Was bleibt von Bruder Martin?
von Klaus-Peter Lehmann

1. Zur Kritik an Martin Luther
Die vielstimmige Kritik an dem Reformator Martin Luther, dessen 95 Thesen zum Ablasswesen der Papstkirche weltgeschichtliche Wirkung entfalteten und deren Anschlag am 31.10.1517 an der Schlosskirche zu Wittenberg von der EKD zum Anlass genommen wird, im Jahr 2017 das 500jährige Reformationsjubiläum zu feiern, wird bleiben. Die evangelischen Kirchen räumen das Recht vieler Kritiken ein. Sie werden vielfach aus ihrer eigenen Mitte vorgebracht und betreffen  nicht nur Randfragen, sondern tangieren die Substanz der Theologie Luthers.
Die heute verbreitetste Kritik betrifft Luthers Judenhass. Schon der Antijudaismus des jungen Professors für Bibelauslegung nimmt den Juden jede geistliche Eigenständigkeit. Er hat völlig falsche Vorstellungen vom jüdischen Glauben. Als typische Religion der Werkgerechtigkeit wird der jüdische Glaube ihm zum negativen Gegenbild des christlichen. Wie fast alle Zeitgenossen sieht er das Heil der Juden allein in ihrer Bekehrung zum Christentum. Der Judenhass des späten Luther hat sogar den Nationalsozialisten zur Rechtfertigung ihres Antisemitismus gedient. Ein zweiter Vorwurf besagt, Luther habe mit seiner Zwei-Reiche-Lehre und seinem Verhalten im Bauernkrieg einem politischen Ordnungsdenken Vorschub geleistet, das der Obrigkeit auch für brutale Unterdrückung freie Hand lässt. Im Blick auf die Rechtfertigungslehre gibt es den Einwand, sie unterliege einer individualistischen Engführung und beziehe sich nicht auf gesellschaftliche Strukturen. Der Freispruch von den Sünden gelte nur dem inneren Menschen und lasse die politische Umwelt unberührt.
An allen Vorwürfen ist etwas dran, auch wenn sie einzeln und differenziert betrachtet werden sollten. Insgesamt sind sie von solchem Gewicht, dass wir uns der Frage stellen müssen: Was bleibt von Bruder Martin?

2. Der nicht gebratene Schwan
Die reformatorische Bewegung sah sich in der Nähe der hussitischen Reformbewegung. Luther hatte sich wiederholt mit dem als Ketzer verbrannten Johannes Hus in eine Reihe gestellt. Aber anders als dieser war er nach dem Verhör durch den Legaten des Papstes Cajetan im Oktober 1518 auf dem Reichstag zu Augsburg seiner drohenden Verhaftung durch Flucht entkommen. Denn mit dem Gang nach Augsburg hatte Luther sich in die Gefahr begeben, festgenommen, verurteilt und verbrannt zu werden. Freunde und Berater hatten ihm von der Reise abgeraten. Ich habe einige Menschen getroffen, die so wenig Vertrauen in meine Sache setzen, dass sie sogar angefangen haben, mich aufzufordern, nicht nach Augsburg zu gehen. Ich aber bleibe fest entschlossen. Es geschehe Gottes Wille! Auch in Augsburg, auch mitten unter seinen Feinden herrscht Jesus Christus. Christus soll leben, Martin mag sterben und jeder Sünder, wie geschrieben steht: 'erhoben werde der Gott meines Heils!' (Ps 17,47)  (1)  Luther war offenbar bereit gewesen, für die von ihm erkannte Wahrheit mit seinem Leben zu einzustehen. Deshalb erscheint es begründet, wenn er sich neben den Märtyrer Hus stellte: Johannes Hus hat von mir geweissagt, da er aus dem Gefängnis Böhmerland schreibt: Sie werden jetzt eine Gans braten (denn Hus heißt Gans); aber über hundert Jahren werden sie einen Schwan singen hören, den sollen sie leiden. Da soll's auch bei bleiben, ob Gott will.  (2)

