Das Freigeben des Kindes, Teil I:
Die Auslösung Isaaks oder Bedeutet denn jedes Opfer Schlachten?
von Michael Rosenkranz

Rabbiner Benno Jacob (1862 — 1945) wies in seinem Kommentar zum I. Buch Mose (1) darauf hin, dass die Wendung „lekh-lekha", hebräisch für „brich auf!", „mach dich auf den Weg!", in der Thorah nur zweimal vorkommt (2), beide Male als Aufruf des Ewigen an Abram, dem späte­ren Abraham. Das erste Mal, als der Ewige Abram aufforderte, all sein bisheriges Leben, seine Vergangenheit also, hinter sich zu lassen und aufzubrechen in ein Land, das der Ewige ihm zeigen würde (I.BM 12,1). Dass es für das Leben eines Menschen bedeutend sein kann, seine Ver­gangenheit hinter sich zu lassen, ist ein geläufiger Gedanke: Sich frei zu machen von allem Überkommenen, von Veraltetem, von Erstarrtem, das einen in seiner Entwicklung einengen und binden könnte. Abram sollte einen neuen Weg gehen und war bereit dazu. Er hat sich von seiner Vergangenheit getrennt. An die Aufforderung ist eine große Ver­heißung geknüpft, die ihm verkündete, dass er zu einem großen Volk werden würde und dass alle Geschlechter der Erde durch ihn gesegnet sein würden. Wie Abram es verstand, bedurfte es dafür der Nachkommen, die dem inzwischen greisen Ehepaar Abram und Saraj jedoch nicht beschieden waren. In der Verzweiflung gab Saraj ihre Magd Hagar dem Abram, dass sie durch sie bekindert werde. Hagar gebar Ismael, Abrams Sohn. Auch wenn Saraj mit der Situation nicht glücklich war, — Abram liebte ihn, sah in ihm seine mögliche Zukunft. Und als der Ewige nun auch der betagten Saraj eigene Nachkommen verhieß, konnte Abram es kaum glauben und bat in seiner Bescheidenheit um Leben für lsmael. Aus Abram und Saraj wurden Abraham und Sarah, und als Abraham hundert Jahre alt war, gebar ihm Sarah seinen anderen Sohn Isaak, den ersehnten Sohn mit seiner Ehefrau Sarah. Da das Verhältnis zwischen Sarah und Hagar und deren Sohn immer schwieriger wurde, musste Abraham einer Trennung von ihm zustimmen, die ihm schwer fiel. Aber er hatte ja nun noch Isaak. Dieser würde nun seine Zukunft sein, auf ihm lag nun alles Hoffen und Sehnen Abrahams.

Doch nun erging an ihn zum zweiten Mal der Aufruf „lekh-lekha", - „brich auf, mache dich auf den Weg!" -, „ins Land Morijah und nimm deinen Sohn, deinen einzigen, den, den du liebst, den Isaak, und darhöhe ihn dort als Darhöhung". Es heißt nicht „darhöhe ihn Mir", sondern nur „darhöhe ihn". Es heißt allerdings auch, dass der Ewige Abraham prüfen wollte. In einer Zeit, in der überall im Land, in dem Abraham wohnte, Kindsopfer üblich waren, und aus seiner Sozialisierung heraus, musste Abraham diesen Geheiß verstehen als Aufforderung zu einem Kindsopfer. Vielleicht wusste er noch nicht, dass Kindsopfer dem Ewigen ein verabscheuungswürdiges Verbrechen sind, wodurch Sein Heiliger Name entweiht wird (III.BM 20, 1-5). Vielleicht wagte Abraham auch nicht, das Geheiß in Frage zu stellen, gar anzuzweifeln oder sich dagegen aufzulehnen. In seinen Augen musste es völlig unverständlich sein und seine Ausführung Abrahams Aussicht auf Zukunft, die Möglichkeit der Erfül­lung der erhaltenen Verheißung, begraben.

Wie wir aus dem weiteren Verlauf der Geschichte wissen, bewies Abraham die auf dem Prüfstand stehende Glaubenstreue und war tatsächlich bereit, seinen Sohn zu schlachten (I.BM 22, 10).
Diese große, übermenschliche Glaubenstreue würdigte der Ewige mit den Worten „Nun weiß Ich, dass du gottesfürchtig bist, da du Mir deinen Sohn, deinen einzigen, nicht vorenthalten hast" und Er erneuerte Seine Verheißung dem Abraham.

