Zum Umgang mit dem Antisemitismus
von Daniel Neumann

Ausnahmsweise sind sich einmal alle im Bundestag vertretenen Parteien einig. Sie stellen unisono fest, dass es 1.) in Deutschland Gewalt gegen Frauen gibt, dass es 2.) wirksamer Gegenmaßnahmen bedarf und dass 3.) eine Expertenrunde geschaffen werden muss, um die Situation konkret zu beschreiben und Vorschläge zu unterbreiten, wie mit dem Problem umzugehen sei. In einem ersten Schritt werden die Mitglieder der Experten-Kommission benannt. Dabei wird deutlich, dass in der Runde nicht eine einzige Frau vertreten ist. Wie konnte das passieren? Und was hat es zu bedeuten?

Bevor Sie sich nun zu sehr empören, sollten Sie lieber innehalten und sich und ihren Blutdruck schonen: die Geschichte stimmt nämlich gar nicht. Es ist nur ein Hirngespinst. Was denn auch sonst? Wer käme wohl in einer Zeit, in der Frauenquoten noch nicht einmal mehr vor den Vorstandsetagen großer Unternehmen Halt machen, auf eine solch abwegige Idee? Obwohl, ganz so abwegig ist der Gedanke dann auch wieder nicht, oder?

Bundesinnenminister Thomas de Maiziere jedenfalls hat kürzlich eine neue Antisemitismus-Kommission ins Leben gerufen, deren Einsetzung von allen Fraktionen des Deutschen  Bundestags begrüßt wurde, um (Zitat) „Antisemitismus entschlossen zu bekämpfen und jüdisches Leben in Deutschland weiterhin nachhaltig zu fördern“.  Nur, einen kleinen Schönheitsfehler hat die Kommission zum Thema Antisemitismus schon: Es gibt dort niemanden, der vom Antisemitismus persönlich und unmittelbar betroffen wäre – die Kommission ist, wie es ein Blogger im Internet sarkastisch nannte, absolut „judenrein“.

Zumindest einige Organisationen reagierten schnell und meldeten scharfen Protest an. Julius Schoeps vom Moses-Mendelssohn-Zentrum in Potsdam nannte die Tatsache, dass nicht ein einziger jüdischer Wissenschaftler dem Gremium angehören solle, einen „einzigartigen Skandal“ und Anetta Kahane von der Amadeu-Antonio-Stiftung erklärte verständnislos: „Niemand käme auf den Gedanken, eine Konferenz zum Islamhass ohne muslimische Vertreter oder einen Runden Tisch zur Diskriminierung von Frauen ohne Frauen anzusetzen.“ Nur im Bundesinnenministerium mochte man die Aufregung nicht so recht verstehen. Eine Sprecherin verkündete den Medien, die Religionszugehörigkeit hätte bei der Auswahl der Kommissions-Mitglieder keine Rolle gespielt.
Das mag schon so sein und es erklärt auch, weshalb zu den benannten Experten Angehörige der beiden christlichen Kirchen ebenso gehören wie ein Moslem. Nur erklärt es nicht, wieso kein Jude mitreden soll, wenn Fragen des Erstarkens antisemitischer Grundhaltungen und der für Juden daraus resultierenden Gefahren untersucht werden.

Sei’s drum. Denn andererseits müsste die ketzerische Frage erlaubt sein, was wir von solch einer Kommission, ihren Feststellungen und ihren Empfehlungen überhaupt zu erwarten haben? Schließlich ist alles schon mal dagewesen. Denken wir nur an die erste Experten-Runde, die 2007 vom Bundestag berufen worden war und die 2011 ihren Bericht vorgelegt hatte. Und? Was ist damit geschehen? Der frühere Generalsekretär des Zentralrats der Juden in Deutschland, Stephan Kramer, weiß, dass statt einer ernsthaften politischen Auseinandersetzung mit den Ideen und Anregungen des Berichts dieser in irgendwelchen Schubladen verstaube. Aber dafür gibt es ja zum Glück noch die Gedenkveranstaltungen zur Befreiung von Auschwitz oder zur Pogromnacht vom November 1938. Das sind wenigstens verlässliche Daten, an denen - jeweils ein, zwei Stunden lang - erinnert, gemahnt und die Solidarität bekräftigt wird.

