„So fremd und doch so nah – Juden und Muslime in Deutschland“
von Lamya Kaddor und Michael Rubinstein

Lamya Kaddor: Ja, wir haben auch Einpeitscher und Scharfmacher, die gegen Juden hetzen. Aber wichtig bei einer Diskussion, wie wir sie hier führen, ist doch, dass ich in meinem Eingangsstatement Kritik an der jüdischen Seite geübt habe. Also muss ich meine Argumente daraufhin zuspitzen, oder? Ich habe kein Handbuch oder keinen enzyklopädischen Artikel geschrieben, der ein Thema von oben bis unten, von rechts nach links aus allen Perspektiven beleuchtet. Also habe ich Kritik an einem Teil der Vertreter der jüdischen Seite geübt. Man muss Kritik auch mal stehen lassen können, wenn sie klar macht, dass man keine Propaganda betreiben will – und ich glaube, das wird deutlich. Odervermutest du bei mir ideologische Absichten?

Michael Rubinstein: Nein, natürlich nicht, aber ich finde, du gehst mit dem Zentralrat etwas zu scharf ins Gericht. Und das nicht nur, weil unsere Gemeinde auch dort angeschlossen ist. Ich meine, warum sollte er sich denn nicht zur israelischen Politik äußern dürfen? Etwa weil es nicht seine originäre Aufgabe ist? Darüber kann man diskutieren. Der Zentralrat ist das oberste politische Organ der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland. Er repräsentiert uns gegenüber der Politik und der Gesellschaft. Er ist ein in erster Linie politisches Organ, und er ist unsere Dachorganisation. Er vertritt die Interessen von allen ihm angeschlossenen Verbänden und Gemeinden und damit das überwiegende Spektrum des jüdischen Lebens in Deutschland. Aber es ist nun einmal so, dass die jüdische Solidargemeinschaft auch zu internationalen Fragen Position bezieht. Ich finde allerdings, sie macht das sehr gemäßigt. Dass die Äußerungen in der Tendenz überwiegend pro Israel ausfallen, ist aus der Rolle heraus verständlich. Es ist nun mal so, dass der Staat Israel für uns jüdische Menschen weltweit eine zentrale Bedeutung hat.

Lamya Kaddor: Auch wenn man hier in jüdischen Einrichtungen zu Gast ist, sieht man häufig Bezüge zu Israel, gerade jetzt zum 65. Unabhängigkeitstag. Das ist doch ein rein israelischer Feiertag. Warum wird er von Juden in Deutschland begangen?

Michael Rubinstein: Israel ist nicht nur die spirituelle Quelle des Judentums, sondern auch der einzige Zufluchtsort für Juden, sollte sich das Blatt der Geschichte wieder einmal gegen sie wenden. Man kann Israel als eine Art »Back-up« bezeichnen. Wo sollen Juden hin, wenn sie erneut verfolgt würden? Es gibt nur Israel, wo ihnen das garantiert nicht mehr passieren wird. Von daher ist es klar, dass die jüdische Vertretung auch hier Stellung bezieht und dass so viele jüdische Menschen sensibel reagieren, wenn es gegen den Staats Israel geht.

Lamya Kaddor: Nach orthodoxem Verständnis ist die Staatsgründung Israels eigentlich ein Frevel, ein Vorgriff auf die göttliche Erlösung, weil das Reich den Schriften zufolge erst mit dem Erscheinen des Messias wiederhergestellt wird. Wie stehst du dazu?

Michael Rubinstein: Der Staat Israel, wie er heute ist, ist ein weltlicher Staat, mit etwas stärkeren religiösen Einschlägen als wir sie haben. Ich rede hier nicht von religiösen Motiven, sondern davon, dass wir als Menschen jüdischen Glaubens jederzeit sagen könnten: »Müssen wir heute hier weg, könnten wir morgen in Israel sein.« Darum geht es, nicht um die religiöse Bedeutung. Es ist vielmehr ein Frevel, dass sich ein Teil der ultraorthodoxen Juden mit dem Staat Israel, so wie er heute ist, so schwer tut, denn sie leben dort und genießen Vorteile, die dieser Staat ihnen bietet. Sie genießen dort Sicherheit und einen gewissen Lebensstandard. In Deutschland mag dieser »Back-up«-Gedanke im Augenblick nicht so aktuell sein, aber viele französische Juden haben in den vergangenen Jahren aufgrund des zunehmenden Antisemitismus das Land verlassen. In Marokko geschah Ähnliches. Diesen Bezug zu einem anderen Land kann man vielleicht nicht so gut nachvollziehen, wenn man in einem sicheren Staat wie Deutschland lebt oder geboren wird und selbst keiner Diskriminierung oder Verfolgung ausgesetzt ist.

Lamya Kaddor: Doch, ich kann das nachvollziehen. Natürlich kann ich das nachvollziehen, gerade weil Muslime ebenfalls zunehmend angefeindet werden. Das habe ich nur, ehrlich gesagt, im Hinblick auf unser Thema bis jetzt noch nicht so deutlich gesehen. Ich habe nichtsgegen den Zentralrat der Juden, dass wir uns da nicht missverstehen. Ich sehe nur einige Punkte, die ich kritikwürdig finde. Der Zentralrat äußert sich nicht nur zu Israel, sondern insgesamt zu vielen politischen Themen …

