottes Gnade. Der Mensch ist verantwortlich für seine Schuld.

Luthers Klage über die »normalkatholische« Frömmigkeit entzündete sich an der unzureichenden Buße der Gläubigen. Die Emphase seiner Kritik gründete in seinem Sündenverständnis: Die Sünde bleibe auch nach der Taufe bestehen, und zwar nicht allein als zur Sünde nur neigende Konkupiszenz10, sondern als echte Sünde, wie sie auch vor der Taufe dem Menschen eigen war. Der Christ ist zugleich voll und ganz Gerechter und voll und ganz Sünder: Gerecht, wo er auf Gottes fremde Gerechtigkeit, seine Gnade, vertraut. Ein Sünder, wo er auf die eigene Gerechtigkeit baut11. Dies gilt nicht nur für den Einzelnen, sondern für die Kirche insgesamt. »Heilig ist die Kirche, das ist wahr, Aber heilig sein heißt nicht ohne Sünde und ohne Irrtum sein hie auf Erden, sondern es heißt …: Im Geist heilig sein, durch Gottes Wort, und doch in Sünden sein, durchs Fleisch.«12

Die katholische Kirche hingegen entwickelt sich nach der Reformation ihrem Selbstverständnis nach nicht allein zur petrinischen Kirche – der in ihrem päpstlichen Lehramt ex cathedra Unfehlbarkeit gegeben ist – sondern auch zur marianischen13: wie Maria ist auch die Kirche dem Wort, das sie dem Bräutigam gab, treu und bewahrt ihren unversehrten Glauben. Diese Vollkommenheit der Kirche ist freilich nur eingeschränkt an den Gläubigen selbst abzulesen: »Während aber die Kirche in der seligsten Jungfrau schon zur Vollkommenheit gelangt ist, in der sie ohne Makel und Runzel ist [vgl. Eph. 5,27], bemühen sich die Christgläubigen noch, die Sünde völlig zu besiegen und so in der Heiligkeit zu wachsen.«14

Diese Unterscheidung zwischen der an sich reinen Kirche und den im Kampfe stehenden Gläubigen korreliert der Auseinandersetzung der katholischen Kirche mit der Schuld zur Zeit des Nationalsozialismus. Während die Autoren der Stuttgarter Schulderklärung der EKD erklären: »Durch uns ist unendliches Leid über viele Völker und Länder gebracht worden«15 und so die Kirche und die deutsche Gesellschaft in einen Schuldzusammenhang stellen, fordert die katholische Bischofskonferenz in ihrem Hirtenwort vom 23. August 1945 »von Fall zu Fall« zu prüfen, wer Schuld auf sich geladen hat, damit nicht die Unschuldigen mit den Schuldigen leiden müssen. Auch die Vergebungsbitte Papst Johannes Pauls II. vom 1. Fastensonntag des Heiligen Jahres 2000 blickt auf die »Schuld ihrer [der Kirche] Söhne und Töchter«16. Die Kirche selbst ist nicht schuldig geworden, sondern vielmehr in der Lage, diese Schuld der Vergangenheit »auf ihre Schultern zu nehmen […], um das ›Gedächtnis zu reinigen‹«17: »Sie [die Kirche] ist nicht Sünderin in dem Sinn, dass sie selber Subjekt und Täterin der Sünde ist. Die Kirche versteht sich als Sünderin, insofern sie sich in mütterlicher Solidarität die Last der Sünden ihrer Glieder selber auflädt, denn sie möchte in ihrer mütterlichen Liebe mitwirken an der Überwindung der Sünde und dem daraus entstandenen Schaden für den Einzelnen und die Gemeinschaft.«18 Die Kirche selbst wird so zu dem Christus prolongatus, der vielleicht in seinen Gliedern Sünde getan hat, aber an sich sündlos ist und fremde Sünde trägt.