Beispiele von Ereignissen, die kritische und ernste Konsequenzen nach sich ziehen sollten, gibt es leider genügend. So etwa der Prozess gegen drei Palästinenser, die im vorigen Jahr einen Brandanschlag auf die Wuppertaler Synagoge verübt hatten und im kürzlich stattgefundenen Verfahren vor dem Amtsgericht Wuppertal mit glimpflichen Bewährungsstrafen davon kamen. Das wahrhaft Bemerkenswerte an diesem Urteil war allerdings nicht die richterliche Milde, sondern die Begründung für deren Anwendung. Die Tat, so befand der Richter, sei nicht etwa Ausdruck von Antisemitismus, also Judenhass, gewesen, sondern habe nur auf den Gaza-Konflikt hinweisen sollen.

Soso, folgert jetzt der interessierte Nachrichten-Leser, -Hörer oder –Zuschauer, es muss also, wer Molotow-Cocktails auf jüdische G“tteshäuser wirft, gar nicht judenfeindlich eingestellt sein, sondern vielmehr ein zutiefst politischer und empfindsamer Mensch, dessen Protest in der Umsetzung höchstens das ein oder andere Quäntchen Augenmaß vermissen lässt.
Das eröffnet völlig neue Perspektiven für die Zukunft: Sollte Benjamin Netanjahu, der böse Bube der in Amerikas und Europas Staaten Regierenden, künftig mal wieder auf stur schalten, wird in konsequenter Anwendung einer auf richterliches Verständnis stoßender Verärgerung mal eben ein
jüdischer Kindergarten, ein jüdisches Altenheim oder eben eine Synagoge in Deutschland zur Zielscheibe der Empörung erkoren.
Da fällt mir eigentlich nur ein Satz des Schriftstellers Gideon Böss in der „Welt“ ein: „Wer in Anschlägen auf jüdische G“tteshäuser keinen Antisemitismus sehen kann, ist ein glücklicher Mensch. Dann gibt es nämlich keinen Antisemitismus mehr. Wer aber so glücklich ist, der sollte kein Richter sein.“

Schön wär’s. Tatsache aber ist, dass es eine ganze Reihe von vermeintlich rechtsprechenden Staatsdienern gibt, die eher in juristischen Elfenbeintürmen zu Hause sind, als sich durch Lebensnähe und klaren Verstand auszuzeichnen. 

So auch in der folgenden Justizposse, die sich kürzlich am Landgericht München abspielte. Dort ging es um die Frage, ob und wann jemand als „glühender Antisemit“ bezeichnet werden dürfe. Eine Frage, die gerade an bundesrepublikanischen Gerichten von einigem Interesse zu sein scheint und die schon so manch irritierende juristische Blüte hervorgebracht hat.
Die Richterin des Landgerichts München jedenfalls ließ sich nicht lumpen und erklärte in ihrer Urteilsbegründung nonchalant: „Ein glühender Antisemit in Deutschland ist jemand, der mit Überzeugung sich antisemitisch äußert, mit einer Überzeugung, die das Dritte Reich nicht verurteilt und ist nicht losgelöst von 1933-1945 zu betrachten, vor dem Hintergrund der Geschichte.“
Wissen Sie also nun, wer die glühenden Antisemiten sind? Nur eben diejenigen Holzköpfe, die dumm genug sind, sich mit der menschenverachtenden Ideologie der Nazis und ihrem tiefsitzenden Judenhass zu identifizieren und dies mit einem wehmütigen Blick in die deutsche Vergangenheit auch offen, ungeniert und offensiv verkünden.
Damit ist der Münchner Richterin mit einem Federstreich gelungen, was kein Expertengremium, keine Partei und keine Regierung seit dem Ende des 2. Weltkriegs fertig gebracht hat: Sie hat Deutschland von den Antisemiten befreit. Von den meisten zumindest. Eigentlich Grund genug, dem Bundesinnenminister anzuempfehlen, sie in die Expertenkommission zur Bekämpfung des Antisemitismus zu berufen. Deren Erfolg jedenfalls wäre dann garantiert!