Michael Rubinstein: … und man kann sicher trefflich darüber streiten, ob er sich zu allem äußern muss. Vielleicht wäre es in der Tat klüger, hier und da anderen den Vortritt zu lassen. Aber unser Präsident Dieter Graumann betont ja auch, dass der Zentralrat selten von selbst hingeht und sagt: »Wir äußern uns jetzt.« Der Zentralrat wird in jeder Angelegenheit gefragt, gerade bei heiklen Themen. Sagen wir dann nichts, heißt es: »Warum sagt ihr nichts?« Sagen wir etwas, heißt es: »Warum sagt ihr was?« Also wir können es eigentlich niemandem recht machen. Da muss sich die Gesellschaft schon mal selbst fragen, warum in erster Linie die jüdische Gemeinschaft befragt wird. Wir reden von 250000 Juden in Deutschland, aber zu den unter dem Dach des Zentralrats zusammengeschlossenen 23 Landesverbänden und 108 jüdischen Gemeinden gehören gerade mal 105000 Mitglieder. Der Zentralrat hat vor dem Hintergrund der Geschichte für die deutsche Politik und die deutschen Medien immer noch eine besondere Bedeutung. Das wiegt übrigens die relativ kleine Anzahl der Juden in Deutschland in ihrer Bedeutung ein wenig auf. Sie stehen in gewisser Weise Pate für die große Vergangenheit der Juden hier. Wenn nicht wir, wer sonst sollte an das Gewissen der Bevölkerung appellieren, wenn sich Feindseligkeit gegen Juden oder auch andere Minderheiten mal wieder Bahn bricht? Niemand kann ernsthaft erwarten, dass wir ein weiteres Mal schweigend zuschauen oder zuhören. Allerdings verstecken sich auch viele Personen und Organisationen hinter dem Zentralrat der Juden. Sie wollen dann eine Art Persilschein von ihm, um nicht angreifbar zu sein im Hinblick auf Vorwürfe des Antisemitismus, der Verharmlosung der Geschichte oder Ähnliches. Und natürlich, wenn Zentralratsmitglieder ein knackiges Statement von sich geben, wird das medial immer gern genommen. So funktionieren die Medien.

Lamya Kaddor: Das ist beim Zentralrat der Muslime ähnlich. Der wird auch zu allem befragt, dabei ist er der kleinste der vier großen islamischen Verbände. An seiner Spitze stehen seit längerem rhetorisch begabte Personen, während man beispielsweise an der Spitze der an anderen großen Islamverbände des Öfteren Funktionäre findet, die nur gebrochen Deutsch sprechen. Das ändert sich aber langsam, weil zunehmend Personen aufrücken, die in Deutschland aufgewachsen sind.

Michael Rubinstein: »Zentralrat« der Juden - »Zentralrat« der Muslime, die Ähnlichkeit ist kein Zufall.

Lamya Kaddor: Es ist reines Kalkül in der Hoffnung, dieselbe Bedeutung zu erlangen wie der Zentralrat der Juden.

Michael Rubinstein: Ist das nicht irgendwo unredlich?

Lamya Kaddor: Bestimmt. Aber es ist vor allem ein PR-Gag, und in Politik und Medien geht das offenbar vollständig auf.

Michael Rubinstein: Es ist nach wie vor bei islamischen Vereinen schwierig zu durchschauen, wer dahinter steckt, wer sie finanziert oder welche Ziele sie verfolgen.

Lamya Kaddor: Wie du in deinem Statement selbst andeutest, stehen mitunter Leute dahinter, die in Deutschland ein Problem darstellen: Einige sind vielleicht reiche Funktionäre, die Schwierigkeiten mit dem Verfassungsschutz oder anderen Sicherheitsbehörden haben. Andere lassen sich vom Ausland finanzieren und versuchen deren Agenda umzusetzen. Wenn Saudi-Arabien irgendwo Geld investiert, wird der Islam in der Regel fundamentalistisch. Das kommt in der deutschen Öffentlichkeit nicht gut an, und deshalb versucht man es zu kaschieren. In Deutschland spenden nicht alle Muslime, um die Verbände zu finanzieren. Hiesige Muslime sind teilweise nicht sonderlich finanzstark, auch Großspenden sind eher selten. Allerdings muss man betonen, dass nicht alle Vereine über einen Kamm geschoren oder dämonisiert werden dürfen.

Michael Rubinstein: Für uns ist das trotzdem ein Problem. Immer muss hinterfragt werden, mit wem man sich an einen Tisch setzt. Ich spreche gern mit allen, aber es gibt Organisationen wie Milli Görüs; mit denen würden wir uns als Jüdische Gemeinde nicht offiziell zusammensetzen – zumindest solange sie im Verfassungsschutzbericht stehen und immer wieder wegen antisemitischer Propaganda auffallen, weil Mitglieder beispielsweise das Verschwörungspamphlet »Die Protokolle der Weisen von Zion« bei Veranstaltungen verteilen. Es ist schade, dass man immer nach den Hintergründen einer Organisation fragen muss. Es nimmt einem die Unbefangenheit. Man muss sich halt meistens an die großen, bekannten Verbände halten.

Lamya Kaddor: Und das kann ich als Vorsitzende des Liberal- Islamischen Bundes natürlich nicht unterstützen!

Michael Rubinstein: Warum vergleichen sich Muslime eigentlich so oft mit Juden?

Lamya Kaddor: Weil sie glauben, dass sie in einer ähnlichen Minderheitenposition leben. Nach dem Motto: So wie die Juden damals als Minderheit diskriminiert worden sind, werden wir heute diskriminiert – zwar nicht in der Härte, Gott sei Dank, und auch nicht in der vollen Auswirkung, aber zumindest mit vergleichbaren Feindseligkeiten. Der frühe Antisemitismus der politischen Moderne, denk an den Historiker Heinrich von Treitschke, wird ja gern mit der

heutigen Islamfeindlichkeit verglichen. Ganz unproblematisch ist so ein Vergleich sicher nicht. Man muss auf jeden Fall die historische Verankerung, die Ausmaße und Konsequenzen trennen. Da hat der Antisemitismus ein Alleinstellungsmerkmal. Wenn man sich aber auf einzelne Methoden konzentriert, glaube ich, kann man schon sagen, dass es erschreckende Parallelen gibt: Früher wälzte man die Heiligen Texte der Juden und riss einzelne Passagen aus dem Kontext, um daraus Vorwürfe zu stricken, heute durchsucht man dazu Koran und Sunna. Dass Muslime immer auf Juden schauen, ist aber auch nicht gänzlich überraschend. Ihre Religionen sind ähnlich, sie sind die auffälligsten religiösen Minderheiten in Deutschland, und wenn man bedrängt wird, wird man vielleicht automatisch verführt, gleich an das extremste Ereignis in diesem Zusammenhang zu denken – und das ist nun mal der jahrhundertelange Feldzug gegen die Juden. Auch wenn der Vergleich hinkt, sollte man die Sorgen dahinter nicht einfach auf die leichte Schulter nehmen.