3. Eine radikal erneuerte Kirche
Luther hatte Erläuterungen zu seinen 95 Ablassthesen verfasst.  (3)  Cajetan hatte sie vor dem Verhör in Augsburg gelesen und zur Erläuterung der 7. These in seinen Aufzeichnungen vermerkt, Luthers rein personale Glaubensauffassung unterminiere die Kirche, ihre durch die Priester ausgeübte Macht als Institution, die das Heil vermittelt.  (4)  Bei Luther lesen wir:
Was immer du auf der Erde lösen wirst, (wird im Himmel gelöst sein). Der Glaube nämlich an dieses Wort macht den Frieden des Gewissens, während (erst) nach diesem der Priester lösen wird... Also löst Petrus nicht eher als Christus, sondern er macht die Lösung bekannt und öffentlich. Wer mit Vertrauen geglaubt hat, hat den Frieden bei Gott wahrhaft erlangt. Weshalb, wenn einer diesem Wort nicht glaubt, auch wenn er vom Papst mehr als tausendmal freigesprochen wird, niemals Ruhe haben wird.   (5) 
Nach diesen Worten Luthers ist die Kirche nicht eine Heilsanstalt, die Gnadengüter verwaltet und über ihre Verteilung aus eigener Macht also herrscherlich verfügt, seien es die Sakramente oder die Ablässe.  Seine These unterminiert die Gleichsetzung der verfassten Kirche mit dem göttlichen Mysterium. Für ihn ist die Kirche vielmehr wie eine Herde, deren Mitglieder die Worte ihres Hirten glauben und beherzigen. Allein die Glaubenden sind Glieder der wahren Kirche, aber vollmächtige. Sie sind einander Brüder und Schwestern, vereinigt zur Gemeinde Jesu Christi, d.h. zum Priestertum aller Gläubigen. Die Hierarchie zwischen Klerus und Laien fällt. Der gegenseitige priesterliche Liebesdienst ist das neue Leben der Gemeinde. Jeder ist aufgerufen, dem Wohl und dem Heil seines Nächsten zu dienen. Dies alles geschieht allein durch das Wort. Es fällt auch das Amt des Schwertes. Das Schwert der Kirche ist das lebendige Wort des barmherzigen und gerechten Gottes, das zur Nächstenliebe befreit.  (6) 

4. Doktor der Heiligen Schrift
Luther hatte das neue Kirchenverständnis allein aus seiner Tätigkeit als Professor für Bibelwissenschaft, aus der Auslegung des biblischen Wortes gewonnen. Er hatte keine neue Idee, keine neue Kirchentheorie erdacht. Er war und wollte auch nichts anderes sein als das, wozu er den Auftrag hatte: Doktor der Heiligen Schrift. Das ist hier wichtig, unabhängig von manchen Irrwegen seiner Auslegungen. Luther war kein Ideologe, kein Kirchenreformer, kein Fundamentalist. Ein nationalistisches Luthertum, die Gründung einer Kirche auf seinen Namen oder eine abgöttische   Schriftverehrung waren ihm fremd. Er wollte das Evangelium, die frohe Botschaft von der Freiheit aller Kreatur durch den Glauben an Jesus Christus,  (7)  die sich jedem, der die Bibel studiert, imponiert,   (8)  weitersagen und ihm in der politischen Landschaft seiner Zeit Raum und Gehör verschaffen. Luther war ein vom biblischen Wort Gefangener, wie er in seiner berühmten Erklärung auf dem Reichstag zu Worms 1521, mit der er den von ihm geforderten Widerruf ablehnte, von sich bekannte.
Wenn ich nicht mit Zeugnissen der Schrift oder mit offenbaren Vernunftgründen besiegt werde, so bleibe ich von den Schriftstellen besiegt, die ich angeführt habe und mein Gewissen bleibt gefangen in Gottes Wort  (9) 
Luthers Leben mit der Heiligen Schrift hatte sicher rabbinische Ausmaße. Seiner Meinung nach sollte jeder Christ mit der Bibel leben und in sie hineinkriechen wie ein Hase in seine Zuflucht: Kriech hinein und bleib drinnen wie ein Hase in seiner Steinritze.  (10)   So in der Schrift zuhause war Luther auf die die katholische Kirche sprengende und die evangelische Kirche begründende Wahrheit gestoßen: Der Gerechte lebt durch seinen Glauben. Dieser prophetische Satz, der den Grundstein von Luthers Rechtfertigungslehre abgibt, steht beim Propheten Habakuk (Hab 2,4) und wird im Neuen Testament mehrfach zitiert (Röm 1,17; Gal 3,11; Hebr 10,38). Mit der Gerechtigkeit, die aus dem Glauben an die Verheißungen Gottes kommt, hatte Luther den Kern der biblischen Botschaft wieder freigelegt.
Diese sogen. reformatorische Entdeckung Luthers kommt aus dem Alten Testament, ist also  jüdischer Natur. Auch der Talmud sieht in dem Satz des Propheten Habakuk die Zusammenfassung der Thora (Maccoth 23b). Dass das allein aus Glauben lebendige jüdische Wahrheit ist, lag jenseits von Luthers Vorstellungsvermögen. Deshalb ist die von ihm entdeckte Wahrheit größer als er wusste.
Luthers Entdeckung bedeutet, dass christlicher Glaube ein personaler Akt ist und allein aus dem Vertrauen auf das Wort der Heiligen Schrift kommt, nicht aus dem Vertrauen auf eine Institution, nicht aus einem menschlichen Gefühl oder einem religiösen Bedürfnis und auch nicht aus einem Erlebnis der Natur oder der Geschichte.