Die makellose Kirche und die sündigen Christen – so die Quintessenz der Schulderklärung von Papst Johannes Paul II. aus dem Jahr 2000. In der evangelischen Kirche hingegen wird durchaus von einer Schuld gesprochen, die die Kirche selbst im Innersten betrifft. Dieser Unterschied zwischen katholischem und evangelischem Schuldbekenntnis entspricht dem historischen Faktum, dass die evangelische Kirche zur Zeit des Nationalsozialismus viel stärker in die deutsche Gesellschaft und so auch in die Schuldgeschichte dieses Volkes verstrickt war. Dieses Eingeständnis, sündige Kirche der Heiligen zu sein, entspricht aber auch dem Bewusstsein, dass der Christ selbst stets simul iustus et peccator ist: Sünder im Vertrauen auf sich selbst; Gerechter im Vertrauen auf Christus. Die Stuttgarter Schulderklärung19 setzt entsprechend die Schuld der Kirche und der deutschen Gesellschaft voraus, und erklärt, was sich aus dieser Voraussetzung ergibt. Die Erklärung unterscheidet nicht zwischen der Schuld der Täter, der Schuld der Mitläufer und der Schuld derer, die zwar gegen den Geist gekämpft haben, »der im nationalsozialistischen Gewaltregiment seinen furchtbaren Ausdruck gefunden hat«, aber eben nicht »mutiger bekannt, nicht treuer gebetet, nicht fröhlicher geglaubt und nicht brennender geliebt haben«. Hingegen verweisen die Autoren auf eine »Solidarität der Schuld«, um einen neuen Anfang zu erbitten: einen neuen Anfang, der von dem Gott erhofft wird, der seinen Sohn gesandt hat, um die Sünde der Menschen zu tragen. Einen neuen Anfang, zu dem dieser Gott die Kirchen, die in Stuttgart zusammengekommen sind, gebrauchen möge: »Wir hoffen zu dem Gott der Gnade und Barmherzigkeit, dass er unsere Kirchen als sein Werkzeug brauchen und ihnen Vollmacht geben wird, sein Wort zu verkündigen und seinem Willen Gehorsam zu schaffen bei uns selbst und bei unserem ganzen Volk. Dass wir uns bei diesem neuen Anfang mit den anderen Kirchen der ökumenischen Gemeinschaft herzlich verbunden wissen dürfen, erfüllt uns mit tiefer Freude.«

Die Kirche ist hier nicht sündloser Sündenbock, der die Schuld des Volkes auf sich lädt und fort trägt. Die Kirche ist vielmehr der Ort, an dem die Schuld des Menschen vor Gott gebracht werden kann. Dietrich Bonhoeffers Rede von der Kirche, auf die die Schuld der Welt falle, sagt etwas anderes als die Rede Johannes’ Pauls II. von der Schuld, die die Kirche trage. »Es ist ein Zeichen der lebendigen Gegenwart Christi, dass es Menschen gibt, in denen die Erkenntnis des Abfalls von Jesus Christus nicht nur in dem Sinne wachgehalten wird, dass dieser Abfall bei den anderen konstatiert wird, sondern so, dass Menschen sich selbst an diesem Abfall schuldig bekennen. Das Bekenntnis der Schuld geschieht ohne Seitenblick auf den Schuldigen. […] die Menschen sind es, die alle, wirklich alle Schuld auf sich selbst nehmen, nicht in irgendeinem heroischen Entschluss der Aufopferung, sondern einfach überwältigt durch ihre eigene Schuld an Christus, und die in diesem Augenblick nicht mehr an vergeltende Gerechtigkeit gegenüber den ›Hauptschuldigen‹, sondern nur noch an die Vergebung ihrer eigenen großen Schuld denken können.«20 Die Kirche ist der Ort, an dem die Schuld am Tode des Gottessohnes bekannt werden kann. Die Kirche ist dabei evangelischem Selbstverständnis nach Gemeinschaft der Heiligen, weil sie auf die fremde Gerechtigkeit Gottes vertraut, und um sich selbst als Gesellschaft der Sünder weiß.

Gemeinsame Erinnerung: Wege und Stolpersteine

Die vergleichbare Erfahrung von Leiden, Schuld und Versöhnung in der evangelischen und katholischen Kirche in Deutschland ist heute ein Fundament gemeinsamer Erinnerung und ökumenischer Gemeinschaft. Diese Erinnerung ist jedoch konfessionell geformt. Katholiken und Protestanten erinnern die Schuld- und Leidensgeschichte der Kirchen und ihre Versöhnung mit Christus auf je eigene Weise. Die Irritation einer geteilten Kirche wird durch die gemeinsam begangene Erinnerung in der Gedenkstätte Plötzensee und bei den Gedenkveranstaltungen zur Ehrung der Lübecker Märtyrer nicht beseitigt – sie würde es auch nicht durch ein gemeinsames Schuldbekenntnis. Eher machen diese Zeichen der Gemeinschaft die Tragweite der Kirchenspaltung und fehlenden eucharistischen Gemeinschaft in ganzer Schärfe bewusst. Die Teilnehmer der gottesdienstlichen Feier in Plötzensee und die Mitglieder der Gremien, die die Feierlichkeiten in Lübeck vorbereitet haben, erfahren nicht allein, dass katholische und evangelische Christen gemeinsam gedenken, bekennen und danken, sondern ebenso, dass sie jeweils andere Worte und Formen für ihr Tun finden, auf die sie nicht gemeinsam zurückgreifen können.

Vielleicht erfahren sie jedoch etwas, was für die Ökumene eines Tages Frucht bringen wird: die Verlegenheit der Kirchen, die in ihrer Geschichte nicht allein den Lauf des Wortes Gottes darstellen, sondern ebenso die Fraglichkeit und »Relativität« menschlicher Gotteserfahrung. Fraglos ist nicht unsere Märtyrerverehrung, sondern Gottes Zusage seiner Treue. Fraglos ist nicht unser Abendmahlsverständnis, sondern Gottes Zusage der Versöhnung in Christus. Fraglos ist nicht unser Schuldbekenntnis, sondern Gottes Zusage der Vergebung. Aus der Unabgeschlossenheit und Fraglichkeit kirchlichen Lebens, das freilich seinen festen Grund in dem dreieinen Gott hat, wird nicht die eine »göttliche« Kirche erwachsen, aber hoffentlich das Bewusstsein der Bedürftigkeit der Christen aller Konfession. Der rechte Ausdruck dieses Bewusstseins wäre die gewährte Gastfreundschaft am Tisch des Herrn – bei und trotz aller konfessionellen Differenz. Eine evangelische Hoffnung? In Plötzensee und in Lübeck hoffentlich auch eine ökumenische.