Michael Rubinstein: Das sehen wir im Grunde genauso, und deshalb äußern sich jüdische Vertreter auch in diese Richtung, wenn es nicht explizit gegen Juden geht. Letztlich haben wir viele Dinge gemeinsam, wo wir als jüdische Seite mit unseren Erfahrungen weiterhelfen könnten. Aber dazu müsste die andere Seite auch einen Schritt auf uns zu gehen, einen Vertrauensvorschuss geben und die alte Feindschaft in den Köpfen ausschalten. Du hast die Beschneidungsdebatte in deinem Textabschnitt angesprochen. Ich denke auch: Wenn Christen beschneiden würden, wäre das Ganze nie ein Thema geworden, wenn nur Muslime beschneiden würden, wäre Beschneidung längst verboten, weil es aber auch die Juden in Deutschland betrifft, haben wir in nur wenigen Monaten den gesetzlichen Segen bekommen. Das ist zugegeben eine vereinfachte Darstellung, aber klar ist, ohne uns wäre die Sache anders verlaufen. Von daher hatte die muslimische Seite hier durchaus auch Glück.

Lamya Kaddor: Es wird immer gesagt: »Seht ihr, nur weil es die Juden gibt, trauen die sich nicht, die Beschneidung zu verbieten.« Ich sage dann immer: »Ja, dann seid doch froh, dass es die Juden gibt.« Warum suchen Muslime nicht den Schulterschluss mit den Juden?, könnte man fragen. Weil Judentum und Islam zwei unterschiedliche Konglomerate sind: 15 Millionen Juden stehen 1,5 Milliarden Muslimen weltweit gegenüber. Allein diese Diskrepanz in der Größe sorgt schon für ein unterschiedliches Selbstverständnis, ohne die Frage zu berücksichtigen, wer heute »erfolgreicher« ist. Zudem muss man sich intellektuell und vermutlich auch kulturell auf Augenhöhe begegnen, wenn man sich verbünden will. Diese Grundvoraussetzungen sind in Deutschland oft nicht gegeben. Außerdem herrscht noch zu viel gegenseitiges Misstrauen unter den einzelnen Mitgliedern von islamischen und jüdischen Organisationen, weswegen die Verantwortlichen solche Kooperationen noch nicht wagen. Das gilt übrigens ausdrücklich nicht nur für ungebildete Schichten. Als ich im Rahmen meiner Lehraufträge jüngst mit Universitäts-Studenten jüngst eine Synagoge besuchte, betraten zwei der muslimischen Teilnehmer zwar das Gemeindehaus, aber sie weigerten sich, in den Betsaal zu gehen. Sie blieben während der Ausführungen des Rabbi sage und schreibe zwei Stunden vor der Tür stehen. Als ich sie fragte, warum sie nicht mitgekommen seien, erklärten sie mir, sie wollten die Kippa nicht tragen und sie fühlten sich in dem Betraum unwohl. Außerdem zeigten sie sich überzeugt, dass der Prophet Muhammad heute genauso wie sie gehandelt hätte. Dieses Misstrauen ist schon erstaunlich, auch wenn ich mir sicher bin, dass es das ausdrücklich auf beiden Seiten gibt – nicht nur unter Muslimen.

Michael Rubinstein: Definitiv gibt es auch unter Juden Vorbehalte gegenüber Muslimen. Wir sind zwar von der Religion her sehr nah beieinander, aber im Alltag sind wir uns fremd. Man hat die Schere im Kopf, weiß einfach zu wenig voneinander, kennt sich nicht, redet nicht miteinander. Mit unseren Beiträgen versuchen wir ja, das gerade zu ändern. Nun, dann erklär mir bitte mal die Popularität von Verschwörungstheorien, wonach eigentlich immer Juden die Hand im Spiel haben und an allem schuldig sind. Selbst der 11. September soll ja nach Meinung einiger mit Billigung der Juden geschehen sein. Warum sind diese Gedankengänge unter Muslimen so verbreitet?

Lamya Kaddor: Ich glaube, das ist zum Teil der Neid auf diese Bevölkerungsgruppe. Sicherlich ist man nicht neidisch darauf, dass 6 Millionen Juden in Europa umgebracht wurden, aber man ist schon neidisch darauf, dass der Zusammenhalt unter den Juden so stark ist und dass eine weltweite Vernetzung gibt. Zudem finden sich unter Anhängern des Judentums viele gebildete Köpfe, die in bestimmten Forschungs- und Industriebereichen ebenso wie in Politik und Wirtschaft durchaus führend sind. Das wird von vielen Muslimen so verabsolutiert, dass man direkt Verschwörungstheorien wittert, zumal Juden außerhalb Israels vor allem in den USA leben und sowohl Israel als auch die USA bekanntlich für viele islamistische Einpeitscher der große Satan sind. Beide Staaten werden in erster Linie dafür verantwortlich gemacht, dass es mit den eigenen Ländern nicht vorangeht. Das ist in der Tat alles schon ziemlich paradox: Einerseits sind Muslime neidisch auf die Juden, andererseits sind sie skeptisch oder hegen Groll. Dennoch würde ich, was die Verschwörungstheorien gegen Juden betrifft, die These in den Raum stellen, dass sie außerhalb der muslimischen Welt ebenfalls Konjunktur haben. Es gibt eine breite antisemitische Propaganda unter Muslimen – und dagegen wird innerhalb der Community weder energisch vorgegangen, noch distanziert man sich deutlich davon. Ich würde sagen, Pauschalurteile über Juden, also klassische Stammtischparolen sind gerade auch unter jungen Menschen verbreitet. Muslimischer Antisemitismus ist also ein wichtiges Thema, aber es wird gerade in Deutschland auch stark instrumentalisiert. Darauf kommen wir sicher noch ausführlicher zusprechen.

