Judenstern und Augenbinde?
von Domprediger Giselher Quast

Solange ich am Magdeburger Dom Pfarrer bin, haben mich die Figuren von Ecclesia und Synagoge herausgefordert. Wie kann sich die Kirche heute von der ecclesia triumphans unterscheiden, wie kann sie Buße tun für das, was in ihrem Namen dem erwählten Gottesvolk, der als ‚blind‘ geschmähten Synagoge, angetan wurde? Im Magdeburger Dom finden sich die Zeichen dieser Schandgeschichte wieder: Um 1240 wurden in der Paradiesvorhalle des Domes die Figuren der blinden Synagoge mit den zerbrochenen Gesetzestafeln und dem geknickten Aaronsstab und die der triumphierenden Kirche mit dem Kelch des Heils, der Siegesfahne und der Krone auf dem Haupt geschaffen. Sie sind die Anführerinnen der Klugen und Törichten Jungfrauen nach dem Gleichnis Jesu aus Matthäus 25. Und es ist ganz eindeutig: Die Synagoge wird vom Heil ausgeschlossen wie die Törichten Jungfrauen von der Hochzeit des Bräutigams ausgeschlossen werden: „Ich kenne euch nicht!“

In der Turmvorhalle wurde um 1300 die sogenannte „Judensau“ angebracht, als in Magdeburg Pogrome gegen das Judendorf wüteten. Der heute in der Turmvorhalle in einer prächtigen Tumba liegende Erzbischof Ernst von Sachsen hat 1493 sämtliche Juden aus Magdeburg vertrieben, ihr Dorf in „Mariendorf“ umbenennen und die Synagoge in eine Marienkapelle umwandeln lassen. Vor seiner Grabtumba hat er einen siebenarmigen Leuchter aufstellen lassen: die Menorah, umgewandelt in ein Zeichen der sieben Gnadengaben des Heiligen Geistes. So wurde Magdeburg nicht nur für 300 Jahre „judenfrei“, so wurden den jüdischen Mitbürgern auch ihre religiösen Symbole entnommen und christlich vereinnahmt. - Erst mit den Idealen der französischen Revolution kehrten während der napoleonischen Besatzung unter König Jerôme jüdische Bürger nach Magdeburg zurück, bis der Antisemitismus des 20. Jahrhunderts und die braune Herrschaft in Magdeburg wieder Verfolgung, Vertreibung und Vernichtung über die Synagogengemeinde brachte: Am 1. September 1934 stürzte sich die jüdische Mitbürgerin Sophie Masting aus Verzweiflung vom Domturm in den Tod.

Das alles wissend haben meine Amtsschwester Waltraut Zachhuber - heute die Protagonistin der Stolpersteinverlegung in Magdeburg - und ich nach Ausdrucksformen einer verwandelten Haltung der Kirche gesucht. Eine Form der Buße war die temporäre Verfremdung der Synagoge und Ecclesia in der Paradiespforte zum 9. November, dem Kristallnachtgedenken, in den 80er Jahren des vorigen Jahrhunderts: Zu diesem Datum habe ich der Ecclesia eine schwarzes Tuch um die Augen gebunden und der Synagoge einen Judenstern angeheftet. Erschrockene Dombesucher kamen angelaufen und wiesen darauf hin, daß die Figuren „geschändet“ worden seien... Wir mußten sie erst über das Datum und den Anlass aufklären.

Wenige Jahre später hat der Münchener Aktionskünstler Wolfgang Kastner eine Sprayaktion am Dom wie auch anderenorts in Deutschland angekündigt, wenn sich die Domgemeinde nicht von der Judensau in ihrer Kathedrale distanziere. Gemeinsam mit meiner Amtsschwester haben wir jedoch entschieden, ein Gedenken nicht in der ohnehin meist verschlossenen Turmkapelle einzurichten, sondern in der Paradiesvorhalle. Dort stehen Kirche und Synagoge noch weit mehr als ein einzelnes Pogrom oder Spottbild für die institutionelle Dimension der beiden Gottesvölker, und die Buße in diesem Horizont auszudrücken steht einer Bischofskirche wohl an. Zwischen den beiden Frauenfiguren haben wir nach langer Suche und Überlegung (der Text und die Gestaltung der Bodenplatte an der Wittenberger Judensau waren zu prominent!) eine Gedenkplatte mit der Inschrift des Jenaer Theologen Klaus-Peter Hertzsch eingebracht: „Verschmähte Schwester Synagoge, vergib unsere todbringende Blindheit, ohne Ende gilt Gottes Verheißung dir wie uns“.

Als wir zur Einweihung eines christlich-jüdischen Gedenkweges am 1. September 2013 die Ausstellung „Drum immer weg mit ihnen - Luthers Sündenfall gegenüber den Juden“ des christlich-jüdischen Arbeitskreises in Hessen und Nassau in den Magdeburger Dom holten, haben wir noch einmal die Figuren temporär so verfremdet. Diesmal haben nicht die Besucher erschrocken reagiert, sondern Theologen.