Anmerkungen:

1 Bethge, Begrüßung. 20. Juli 1984. http://www.20-juli-44.de/pdf/1984_bethge.pdf
2 Helmuth James Graf von Moltke, Im Land der Gottlosen. Tagebuch und Briefe aus der Haft 1944/45. Herausgegeben und eingeleitet von Günter Brakelmann. München 2009, 339.
3 Der Ökumenismus ist das Streben danach, »die teilweise Gemeinschaft, die zwischen den Christen besteht, zu einer vollen Gemeinschaft in der Wahrheit und in der Liebe wachsen zu lassen.« (Ut unum sint, 25.5.1995; DH 5001) – im Gegensatz zu der Ökumene, wie sie in der katholischen Kirche bereits verwirklicht ist.
4 DH 5007.
5 Ebd.
6 Einleitung von K.J. Hummel/Chr. Strohm, in: Dies., Zeugen einer besseren Welt. Christliche Märtyrer des 20. Jahrhunderts, 16.
7 Dass Stellbrink für diese vergleichsweise harmlose Predigt und die Verteilung der Galen-Predigten verurteilt wurde, erklärt sich möglicherweise auch aus der Furcht der Nationalsozialisten, dass Stellbrink und die katholischen Kaplane zur Keimzelle eines konfessionsübergreifenden Widerstands werden könnten.
8 RGG, 3. Aufl.; Bd. 4, 591; nach Mensing, Martyrien 143.
9 http://www.vatican.va/holy_father/benedict_xvi/speeches/2010/september/documents/hf_ben-xvi_spe_20100913_amb-germania_ge.html
10 Luther, Rationis Latomianae confutatio, WA 8, 57; Lateinisch-Deutsche Studienausgabe II, 222.223; Konzil von Trient, Dekret über die Ursünde, DH 1515.
11 Luther, Rationis Latomianae confutatio, WA 8, 67; Lateinisch-Deutsche Studienausgabe II, 246.247.
12 Luther, WA 30 III; 342,3; nach Paul Schempp, Luthers Stellung zur Heiligen Schrift (1929), in: Ders.: Theologische Entwürfe, hg. von R. Widmann, München 1973, 10-74.36.
13 Johannes Paul II.: Apostolisches Schreiben »Mulieres dignitatem«; DH 4841. Entsprechend unterschied bereits die Pastoralkonstitution Gaudium et spes des 2. Vaticanum zwischen der unzerstörbaren Treue der Kirche und den Verfehlungen ihrer Glieder (DH 4343).
14 2. Vatikanisches Konzil, Dogmatische Konstitution »Lumen Gentium« (DH 4178).
15 Hervorhebung S.K.
16 Hervorhebung S.K.
17 Internationale Theologische Kommission (unter Leitung von Kardinal Joseph Ratzinger): Erinnern und Versöhnen. Die Kirche und ihre Verfehlungen in ihrer Vergangenheit. Freiburg 2000, 20f.
18 Ebd. 67.
19 Das Darmstädter Wort von 1947 unterscheidet sich hierin nicht vom Stuttgarter Schuldbekenntnis: Hier wie dort soll die Schuld der Kirche benannt und um Versöhnung und Freispruch gebeten werden. Den Autoren des Darmstädter Wortes ging es jedoch um eine konkretere Benennung der Schuld, wie sie ihrer Auffassung nach im Stuttgarter Schuldbekenntnis nicht geleistet worden war.
20 Dietrich Bonhoeffer, Ethik, 1961, 48f.

 

Deutsches Pfarrerblatt, ISSN 0939 - 9771; Herausgeber: Verband der Vereine evangelischer Pfarrerinnen und Pfarrer in Deutschland e.V., Rinnig 8, 96264 Altenkunstadt

Über den Autor
Pfarrer Simon Kuntze, Jahrgang 1975, Studium der Ev. Theologie und Arabistik, seit 2009 Pfarrer der EKBO, zunächst als Theol. Referent der Pröpstin, seit Mai 2010 Pfarrer in der Gustav-Adolf-Gemeinde in Berlin und im Ökum. Gedenkzentrum Plötzensee.

Aus: Deutsches Pfarrerblatt - Heft: 6/2011

zur Titelseite

zum Seitenanfang

ImDialog. Evangelischer Arbeitskreis für das christlich-jüdische Gespräch in Hessen und Nassau
Robert-Schneider-Str. 13a, 64289 Darmstadt
Tel 06151-423900 Fax 06151-424111 email