5. Die Unverzichtbarkeit  der Bildung für eine gebildete Gesellschaft
Trotzdem muss für den Glauben gelernt werden. Nicht nur das Gefühl soll beten, auch der Verstand. Die Verheißung der Schrift soll nicht nur geglaubt, die Schrift muss auch verstanden werden.
Die Einrichtung von Schulen, die Verdeutschung der Bibel und der Messe sowie die Erstellung von allgemein verständlichen Glaubensgrundlagen (Katechismen) standen im reformatorischen Programm obenan. Die Reformation war, auch im Verständnis Luthers, zuvörderst eine Bildungsbewegung. Um sie in Sachsen voranzubringen, betrieb er die Berufung des Universalgelehrten Philipp Melanchthon an die Wittenberger Universität. Im Anschluss an den Humanismus sahen Melanchthon und Luther in der Kenntnis der hebräischen und griechischen Sprache die Grundlage für das Verständnis der Schrift.
Erst anhand der Originaltexte werden wir uns die Worte mit ihrem Glanz und ihrer eigentlichen Bedeutung erschließen... Sobald wir zum Verständnis des Buchstabens vorgedrungen sind, werden wir ein sicheres Beweismittel für die Dinge, um die es sich tatsächlich handelt, in die Hand bekommen.  (11)  Bei Luther hört sich das so an: Und lasst uns das gesagt sein, dass wir das Evangelium nicht wohl werden erhalten ohne die Sprachen. Die Sprachen sind die Scheide, darin das Messer des Geistes steckt... Wo nicht die Sprachen bleiben, da muss das Evangelium untergehen.  (12) 
Von daher räumte Luther der Bildungspolitik oberste Priorität ein. Mit dem Bau von Schulen für Bildung zu sorgen sei wertvoller als Reichtum und militärische Stärke. Hier liege das wahre Gut für ein Gemeinwesen und seine Zukunft: Nun liegt einer Stadt Gedeihen nicht allein darin, dass man große Schätze sammle, feste Mauern, schöne Häuser, viel Büchsen und Harnisch zeuge; ja wo das viel wächst und tolle Narren darüber kommen, so ist desto ärger und größerer Schade derselben Stadt; sondern das ist einer Stadt bestes und allerreichstes Gedeihen, Heil und Kraft, dass sie viel feiner, gelehrter, vernünftiger, ehrbarer, wohlgezogener Bürger hat, die könnten darnach wohl Schätze und Gut sammeln, halten und recht gebrauchen... So ist's auch eine unmenschliche Bosheit, so man nicht weiter denkt denn also: Wir wollen jetzt regieren, was geht uns an, wie es denen gehen werde, die nach uns kommen.  (13) 