Michael Rubinstein: Gut, was ich mich auch des Öfteren frage: Warum haben Muslime keine Lust, sich ernsthaft mit dem Thema Holocaust zu beschäftigen?

Lamya Kaddor: Ist das deine Beobachtung? Ich finde, das kann man so nicht sagen. Wieso haben Muslime denn keine Lust dazu? Ich habe eher den Eindruck, dass viele allenfalls die Ausmaße unterschätzen.

Michael Rubinstein: Gibt es denn so viele Angebote seitens deutscher islamischer Organisationen, die Info-Veranstaltungen oder Fahrten etwa nach Auschwitz anbieten? Muslime leben schließlich in Deutschland, sehen viele Überschneidungspunkte mit Juden. Natürlich ist die Schoah kein muslimisches Thema, aber im Hinblick auf die Prävention von Antisemitismus finde ich die Auseinandersetzung damit jetzt nicht so weit hergeholt.

Lamya Kaddor: Und deshalb sollen islamische Verbände Fahrten nach Auschwitz organisieren? Also das halte ich für überzogen. Ich nehme die Islamverbände ja ungern in Schutz, aber in diesem Fall muss ich es tun, denn es geht dort ja schon um die Pflege der Religion des Islam. Das sollten schon eher jüdische Organisationen für Muslime anbieten. Abgesehen davon gibt es durchaus solche Initiativen, bei denen sich beispielsweise Imame um solche Reisen bemühen oder andere Angebote suchen, um gerade junge Muslime an das Thema heranzuführen. Sicher, es mögen nicht viele sein, aber ehrlich, ich kenne auch nicht besonders viele Nichtmuslime, die schon mal an einem Ort der Judenvernichtung waren.

Michael Rubinstein: Glaubst du, dass Juden in Deutschland ihre Geschichte gezielt ausnutzen, um Druck für ihre Belange zu machen?

Lamya Kaddor: Ja, glaube ich. Genauso glaube ich, dass es Juden gibt, die sagen: »Wir dürfen uns nicht ausschließlich über die Opferrolle identifizieren lassen. Judentum bedeutet nicht nur Holocaust.« Es gibt immer Menschen, die Traumata für sich so ausschlachten, dass sie persönliche Gewinne dadurch erzielen. Warum sollte das für die Judenverfolgung nicht gelten? Siehst du das anders?

Michael Rubinstein: Es gibt sicherlich an der einen oder anderen Stelle so eine Art »Kätzchen-Bonus«, und manche versuchen, diesen zu nutzen. Ich will nicht abstreiten, dass einige die Vergangenheit argumentativ instrumentalisieren. Wenn sich Juden früher von der Wehrpflicht ausnehmen ließen mit dem Hinweis auf den Holocaust, kann ich das nachvollziehen. Die Vorstellung, bei der Bundeswehr an einen Offizier zu geraten, der vielleicht schon in der Wehrmacht Dienst geleistet hat, und womöglich an der Judenvernichtung beteiligt war, ist schon unerträglich. Aber wenn zu Zeiten der Wehrpflicht jemand zu uns kam, um von unserer Gemeinde mit diesen Motiven eine Bescheinigung zur Entbindung von der Pflicht zu erhalten, tat ich mich schon schwer damit. Erstens gab es den Zivildienst und zweitens, wenn wir Juden die gleichen Rechte wollen, müssen wir auch die gleichen Pflichten akzeptieren. So verstehe ich Gleichberechtigung. Auch wenn mir solche Versuche persönlich nicht gefallen, kann ich sie menschlich nachvollziehen. Es ist ein schmaler Grat zwischen dem Einfordern »besonderer« Rechte und dem Wunsch, nicht immer nur als Jude wahrgenommen zu werden. Manchmal ist das Einfordern richtig und wichtig, manchmal aber auch kontraproduktiv. Da bedarf es großen Fingerspitzengefühls – nach innen wie nach außen.

Lamya Kaddor: Also wenn ich richtig verstehe, ist es für dich durchaus legitim, dass jüdische Lobby-Gruppen die beinahe 2000-jährige leidvolle Geschichte in Europa für Ziele im Hier und Jetzt für sich einsetzen?

Michael Rubinstein: Es kommt immer darauf an, was man damit erreichen möchte, zum reinen Selbstzweck sind solche Hinweise illegitim. Aber vor der Zuwanderungswelle Ende der 1980er-Jahre gab es noch 30000 Juden in Deutschland. Es gibt Berechnungen, die besagen, wir wären heute nur noch 5000. Dass man vor diesem Hintergrund auf die Geschichte verweist, um Juden ein vereinfachtes Einreiseverfahren zu ermöglichen, um jüdisches Leben in Deutschland lebendig zu erhalten, halte ich wiederum für legitim.

Lamya Kaddor: Es gibt den Vorwurf, Juden und Israelis würden immer in einen Topf gesteckt. Und du hast anfangs erklärt, dass Israel für viele Juden ein »Back-up« ist. Die jüdische Theologie lässt sich zwar von Israel weitgehend trennen, aber von den Gläubigen dann doch nichtganz so einfach. Ist es da nicht unheimlich schwierig, Israels Politik zu kritisieren?

Michael Rubinstein: Gut, dass du schon mal nicht fragst, ob man »Israel« überhaupt kritisieren darf. Das ist nämlich der klassische Stereotyp. Natürlich ist es möglich, man muss sich in der Tat mehr Mühe geben und besser darauf achten, keine Verallgemeinerungen zu benutzen, als bei der Kritik an deutschen Parteien. Das ist wie mit der Islamkritik. Du achtest ebenfalls darauf, dass nicht von »dem« Islam und »den« Muslimen gesprochen wird. Und es ist leider so, dass die Kritik an Israels Regierung häufig pauschalisiert und auf alle Bürger des Landes oder gleich auf alle Juden übertragen wird. Wenn ich deutsche Parteien kritisiere, käme niemand auf die Idee, diese Kritik auf alle Deutschen zu beziehen. Weder dieisraelische Politik ist einheitlich, noch denkt jeder Israeli gleich. Die schärfsten Israelkritiker sind oftmals selbst Israelis oder Juden.