Einer meiner früheren Hochschullehrer schrieb an die Domgemeinde: „Bei dem eindrucksvollen Gedenkgottesdienst heute, am 1. September, sehe ich mit Erschrecken, dass  der Figur der Synagoge in der Paradiesvorhalle ein Judenstern aufgeklebt ist. Ich bitte   d r i n g e n d   darum, dies Symbol sofort zu entfernen. Es gibt eine wirklich falsche Assoziationskette, die sich in den Köpfen von Domführern festsetzen könnte: die Synagoge steht hier wirklich als die "Schwester" der Ecclesia - nicht als die Verfolgte, wie in der NS-Zeit Juden in die Vernichtung getrieben wurden. Dass im Programm der Paradiesvorhalle die Synagoge ihren Ort hat, hat gerade nichts mit den Judenpogromen zu tun, die es im Mittelalter gab. Hier geht es vielmehr um eine Vergegenwärtigung der Heilsgeschichte. Sie hat, in der Gestaltung des Bildhauers, die Würde behalten, die ihr als Vertreterin des Gottesvolkes zukommt. Dass Sie der Ecclesia eine schwarze Binde über die Augen gegeben haben, leuchtet mir dagegen ein - eine Hilfe zum Nachdenken darüber, dass die Ecclesia, als Trägerin der Heilsbotschaft, nicht sündlos geblieben ist - sondern, wie es die Gedenktafel am Boden sagt, selbst blind geworden ist.“

Ich antwortete ihm: „Theologisch und kirchengeschichtlich kann ich die Darstellung der Figuren Synagoge und Ecclesia nicht von dem zeitgeschichtlichen Hintergrund der Judenverfolgungen in Magdeburg trennen, die nicht erst 1349 mit dem Ausbruch der Pest beginnt: Während der Zeit des ersten Kreuzzuges 1095-1099 wurden die Juden auch in Magdeburg verfolgt und ermordet. Erst 1146 kehrten die Überlebenden zurück; 1215 führte Kaiser Otto IV. einen Krieg gegen Magdeburg und den Erzbischof Albrecht II., wobei das Judendorf geplündert und zerstört wurde. Später wurde es auf Kosten der Juden  wiederaufgebaut. 1261 wurde das Judendorf ein zweites Mal ausgeplündert und zerstört, weil Erzbischof Ruprecht die leere Staatskasse auffüllen wollte. Diese Vorgänge sind auch um 1240 präsent, als das Programm der Paradiesvorhalle vom Domkapitel beauftragt wurde. Gerade der heilsgeschichtliche Aspekt sieht doch in der Blindheit des Judentums für den Messias Jesus und in der Zuordnung zu den törichten Jungfrauen als den vom Heil Ausgeschlossenen die Berechtigung zur Ablehnung und Verwerfung des Judentums. Ohne diese Verwerfung sind die Pogrome nicht denkbar. Römer 11 scheint mir hier gerade nicht programmbildend geworden zu sein.“

Und Waltraut Zachhuber schrieb ihm: „Ja, es ist wirklich erschreckend, an dieser schönen Synagoga den Judenstern zu sehen. Aber irrst Du nicht darin, wenn Du sagst, dass diese Art, die Heilsgeschichte zu verstehen, nichts mit den Pogromen zu tun hat? Es geht doch bei Ekklesia und Synagoga um Enterbung und Erbe - um Verwerfung und Unterwerfung. Ich habe einen Katalog einer Ausstellung, die Giselher Quast seit Jahren nach Magdeburg holen will: "Ekklesia und Synagoge", zusammengestellt von Prof. Jochum, in der deutlich wird, wie sich die zeitgenössische Haltung zu den Juden und die Darstellung dieses Paares in der christlichen Kunst entsprechen. Das geht dann bis dahin, dass die Synagoga mit einem Teufel oder mit einem Bockskopf gezeigt wird, wo sie von der Ekklesia getötet wird usw. Und um nichts anderes handelte es sich ja bei den Pogromen, oder? Inzwischen wirst Du ja auch die Luther-Ausstellung zum "Jahr der Toleranz"! gesehen haben - ist nicht auch Luther bewegt von heilsgeschichtlichen Vorstellungen bei seinem "Eifer" um die Juden, der den Nazis eine "wunderbare" Vorlage gegeben hat, was sie nicht müde werden zu rühmen? Es ist kaum zu ertragen, seine furchtbaren Sätze dort im Dom zu lesen! Wahrscheinlich müssen wir all diese alten Bilder von Kirche und Judentum beiseitelegen und alles Fragen nach dem heilsgeschichtlichen Weg Gottes für Juden und Christen für den Jüngsten Tag aufheben, wenn wir "von Angesicht zu Angesicht" sehen und erkennen werden. Für mich ist auf alle Fälle diese - wenn auch noch so schöne - Darstellung von Kirche und Judentum eine Stufe auf dem Weg des christlichen Antijudaismus', der sozusagen "unser Beitrag" zum Leiden und Sterben so vieler Juden ist, (und so ist wohl auch der Stern gemeint)...“

Eine Gedenkplatte für Sophie Masting hat die Domgemeinde bereits beauftragt. Sie wird am Nordturm des Domes in den nächsten Monaten im Pflaster verlegt und die Inschrift tragen: „Zum Gedenken an den Todessturz der Magdeburger Jüdin Sophie Masting am 1. September 1934 - לְעוֹלָמִים כְּנָפָיו בְּסֵתֶר יַסְתִּירֵם הָרַחֲמִים בַּעַל לָכֵן”. Übersetzt lautet das Zitat aus dem jüdischen Totengebet El malej rachamim: „So berge sie doch Du, Herr des Erbarmens, im Schutze deiner Fittiche in Ewigkeit.“

zur Titelseite

zum Seitenanfang

ImDialog. Evangelischer Arbeitskreis für das christlich-jüdische Gespräch in Hessen und Nassau
Robert-Schneider-Str. 13a, 64289 Darmstadt
Tel 06151-423900 Fax 06151-424111 email