6. Die menschliche Vernunft – „geradezu etwas Göttliches“
Luthers Schrift An die Ratsherrn aller Städte... zeigt sehr schön, wie sich für die reformatorische Bewegung das Verhältnis von Glaube und Vernunft idealerweise gestalten sollte. Gebildete Vernunft und geschulter Verstand sind unabdingbar, um den Glauben geistig zu durchdringen. Der Glaube aber leitet die Vernunft zu Werken der Liebe an, auch im gesellschaftspolitischen Sinn. Dazu gehört die Heranbildung von Menschen, die die Güter der Allgemeinheit recht gebrauchen. Das politische Amt als einen Auftrag zu verstehen, für die Allgemeinheit Werke der Liebe zu initiieren, damit auch durch uns die Welt gebessert werde,  (14)  das kann die natürliche und geistlich ungebildete Vernunft sich nicht selber sagen. Sie hat aus sich selbst keine sichere Orientierung, um sich egoistischer Motive zu entäußern, damit ein solches Amt nicht durch Machtstreben, Bereicherung, tyrannische Willkür oder Gier nach Ruhm missbraucht wird.
Dass also ein Fürst in seinem Herzen sich seiner Gewalt und Obrigkeit entäußere und nehme sich an der Notdurft seiner Untertanen, und handle darin, als wäre es seine eigene Notdurft. Denn also hat Christus getan, und das sind eigentlich christlicher Liebe Werke.  (15) 
Die natürliche Vernunft der Heiden kann zu politischen Dingen zwar Beachtenswertes sagen, man wird auch von ihr lernen können. Aber wo, wie bei den Römern, der Ruhm als das höchste zu erstrebende Gut gilt, ist der Keim der Verderbnis ins Ganze gelegt. Luther ironisiert das in einem  lateinischen Wortspiel: Haec ego feci, ait Cicero. Ex hoc: feci fiunt feces.  (16)
Aus der faktischen Beliebigkeit ihrer Ziele und Motive, denen die Vernunft sich unterwirft und denen sie dient, resultiert die Rede von der Vernunft als einer Hure. Wird sie aber von der Nächstenliebe geleitet und entfaltet ihre Fähigkeiten in ihrem Dienst, dann hat die Vernunft geradezu etwas Göttliches.  (17)  Einerseits also braucht die Vernunft die Anleitung durch die Liebe, andererseits kann keine Liebe auf die Vernunft als ihre Dienerin verzichten.

7. Antikapitalismus aus Glauben
An Luthers massiver Kritik des Handelskapitalismus ist interessant, dass er sie nicht aus Vernunftprinzipien entwickelt, sondern aus der Mitte reformatorischer Theologie, dem ersten Gebot, der Rechtfertigungslehre und dem Gebot der Nächstenliebe.
Im Großen Katechismus bezeichnet Luther den Mammon als den allergemeynest Abgott auff  erden.  (18)  Er ermahnt die Pfarrer: Der Mammon ist auch ein Gott, d.h. er wird von den Menschen wie ein Gott verehrt.  (19)  Damit meint Luther mehr als ein individuelles Verhalten. Deutlich sieht er die strukturelle Gewalt des Kapitals, die die Gesellschaft in Könige und Bettler spaltet, indem die Monopolgesellschaften drucken und verderben alle geringe kauffleute, gleich wie der Hecht die kleyne fisch ym wasser, gerade als weren sie Herren ober Gottes Creaturen, und frey von allen gesetzen des glaubens und der liebe. Luther sieht die Monopole auf dem besten Weg, das sie bald aller welt gut zu sich reyssen.  (20)  So zwingt der wucherische Mammon schließlich die ganze Gesellschaft in  existentielle Abhängigkeit von sich. Die Reichen sehen in ihm ihre Sicherheit. Die Armen bedürfen seiner, um zu überleben. Die Gewalt des Mammons knechtet die Menschen durch Egoismus und Angst. Sie richtet sich unmittelbar gegen die Nächstenliebe, zu der Christus in seiner Entäußerung von aller Gewalt die Sünder freigesprochen hat.
Jeder soll mitleidig und barmherzig sein gegenüber seines Nächsten Notdurft und Unglück. Christus selbst hat uns dafür ein einzigartiges Beispiel gegeben, worüber Paulus in seinem Brief an die Philipper schreibt: 'Obwohl er in göttlicher Gestalt und Herr über alles war, wollte er nichts als erraubt, noch erwuchert, noch ergeizt haben, sondern entäußerte sich allem und ward unser Knecht und Diener.' Die Geizwänste dagegen erwuchern, ergeizen, errauben und erstehlen sich ihre göttliche Ehre und Herrschaft über die Armen und Bedürftigen. Sie haben Lust daran, dass... sie mit dem Gelde herrschen und andere sie deshalb anbeten müssen. Sie folgen in dieser Hinsicht nur ihrem Vater, dem Teufel, der sich auch im Himmel die Gottheit mit seinem Reichtum... erwuchern und ergeizen wollte.  (21) 
Luther deutet mit seiner Paraphrasierung von Philipper 2 an, dass die Frage der Herrschaft des Mammon eine christologische Frage ist: aut Christus aut Mammon. Oder: Ihr könnt nicht Christus nachfolgen und dem Mammon dienen. Es ist sein Verdienst als einziger reformatorischer Theologe darauf aufmerksam gemacht zu haben, dass kapitalistisches Wirtschaften die Gesellschaft ruiniert und christlichem Glauben grundsätzlich widerspricht.  (22)  