Lamya Kaddor: Uri Avnery, Tom Segev, Moshe Zuckermann oder Alfred Grosser, Evelyn Hecht-Galinski, Norman Finkelstein – die Liste ist lang, ich weiß. Aber die haben genauso mit Anfeindungen zu kämpfen – so wird ihnen oft jüdischer Selbsthass vorgeworfen. Was sagst du zum Stichwort »Antisemitismus-Keule«? Es ist nicht immer einfach, Beispiele zu bringen, um eine Sachlage zu verdeutlichen. Beispiele hinken fast immer, und viele nutzen das aus, um vom eigentlichen Sachverhalt abzulenken. aber nimm das Beispiel des Verlegers und Journalisten Jakob Augstein, den das Simon-Wiesenthal-Zentrum 2012 auf die Liste der schlimmsten Antisemiten weltweit gesetzt hat. Selbstverständlich kann man Augsteins Äußerungen über den Nahostkonflikt in seiner Kolumne auf »Spiegel online« kritisieren – vielleicht muss man es sogar, aber wenn er sagt: Die Atommacht Israel gefährde den ohnehin brüchigen Weltfrieden, Israel werde zwar von islamischen Fundamentalisten in seiner Nachbarschaft bedroht, die Juden hätten ihre eigenen Fundamentalisten, oder Gaza sei ein Ort aus der Endzeit des Menschlichen, ein Gefängnis, ein Lager, in dem Israel sich seine eigenen Gegner ausbrüte. Aber um die Inhalte geht es mir hier nicht. Die Frage ist: Warum muss das Wiesenthal-Zentrum gleich übertreiben und ihn in eine Reihe mit Irans Staatschef Mahmud Ahmadinedschad und Fanatikern der ägyptischen Muslimbruderschaft in eine Reihe stellen? Wird die »Antisemitismus-Keule« manchmal nicht zu schnell herausgeholt?

Michael Rubinstein: Das kann man nicht verallgemeinern. Es gibt Juden, die empfinden manche Kritik als antisemitisch. Einige sind da schlicht empfindlicher oder verstehen unter Antisemitismus möglicherweise etwas anderes als ich. Was Jakob Augstein betri, würde ich gern Dieter Graumann zitieren, der sagt, er glaube nicht, dass Augstein selbst unbedingt antisemitisch ist. In einigen konkreten Aussagen Augsteins sei jedoch die Grenze überschritten. Man darf sicherlich nicht immer die Antisemitismus-Keule schwingen, aber man muss auch auf einen Antisemitismus-Verdacht aufmerksam machen, weil der in der Gesellschaft heute wieder viel stärker verankert ist als vor einigen Jahren. Und ich glaube, ich spreche da für die gesamte jüdische Seite: Wir wären froh, wenn nicht wir immer auf antisemitische Tendenzen hinweisen müssten, sondern andere Bevölkerungsteile sagen würden: »Hallo, was soll das schon wieder?« Und wenn es antisemitische Ausfälle in Deutschland gibt und ein Aufschrei durch die Republik geht, weiß ich nicht, ob das vielleicht nur prominente Äußerungen an der Oberfläche sind. Studien zeigen doch, wie stark der Antisemitismus in Deutschland ist: Wir hatten 2011 eine große Umfrage, wonach 20 Prozent der Deutschen latent antisemitisch seien. Und beim SPD-Politiker Thilo Sarrazin und dessen Äußerungen in und um seinen Bestseller »Deutschland schafft sich ab« hat man auch gemerkt, welche Zustimmung und Beachtung jemand mit solchen Thesen quer durch die Bevölkerung erfahren kann. Gewiss hat es den Aufschrei von Politikern, Journalisten und Wissenschaftlern gegen dessen Thesen gegeben, aber wie stark ist das Echo in der einfachen Bevölkerung? Wenn jemand Ahnung vom Judentum hat und sich fundiert mit der Theologie auseinandergesetzt hat, kann er sicherlich auch kritische Fragen stellen. Das muss jede Religion über sich ergehen lassen. Nur in den seltensten Fällen geht es tatsächlich um eine Kritik am Judentum, denn die meisten Menschen haben keine näheren Kenntnisse von der Religion. Also was kritisieren sie da? Die Beschneidung? Gut, das ist eine gewisse Ausnahme. Das ist eine theologische Frage. Was allerdings nicht heißt, dass sie vorwiegend theologisch diskutiert wurde. Gerade so ein Thema wird von Antisemiten gern instrumentalisiert. Für mich wird eine Grenze überschritten, wenn bei Verhaltensweisen, die auch bei anderen beobachtet werden könnten, das Jüdische aufs Tapet gebracht wird. Der Journalist Henryk M. Broder mag ja umstritten sein, aber warum ist er, selbst wenn er sich über Vulkane in Island äußert, der »jüdische« Journalist? Das soll doch offenbar beim Publikum einen Nerv treffen. Wie ist das bei dir, fühlst du dich wegen der Schoah gehemmt, Juden zu kritisieren?

Lamya Kaddor: Ich würde Juden nicht kritisieren. Wenn überhaupt, würde ich Israelis kritisieren, und dann auch nicht alle, sondern bestimmte Personen oder Parteien. Konstruktive Kritik kann nur spezifisch ausgerichtet sein. Außerdem sollte sie sich grundsätzlich eher an Handlungen orientieren und nicht an Gesamtpersonen. Wieso sollte also der Jude per se kritisiert werden? Aber auch ich bin schon als Antisemitin kritisiert worden. Es ging um ein Facebook-Posting. Ich habe einen Artikel verlinkt – es war ein seriöser Link, darauf achte ich, in dem Fall die österreichische Zeitung »Der Standard« –, indem berichtet wurde, dass äthiopischen Einwanderinnen in Israel aus rassistischer Motivation heimlich eine Hormonspritze verabreicht wurde, damit sie keine Kinder bekommen können. Daraufhin erhielt ich E-Mails von Personen, die man zu einer vor allem im Internet aktiven, radikalen Israel-Lobby zählen kann. Sie forderten mich auf, den Link zu löschen oder Gegenbelege von irgendwelchen Internetplattformen zu posten, die ihnen ideologisch nahe stehen. Das war das letzte Mal, an das ich mich erinnere, als Antisemitin beschimpft worden zu sein.