Diese Glaubenstreue wird dem Abraham als großes Verdienst angerechnet, das, nach dem Glauben des Volkes Israel, sich auch auf Abrahams Nachkommen erstreckt und ihnen zugute kommt. Man kann zwar argumentieren, dass dieses Verdienst nicht für alle Zeiten als Gegengewicht für etwaige Missetaten der Kinder Israels in die Waagschale geworfen werden könne. Doch hat bereits Moses in seiner großen Fürbitte für das sündig gewordene Volk das Verdienst der Väter, in dem auch die Verdienste Isaaks und Jakobs mit umfasst sind, in diesem Sinn erfolgreich eingebracht (II.BM 32, 13). Und so spielt dieses Verdienst in der Liturgie des Tags des Gerichtes, Yom haDin, das ist Rosch haSchanah, das jüdische Neujahrsfest, und auch in den Segnungen der Morgenröte (Birkoth haSchachar) des täglichen Morgengebets bis heute eine bedeutsame Rolle.
Auch das Erleben Isaaks, der von dem Geheiß an Abraham nichts wusste und dennoch in Glaubens­stärke sich von seinem Vater binden und zur Schlachtung auf den Altar hat legen lassen, ist in der israelitischen Auffassungsgeschichte dieser Erzählung von besonderer Bedeutung. Im II.BM 4, 22­23 bezeichnet der Ewige das Volk Israel als Seinen erstgeborenen Sohn. Und wie Abraham seinen (mit Sarah) erstgeborenen Sohn band und auf den Altar zum Schlachten legte, so sahen sich im Lauf der Geschichte immer wieder auch die Israeliten als Märtyrer um des Heiligen Namens willen und identifizierten sich mit Isaak.

Doch, wie gesagt, — der Ewige wollte und will gar keine Kindsopfer und hat die Schlachtung ja auch verhindert (I.BM 22, 12). Wie Benno Jacob ausführte, verlangte Er von Abraham, nach der Trennung von der Vergangenheit, vielmehr nun auch die Trennung von der Zukunft (3). Was bedeutet es, sich von seiner Zukunft zu lösen? Es bedeutet, diejenigen, die die Zukunft gestalten werden, die Kinder, nicht mit Überholtem zu belasten, sie nicht durch altmodische Vorstellungen einzuschränken und zu behindern. Hätte Isaak, dieser geduldige, nachgiebige, eher passive Mensch sich je zu einer eigenen Persönlichkeit entwickeln können, wenn sein übergroßer Vater ihm weiterhin jeden Schritt vorge­schrieben hätte? In seinem Kommentar zum I. Buch Mose (4) weist Rabbiner Wolf Gunther Plaut (1912 — 2012) darauf hin, dass Abraham nach der Auslösung Isaaks durch einen Widder alleine aus dem Land Morijah zurückkehrte. Wo blieb Isaak? Plaut vermutet, dass „die traumatische Erfahrung des nahen Todes den Sohn vom Vater trennte, dass Jizchak (=Isaak) nun ein Mann geworden ist, der zum ersten Mal seinen Vater gehen lassen konnte und erst später zurückkehrte, wenn er es wollte und zu einem von ihm gewählten Zeitpunkt". Wenn Abraham erst im Augenblick der Agonie seines Sohnes im Stande war, ihn loszulassen, so „wurde Jizchak durch sie befreit" (Plaut).

Wenn also nicht jedes Ganzopfer, wie die Darhöhung üblicherweise übersetzt wird, „Schlachten" bedeutet, sondern einfach auch nur als „Freilassen" verstanden werden kann oder sogar muss, dann können wir auch dem „Ende" von Jiftachs Tochter ein anderes Verständnis abgewinnen. Denn Jiftachs Gelöbnis, dem seine einzige Tochter zum „Opfer" fiel, lautete mit den gleichen Worten: „Dasjenige, das herauskommt aus den Türen meines Hauses ... soll dem Ewigen gehören, und ich will es darhöhen als eine Darhöhung". (Buch Richter 11, 31). Wir wissen nur, dass er sein Gelöbnis erfüllte, nicht, wie. Ist es denkbar, dass Jiftach seine jungfräuliche Tochter, die bisher sein Augapfel war, nun, nach dem Sieg und nach Jiftachs gesellschaftlicher Rehabilitation, endlich freigeben konnte, zum Beispiel für eine Eheschließung?

Muss daher das Freigeben der Erstgeborenen, das durch die gebotene Auslösung (II.BM 13, 13) ermöglicht wird, außer den Söhnen nicht auch die Töchter betreffen?

Quellenangaben:
(1) Benno Jacob, Das Buch Genesis"; Calwer Verlag, Stuttgart, 2000
(2) Daselbst: Kapitel 12, „Der Eintritt in Kanaan", S. 333
(3) Daselbst: Kapitel 22, „Morija", S. 493
(4) W. Gunther Plaut (Hrsg.), „Die Tora in jüdischer Auslegung", Band I Bereschit.Genesis; Chr. Kaiser Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh, 1999; S. 219
Darüber hinaus: TeNaKh/Das Alte Testament: Fünf Bücher Mose und Buch Richter

Dr. Michael Rosenkranz, geboren in Stuttgart 1948; niedergelassen als Arzt für Allgemeinmedizin; Mitglied der Jüdischen Gemeinde Bochum-Herne-Hattingen: seit 1996 Autor von Artikeln und Referent über Themen der jüdischen Religion, u.a. auf www.talmud.de; Beauftragter der Jüdischen Gemeinde für den interreligiösen Dialog und Teilnehmer mehrerer interreligiöser Arbeitskreise.

zur Titelseite

zum Seitenanfang

ImDialog. Evangelischer Arbeitskreis für das christlich-jüdische Gespräch in Hessen und Nassau
Robert-Schneider-Str. 13a, 64289 Darmstadt
Tel 06151-423900 Fax 06151-424111 email