8. „Keine Kaiserin soll dir so leuchten wie dein Eheweib“
Luther kritisierte das Lob des ehelosen Standes, den die katholische Kirche wider die Natur pflegt: Der natürliche Trieb zum Weibe ist bei ihnen erloschen. Er ruft dazu auf, Hochzeit und Ehe in Ehren zu halten und als einen göttlichen Auftrag anzusehen.Er weiß auch: Es ist etwas Feines, einen Menschen bei sich zu haben, dem du dich in allen Stücken anvertrauen darfst. Christlich von der Ehe zu reden, bedeutet aber mehr. Als Prediger stimmt Luther einen einzigartigen Lobgesang auf das wunderbare, göttliche Geschenk der Ehe an.
Das ist ein großer und herrlicher Preis der Ehe, dass dein Weib geschmückt ist mit dem Kleinod des Wortes Gottes; keine Königin und Kaiserin soll dir so leuchten wie dein Eheweib. Ebenso soll dir, Frau, kein Mann so gefallen wie der deine; denn du findest an ihm das Wort Gottes geschrieben. Gott selber spricht dir dein Weib, deinen Mann zu, und es gefällt Gott wohl, dass diese dein Weib und umgekehrt jener dein Mann ist. Darum gibt es keinen Schmuck in der Ehe, der diesen Schmuck überträfe; denn wenn du auf das Wort Gottes schaust, das euch zusammengefügt hat, dann magst du mit gutem Gewissen mit ihr leben und schlafen und Kinder zeugen.  (23) 
Man spürt den Jubel, der aus einem freudigen Ergriffensein davon kommt, einem anderen Menschen frei und ganz angehören zu dürfen. Der Ehebund von Mann und Frau ist für Luther ein wunderbares und nur zu lobendes Geschenk, zu dem gehört, alle zwischenmenschlichen Freuden, die darin eingeschlossen sind, Gemeinschaft, Sexualität und Kinder zu genießen.