Michael Rubinstein: Was stellst du auch für Links ein?! Ich bin bei solchen Behauptungen generell skeptisch, nicht weil es mit Israel zu tun hat. Allerdings muss man schon sauber unterscheiden: Kritik an irgendetwas heißt nicht automatisch, dass sie sich direkt gegen ein ganzes Volk richtet. Wenn ich Dinge in der muslimischen Welt kritisiere, heißt das auch nicht, dass ich gegen Muslime bin.

Lamya Kaddor: Ich habe vorhin mal gesagt, Juden seien gebildet und gut vernetzt. Empfindest du das eigentlich als Klischee beziehungsweise als positive Diskriminierung?

Michael Rubinstein: Wenn man eitel ist, könnte man schon sagen: Es gibt vielleicht 15 Millionen Juden auf der Welt und mehr als 150 jüdische Nobelpreisträger. Sicher, das ist auch ein Klischee, aber uns wurde auch von Generation zu Generation immer beigebracht: »Nur das, was ihr im Kopf habt, ist das, was man euch nicht wegnehmen kann.« Bildung ist im Judentum ein zentrales Thema. Und ja, wir sind halt das jüdische Volk, und wir sind trotz unserer Vielfältigkeit und der unterschiedlichen religiösen und politischen Schattierungen, das kann man schon sagen, untereinander sehr gut vernetzt, was man auch an den jüdischen Organisationsstrukturen sehen kann, ob es der Zentralrat der Juden in Deutschland ist, ob es das Netz der europäischen Juden ist oder ob man in die USA schaut. Und wenn man über Jahrhunderte, über Jahrtausende immer angefeindet wird, rückt man natürlich zusammen, sodass man sagen kann, dass die Juden untereinander eher zusammenhalten als andere Gruppierungen, wenn es darauf ankommt. Ja, dann versuchen wir, mit einer Stimme zu sprechen. Wir Juden sind zwar bei Weitem nicht die homogene Gesellschaft, als die sie häufig dargestellt werden, wir liefern uns schon heftige Auseinandersetzungen. Schau dir nur die Jüdische Gemeinde zu Berlin an, die trägt ihre Zwistigkeiten in aller Öffentlichkeit aus, bis hin zu Tätlichkeiten unter den Repräsentanten im Mai 2013. Das nenne ich vollen Einsatz. Spaß beiseite. Selbst wenn die innerjüdische Solidarität nicht immer gegeben ist, besteht trotzdem ein gewisser Zusammenhalt. Doch ist das unter Muslimen nicht auch so? Da ist der Glaube ebenso ein einendes Band, auch wenn man unterschiedliche Meinungen hat …

Lamya Kaddor: Nein, leider viel zu wenig. Muslime gehen sich lieber untereinander an, als dass sie an einem Strang zögen. Ist es denn auch berechtigt, den Juden oder ihren Vertretungen einen größeren Einfluss zuzuschreiben? Wir haben das ja schon beim Zentralrat angesprochen. Das ist ja auch ein antisemitisches oder antijüdisches Klischee.

Michael Rubinstein: Lobbyarbeit kann man generell so oder so bewerten. Ob die jüdische Lobby nun besser oder schlechter ist als irgendeine andere, sei dahingestellt. Allerdings ist es doch vollkommen legitim, dass auch die jüdische Seite ihre Interessen vertritt. Warum sollte sie nicht? Es ist jedem unbenommen, ebenfalls Lobbyarbeit zu betreiben. Und wenn man das Paradebeispiel Amerika betrachtet, dort gibt es nicht »die« jüdische Lobby. Berühmte amerikanische Juden findet man auf Seiten der Republikaner ebenso wie auf Seiten der Demokraten.

Lamya Kaddor: Was aber doch auffällig ist, wenn man sich zum Beispiel einmal den globalen Schlüsselsektor »Finanzen« anschaut, da findet man viele bekannte Namen: Die Rothschilds, der frühere FED-Chef Alan Greenspan und sein Nachfolger Ben Bernanke, derfrühere Weltbank-Präsident Paul Wolfowitz, Ex-IWF-Chef Dominique Strauss-Kahn, die Lehman Brothers, Goldman Sachs, Salomon Oppenheim …

Michael Rubinstein: Ja, aber haben die ihre Posten aus religiösen Gründen bekommen? Nein, sie haben sie wegen ihrer Qualifikation erhalten. Außerdem ist der Geldmarkt nun mal ein urjüdisches Berufsfeld. Es wurde den Juden zugewiesen und dann sind sie halt gut darin geworden. Da haben sich die antisemitischen Geister der Vergangenheit ziemlich in den Finger geschnitten, als sie den Juden im Mittelalter verboten, in die damals hoch ehrenwerten Handwerker-Bünde einzutreten. Juden sollten in den führenden Wirtschaftsbereichen des Mittelalters keine große Rolle spielen. Sie sollten sich lieber mit dem anrüchigen Geschäft des Geldverleihs abgeben – das würde besser zu ihnen passen. Nun hat sich die Welt in der Zwischenzeit weitergedreht. Das Handwerk hat an Bedeutung verloren und die Finanzbranche ist zu einem der bestimmenden Faktoren des Weltgeschehens geworden. Aber dafür können »die« Juden nichts. Glaub mir, ich kenne genug Juden, die keine Ahnung von Geld haben.

Lamya Kaddor: Und wie begegnest du Hinweisen auf die Konzentration im Medienbereich? Das muss auch stets als antisemitische Stereotype herhalten, und es liest sich tatsächlich wie ein »Who is who«: Facebook-Gründer Mark Zuckerberg, Google-Gründer Larry Page und Sergey Brin, Microso-Mitbegründer Steve Ballmer, der ehemalige Pro7-Chef Haim Saban, Steven Spielberg und diverse andere CEOs und Mitbegründer großer Filmstudios oder Produktionsfirmen wie 20th Century Fox, Disney oder Warner Brothers.