Nun gehören solche Eigenwilligkeiten aus dem Interpretations-Alltag beamteter Juristen leider nicht nur in Deutschland zur real existierenden Rechtspflege. Zu den Ländern, deren Bevölkerung eine tradierte antisemitische Grundhaltung nachgesagt wird, zählt fraglos Österreich.
Auch von dort wurde kürzlich ein bemerkenswerter Fall einer sehr sonderbaren juristischen Weltanschauung berichtet, über den in jüdischen Kreisen außerhalb der Alpenrepublik zumindest größeres Unverständnis herrschte als anscheinend in Österreich selbst.
Auf seiner Facebook-Seite hatte ein türkischer Friseur aus Wels in der Nähe von Linz ein Foto Hitlers veröffentlicht und die mangelnde Wertschätzung für denselben beklagt. Außerdem legte er dem Führer, der mit Hakenkreuzbinde posierte, folgenden Spruch in den Mund: „Ich könnte alle Juden töten. Aber ich habe einige am Leben gelassen, um Euch zu zeigen, warum ich sie getötet habe“. Zur Komplettierung seiner Überzeugung verfluchte er auf derselben Seite Israel und bat  Allah, den jüdischen Staat zu vernichten.

Mir ist nicht bekannt, ob Allah den Facebook-Eintrag von Ibrahim T. gelesen hat, aber einer Reihe von anderen Lesern missfiel der Aufruf zutiefst, weshalb sie die Polizei informierten, die ihrerseits den Verfassungsschutz einschaltete und den Fall an die Staatsanwaltschaft weiter leitete. Was wiederum zu dem überraschenden Ergebnis führte, dass der ermittelnde Staatsanwalt keine Straftat erkennen konnte. Die Aussagen des türkischen Friseurs seien keine Verherrlichung Hitlers und kein Ausdruck von Antisemitismus, erklärte ein Sprecher der Behörde, sondern eine Unmutsäußerung gegenüber Israel und als solche legitim. Die Wuppertaler Justiz lässt grüßen. Aber es gibt noch Hoffnung. Der zuständige Generalstaatsanwalt ließ ankündigen, der Fall würde noch einmal zum Gegenstand neuer Ermittlungen. Schau’n wir also mal.

Nun sind all die genannten Beispiele zwar unerfreulich und ärgerlich, aber relativ bescheiden im Vergleich zu den vielen Nachrichten, die uns aus leider viel zu vielen anderen europäischen Ländern erreichen: Morde, tätliche Angriffe, Bedrohungen und Beleidigungen von Juden wohin man auch schaut – die Liste ist lang und die Tendenz zeigt nach oben. Exemplarisch genügt ein Blick ins Geburtsland des Liberalismus. Dort haben sich die judenfeindlichen Übergriffe im Vergleich zum Vorjahr mehr als verdoppelt. Doch keine Sorge, denn die Lösung des Problems ist in greifbarer Nähe. Wir schicken den Briten die deutschen und österreichischen Richter und Staatsanwälte im Wege der Amtshilfe.
Glauben Sie mir: Es wird nicht lange dauern und sie werden die Antisemiten mit aller Kraft aus England vertrieben haben. Zumindest auf dem Papier.

Der Autor ist Direktor des Landesverbandes der Jüdischen Gemeinden in Hessen, K.d.ö.R

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