9. Die singende Gemeinde im Einklang mit der Schöpfungsfreude
Ein Christ muss ein fröhlicher Mensch sein. Wenn er es nicht ist, dann ist er vom Teufel versucht.  (24)  Bei Luther findet sich nichts von der Gedrücktheit des Gemüts, die dem Protestantismus so oft vorgehalten wird. Für Luther war das gepredigte Evangelium eine die Herzen beglückende ewige Frohbotschaft. Das obige muss meint keinerlei äußeren Zwang, sondern gibt die Erfahrung wieder, dass das Wort des barmherzigen Gottes die Herzen erneuert, vom Zweifel erlöst, zur Liebe befreit und eine unüberwindbare Hoffnung schenkt. Wer das Evangelium annimmt, kann nicht anders als fröhlich werden.
Gottes Wort will gepredigt und gesungen sein, schreibt Luther.  (25)  Das Wesen der Musik entspricht der Freude spendenden frohen Botschaft. Sie besänftigt die bösen Affekte des Gemüts und bereitet innerlich Frieden. In der Vorrede auf alle guten Gesangbücher preist Luther das Werk der Musik mit seinem Gedicht Frau Musika.  (26) 
Vor allen Freuden auf Erden / Kann niemand keine feiner werden / Denn die ich geb mit meinem Singen... Hier bleibt kein Zorn, Zank, Hass noch Neid / Weichen muss alles Herzeleid / Geiz, Sorg und was sonst hast an Leide / Fährt hin mit aller Traurigkeit... ...auch Gott viel bass gefällt / Denn alle Freud der ganzen Welt / Den Teufel sie sein Werk zerstört... Die beste Zeit im Jahr ist mein / da singen alle Vögelein / Himmel und Erde sind der voll, / Viel gut Gesang da lautet wohl / Voran die liebe Nachtigall / Macht alles fröhlich überall / Mit ihrem lieblichen Gesang, / Des muss sie haben immer Dank, / Viel mehr der liebe Herregott, / Der sie also geschaffen hat, / zu sein die rechte Sängerin, / der Musik eine Meisterin. / Dem singt und springt sie Tag und Nacht, / Seines Lobs sie nichts müde macht, / Den ehrt und lobt auch mein Gesang / Und sagt ihm einen ewigen Dank.
Es ist der fröhliche Gesang, der in der Schöpfung ertönt, dem menschliches Singen und Klingen sich anschließen soll. Der Gesang, der durch Jesus Christus zur Freude befreiten Gemeinde  (27)  soll dem Singen der Kreatur folgen. Nach Luther hat sie in der Nachtigall ein Vorbild. Dahinter sehen wir die Utopie einer aus reiner Freude am kreatürlichen Miteinander singenden Gemeinde.
Demzufolge konnte auch die Rolle der Gemeinde im Gottesdienst nicht länger die eines stummen Zuschauers wie in der katholischen Messe sein. Ist die Messe eine von der Priesterschaft stellvertretend für die passive Gemeinde inszenierte Gebetsbewegung von der Kirche zu Gott hin,  so geht es im evangelischen Gottesdienst umgekehrt um das Kommen des befreienden Wortes Gottes zur Gemeinde hin. So korrespondieren hier die Verkündigung der frohen Botschaft und die freudige Danksagung der Gemeinde. Beides ist ohne Gesang undenkbar. Deshalb gehörte die Musik als Elementarfach in den Lehrplan der Schulen, auch damit deren Chöre den Gesang der örtlichen Gemeinden leiten konnten.  (28)  Auch die Pfarrer sollten singen können.
Auch  die Rolle der Musik leitete Luther aus der frohen Botschaft der Bibel her. Wie die Psalmen sah er den Gesang der Gemeinde und den Gesang der Kreatur als das universale Lob alles Lebendigen für seinen Schöpfer: Alles was Odem hat, lobe den Herrn! Hallelujah! (Ps 150,6).