Michael Rubinstein: Ich glaube, es ist völlig unwichtig, dass das Juden sind. Hier werden Juden erst zu Juden gemacht. Steve Ballmer etwa erklärt meines Wissens, dass er zwar eine jüdische Mutter gehabt habe, aber nie religiös erzogen worden sei. Bei Mark Zuckerberg ist es ähnlich. Abgesehen davon, auf den Medienbereich schaut die Weltöffentlichkeit. Aber wir wissen wohl kaum, ob in der Alu-Industrie viele Manager Juden sind, denn niemand befasst sich damit. Auch im Mediensektor dürften zunächst die Bildungshintergründe eine Rolle gespielt haben und später natürlich auch die Kontakte. Es mag schon sein, dass man durch die Vernetzung heute eher Wind davon bekommt, wenn irgendwo eine Tür offen steht. Aber ob nun ein Mark Zuckerberg dieses Vitamin-B erfunden hat, möchte ich mal bezweifeln. Außerdem arbeiten weder bei Facebook noch bei Google oder Pro7/Sat1 nur Juden. Steve Jobs, der Apple gegründet hat, war zum Gegenbeispiel kein Jude …

Lamya Kaddor: Der leibliche Vater war Syrer! Und dann auch noch Muslim.

Michael Rubinstein: Ja, unglaublich, nicht wahr? Im Prinzip ist die jüdische Weltbevölkerung gar nicht so groß, als dass man sagen könnte, sie sitze an allen wichtigen Schalthebeln. Und allein wenn wir wieder zurück nach Deutschland schauen, die Bundesregierung ist in Europa ein politisches Schwergewicht, vielleicht sogar das politische Schwergewicht, und wir haben weder auf Bundesebene noch auf Landesebene irgendwo einen jüdischen Spitzenpolitiker. Auch an sonstigen Schalthebeln außerhalb jüdischer Organisationen besetzen wir keine Spitzenpositionen. Der Wissensgedanke, den ich vorhin angesprochen habe, sorgt zwar für ein großes Potenzial an Kreativität und Strebsamkeit, aber ich kenne eben auch ganz viele Juden, die diesem Bild nicht entsprechen, die arm sind und keine sonderliche Bildung haben. Sag mal, warum bauen die Muslime eigentlich nicht etwas Ähnliches auf, wenn sie die Lobbyarbeit der Juden so beeindruckend finden?

Lamya Kaddor: Ich deutete ja bereits an, dass sich Muslime lieber untereinander bekämpfen, statt an einem Strang zu ziehen. Das kannst du in der ganzen Geschichte des Islam beobachten. Direkt nach dem Tod Muhammads ging es los mit den Auseinandersetzungen. Muslime standen anders als Juden lange Zeit in ihrer Geschichte auf der Siegerseite. Sie bauten rasch ein Riesenreich auf, unterwarfen andere Völker und blieben über Jahrhunderte eine Weltmacht. Und wo keine Gegner sind, hält man sich eben an die eigenen Leute. Es gibt heute durchaus eine muslimische Lobbyarbeit, aber die jeweiligen Gruppen vertreten nur einen gewissen Teil der Muslime. Nimm das Beispiel der türkischen Gülen-Bewegung: Sie ist durchaus finanzstark und betreibt auch hier Internate und Akademien. Die Mitglieder vertreten aber einen konservativen Islam und treten sektenhaft auf, sodass sich nur ein Teil der Muslime von ihnen angesprochen fühlt. Muslime sind während der vergangenen zwei, drei Jahrhunderte mit einem massiven kulturellen Verlust konfrontiert. Die Gründe lassen wir mal außen vor, das führt zu weit. Man müsste sonst auch das Thema Imperialismus aufmachen. Von dem kulturellen Erbe des Islam ist in dieser Zeit, in der ich geboren wurde, so gut wie nichts mehr übrig. Es wird nur noch Religion als Kultur verkauft. Bildende Künste, Poesie, Wissenschaft – alles bleibt außen vor. Mir wurde das so nie beigebracht, ich musste erst Islamwissenschaft studieren, um davon zu erfahren.

Michael Rubinstein: Ich habe häufig den Eindruck, es hat auch ein bisschen mit dem Selbstverständnis zu tun. Sicherlich – das darf man nicht kleinreden –, Menschen mit Migrationsgeschichte haben schlechtere Bildungschancen, aber dieser Nachteil wird auch gern als Alibi genutzt. Von unseren Migranten in der jüdischen Gemeinde fallen einige ebenfalls in die sozialen Sicherungssysteme des Staates, dennoch ist ihnen wichtig, dass ihre Kinder Bildung erhalten sollen. Sie stecken alles dort rein: Geld, Kraft und Ausdauer. Dieses Bemühen trifft man nicht bei allen Einwanderern an. Manchmal scheint da eine andere Mentalität zu herrschen oder vermittelt zu werden und man ruht sich auf dem Standpunkt aus: »Die Eltern hatten keine Bildung, also können sie auch den Kindern nichts bieten.« Es fehlt der Ehrgeiz.

Lamya Kaddor: Ich würde sagen, die Erkenntnis, dass Bildung so viel wert ist, ist bei vielen Eltern noch nicht vorhanden. Einige kommen zum Teil aus Dörfern – meine Eltern stammen auch aus dem Dorf –, wo der Sozialstatus durch eine frühe und »gute« Heirat mitbestimmt wird. Bildung wird da fast schon als Gefahr gesehen, denn Bildung heißt Freiheit, heißt Aufmüpfigkeit, heißt Unkontrollierbarkeit. Manche Menschen staunen nach wie vor, wenn ein Mädchen fünf Jahre, sechs Jahre studiert, um Anwältin zu werden, und erst mit Mitte/Ende dreißig das erste Kind auf die Welt bringt. Wie gesagt, meine Eltern kommen auch aus einem Dorf, und trotzdem sind alle ihre vier Kinder beruflich erfolgreiche Akademiker geworden. Unsere Eltern haben das nur nicht islamisch oder kulturell abgeleitet, sondern menschlich. Sie wollten, dass wir die Chancen nutzen, die sie nicht ergreifen konnten. Treibende Kraft war meine Mutter, und hier muss man wiederum konstatieren: Sie kommt zwar aus dem Dorf, aber in ihrer Familie waren zumindest die älteren Männer alle gebildet, und von ihren jüngeren Geschwistern und Halbgeschwistern haben sogar – Männer und Frauen – alle in Syrien und im Ausland studiert. Man darf das soziale Erbe nicht zu tief hängen. Man kann sich davon befreien, die Regel ist es nicht.