  1. Luthers Acta Augustana, Hrg. K. P. Schmid, Augsburg 1982, S. 67
  2. WA 30,3, S. 387;  Luther mit dem Schwan – Tod und Verklärung eines großen Mannes, Berlin 1996, S. 9
  3. Resolutiones disputationum de indulgentiarum virtute (Thesen zur Disputation über die Güte der Ablässe), 1518
  4. Th. Kaufmann, Geschichte der Reformation, Reutlingen 2009, S. 229
  5. M. Luther, Resolutiones..., Luthers Werke, Hrg. O. Clemen, Berlin 1959, Bd. 1, S. 35-37
  6. sine vi sed verbo, CA XXVIII
  7. Wir hoffen mit der Kreatur auf Befreiung... Da wird kein Übel, keine Traurigkeit mehr sein. Der erste Stein ist gelegt, aber der Bau ist noch nicht vollendet. So sollen wir unser Herz auf das andere Leben hin richten... Die Hoffnung ist da, die wir gemeinsam mit der Kreatur haben, dass sie von ihrer Knechtschaft und wir vom Jammer unseres Leibes erlöst werden, M. Luther, Predigt über Römer 8,18-23, 6.7.1544, WA 49, S. 503f; Predigten über den Weg der Kirche, München 1967, S. 509f
  8. Die Bibel hat sich imponiert, H. Gollwitzer, Befreiung zur Solidarität, München 1978, S. 57; Die Wahrheit der Schrift erweist sich ganz von selbst, J. Calvin, Unterricht in der christlichen Religion, I,7,2
  9. Luther, Hrg. K. Steck, H. Gollwitzer, Frankfurt/M. 1955, S. 101
  10.  M. Luther, Kirchenpostille 1522, WA 10/I/1, S. 193,13; Rechtfertigung und Freiheit, 500 Jahre Reformation 2017, Hrg. Kirchenamt der EKD, Gütersloh 2014, S. 79f
  11. Ph. Melanchthon, de corrigendis adulescentiae studiis (wie das Studium der Jugend verändert werden muss), Wittenberger Antrittsrede, 1518, in: Melanchthon deutsch, Bd. 1, Leipzig 1997,  S. 57f
  12. M. Luther, An die Ratsherren aller Städte deutschen Landes, dass sie christliche Schulen aufrichten und halten sollen, 1524, Clemen, Bd. 2, S. 452
  13. a.a.O., S. 449
  14.  a.a.O., S. 460
  15.  M. Luther, Von weltlicher  Obrigkeit, 1523, Clemen, S. 387f
  16.  Das habe ich gemacht, spricht Cicero. Aus diesem 'Habe ich gemacht' (feci) werden Fäkalien (feces), WA 40 III, 222,34f; s. O. Bayer, Martin Luthers Theologie, Tübingen 2003, S. 145
  17.  Luther preist die Vernunft als optimum et divinum quiddam, als eine allerbeste göttliche Gabe, Luther, Hrg. K. Steck, H. Gollwitzer, S. 9
  18.  M. Luther, Der große Katechismus, 1529, Clemen, Bd. 4, S. 5
  19.  M. Luther, An die Pfarrherrn wider den Wucher zu predigen, 1540, G. Fabiunke, Luther als Nationalökonom, Berlin 1963
  20.  M. Luther, Von Kaufshandlung und Wucher, 1524, Clemen, Bd. 3, S. 19f
  21.  M. Luther, An die Pfarrherrn... Fabiunke,  S. 219
  22.  F. W. Marquardt, Gott oder Mammon aber: Theologie und Ökonomie bei Martin Luther, Einwürfe 1, München 1983, S. 176-216
  23.  M. Luther, Predigt über Joh 2,1f, 8.1.1531, Wittenberg, in: Predigten über den Weg der Kirche, München 1967, S. 177Ff
  24.  M. Luther, Tischreden, Hrg. K. Aland, Stuttgart 1960, S. 253
  25.  H. Jung, Nun komm der Heiden Heiland, in: Von Luther zu Bach, Hrg. R. Steiger, Sinzig 1990, S. 146
  26.  Die  Vorrede auf alle guten Gesangbücher mit dem Titel Frau Musika verfasste Luther für Johann Walthers Buch Lob und Preis der löblichen Kunst Musika, Wittenberg 1538
  27.  Wer es wie die Engel glauben und ernst nehmen könnte, dass Christus auferstanden ist und als solcher hier ist, dass man also den Lebendigen nicht bei den Toten suchen darf, der wäre fröhlich wie ein Engel....Wir sind dessen ganz gewiss, weil er unser Bruder ist und wir die Seinen. Dazu helfe uns der barmherzige Gott, dass wir's glauben und uns darüber freuen können, M. Luther, Predigt über Joh 20,11-18, 18.3.1535 Wittenberg, WA 41, S. 51Ff; Predigten über die Christusbotschaft, München 1966, S. 184, 188
  28.  R. A. Leaves, The Deutsche Messe an the Music of Worship in: Von Luther zu Bach, S. 115, 118

 

Klaus-Peter Lehmann, Jg. 1946, studierte Theologie bei Gollwitzer und Marquardt und war bis zu seinem Ruhestand Pfarrer der Nordelbischen Kirche in Hamburg. Aktiv im jüdisch-christlichen Dialog mit zahlreichen Veröffentlichungen in kirchlichen Zeitschriften und Buchveröffentlichungen. Er lebt seit 2005 mit seiner Frau in Augsburg.

zur Titelseite

zum Seitenanfang

ImDialog. Evangelischer Arbeitskreis für das christlich-jüdische Gespräch in Hessen und Nassau
Robert-Schneider-Str. 13a, 64289 Darmstadt
Tel 06151-423900 Fax 06151-424111 email