Michael Rubinstein: Glaubst du, dass die Muslime zu viele Forderungen stellen? Man hört immer Forderungen von Verbänden: Islamunterricht, Einführung islamischer Feiertage, staatliche Anerkennung als Körperschaft.

Lamya Kaddor: Die mediale Berichterstattung ist schon so, dass man den Eindruck bekommen kann, und dann heißt es: »Wer ist denn der deutsche Staat, dass der das permanent erfüllen soll? Wir kuschen alle vor dem Islam und vor den Muslimen!« Aber zum einen sind die islamischen Verbände nicht die Vertreter aller Muslime. Sie repräsentieren

bekanntermaßen nur einen bestimmten Teil. Mich zum Beispiel repräsentieren sie nicht, weshalb ich mit Gleichgesinnten den Versuch unternommen habe, mit dem Liberal-Islamischen Bund zumindest eine Alternative zu starten. Zum andern sind die Forderungen teilweise völlig berechtigt. Du musst es andersherum sehen: Warum müssen Muslime überhaupt so viele Dinge fordern? Wenn sie gleich behandelt würden, gäbe es nichts zu fordern! Ich meine, wir reden hier nicht von ein paar hundert Religionszugehörigen, sondern von der zweitgrößten Religionsgemeinschaft mit über 4 Millionen Anhängern. Was ist so schlimm daran: einen Islamunterricht zu fordern, wenn christlicher und jüdischer Religionsunterricht selbstverständlich sind? Das Problem liegt eher darin, dass Muslime für ihre Rechte vor Gericht ziehen müssen, was sie dann in eine exponierte Position bringt, die uns letztlich eher schadet als nützt. Ich glaube nicht, dass Muslime zu viele Forderungen stellen.

Michael Rubinstein: Muslime gelten in religiösen Belangen ziemlich kritikresistent.

Lamya Kaddor: Dafür es gibt einen historisch-theologischen Grund: Aus Sicht eines Großteils der islamischen Theologen ist es seit einigen Jahrhunderten ausgeschlossen, Koran und Sunna eigenständig zu interpretieren, um zu religiösen Rechtsurteilen zu kommen. Stattdessen dürfen sie nur den Meinungen früherer Gelehrter folgen. Das hat natürlich auch Auswirkungen auf die Gläubigen. Ganz viele verlassen sich blind auf die geistlichen Autoritäten und denken selbst nicht mehr nach. Dadurch werden sie unmündig, sodass sie mit Kritik nichts mehr anfangen können. Dann gibt es einen sozialen Grund: Kritik kommt heute oft als verdeckte Islamfeindlichkeit daher. Das Wort Kritik soll dann bloß pure Verunglimpfungen kaschieren. Und da sagen halt viele: »Geh mir weg mit ›Islamkritik‹!«

Michael Rubinstein: Warum stehen so wenige Muslime auf, wenn andere im Namen ihrer Religion Menschen beleidigen oder gar töten? Warum tun sie so wenig gegen Extremisten in den eigenen Reihen?

Lamya Kaddor: Tun sie doch. Es werden Kundgebungen organisiert. Es werden Stellungnahmen herausgegeben. Aber viele Muslime sehen sich selbst als Opfer oder zumindest als Benachteiligte in diesem Land – was sie zweifellos sind. Das zeigen diverse Studien und Umfragen. Vor diesem Hintergrund sehen es viele nicht ein, sich auch noch selbst zu kritisieren. Aus meiner Sicht übrigens ist das völlig verkehrt. Und man darf auch nicht vergessen, viele Muslime werden zwar von außen vor allem als Muslime gesehen, aber das heißt nicht, dass sie sich selbst auch primär als Muslime betrachten. Es ist so ähnlich, wie du nicht nur als Jude gesehen werden willst. Also wenn ich an meinen Bruder denke, der erfolgreich in einem großen deutschen Unternehmen arbeitet, dann sieht der sich nicht unbedingt nur als Muslim – sondern vielleicht als Manager, als Familienvater, als Deutscher mit syrischen Wurzeln. Und wer sich eben nicht zuallererst als Muslim identifiziert, der wird auch nicht sofort aufschrecken, wenn einige Fanatiker sich im Namen der Religion in die Luft sprengen. Der wird vielleicht den Kopf schütteln und sagen, was für kranke Menschen es doch gibt, und dann zur Arbeit gehen. Durch die Islamdebatten seit den Anschlägen vom 11. September 2001 werden die Menschen von der Gesellschaft schlicht muslimisiert – gezwungen, sich als Muslime zu sehen. Der Kampf gegen Extremisten, die die deutsche Gesellschaft bedrohen, ist eine Aufgabe, die sich an alle gemeinsam richtet. Außerdem, wenn Milli Görüs zur Demo aufruft, werden sich viele Liberale nicht dazustellen.

Mit freundlicher Genehmigung aus:
Lamya Kaddor / Michael Rubinstein, So fremd und doch so nah, Juden und Muslime in Deutschland, ISBN 978-3-8436-0384-3, Patmos Verlag

zur Titelseite

zum Seitenanfang

ImDialog. Evangelischer Arbeitskreis für das christlich-jüdische Gespräch in Hessen und Nassau
Robert-Schneider-Str. 13a, 64289 Darmstadt
Tel 06151-423900 Fax 06151-424111 email