| ,Nostra  Aetate' muss eine bleibende Verpflichtung seinvon Josef Schuster
Ich kann mich noch gut erinnern: Wir  schrieben das Jahr 1975. Ich war ein junger Medizinstudent, und das ganze  katholische, wenn nicht auch evangelische Deutschland blickte auf meine  Heimatstadt Würzburg. Gespannt warteten alle auf die Beschlüsse der gemeinsamen  Synode der Bistümer. Wie würde sich das Zweite Vatikanische Konzil in der  Praxis niederschlagen? Ich muss zugeben: Mich haben damals  als junger Student andere, sagen wir mal: weltliche Dinge, mehr interessiert.  Aber ich weiß noch gut, dass mein Vater – er war damals Vorsitzender der  Jüdischen Gemeinde von Würzburg – sehr aufmerksam das Geschehen verfolgte. Als  Überlebender der Shoa verband er große Hoffnung mit dem Zweiten Vatikanum. Denn das Zweite Vatikanum hatte auch  „Nostra Aetate“ hervorgebracht – und damit einen großen Stein ins Rollen. Sie  können mich jetzt – nach diesem Einstieg – für einen überzeugten Lokalpatrioten  halten. Das bin ich auch! Aber dass ich bei „Nostra Aetate“ auch an die  Würzburger Synode denken muss, das hat viel mit der Erinnerung an die positive  Stimmung zu tun, die damals herrschte. Und als die Deutsche  Bischofskonferenz mich einlud, zum 50. Jahrestag der Verkündung von „Nostra  Aetate“ zu sprechen – und für diese Einladung möchte ich mich ganz ausdrücklich  bedanken! – als die Einladung kam, habe ich mich gefragt: Wie ist die Stimmung  heute? Gibt es in der katholischen Kirche immer noch die Aufbruchstimmung des  Konzils? Oder gibt es sie – dank des neuen Papstes - sogar wieder? Und wie ist  die Stimmung zwischen Juden und Christen? So hoffnungsvoll wie damals? Es ist sehr zu begrüßen, dass die  Bischofskonferenz den 50. Jahrestag zum Anlass für eine Selbstvergewisserung  nimmt. Selbstkritisch sollten wir uns fragen, wo wir heute mit dem  christlich-jüdischen Dialog eigentlich stehen. Meine sehr geehrten Damen und  Herren, es sind in der Tat auch kritische Punkte anzusprechen, aber ich möchte  schon an dieser Stelle unterstreichen: Die Erklärung „Nostra Aetate“ ist im  Verhältnis der katholischen Kirche zum Judentum ein Meilenstein! Sie ist auch  so etwas wie ein Versprechen, dass die Kirche den Juden gegeben hat. Und  dahinter darf sie nie mehr zurückfallen! „Nostra Aetate“ ist mehr als ein  Kompass. „Nostra Aetate“ muss eine bleibende Verpflichtung für die Kirche sein! In vier Abschnitten werde ich auf  die Bedeutung von „Nostra Aetate“ aus jüdischer Sicht eingehen. 1. „Nostra Aetate“ ist ein  Meilenstein. Wir müssen uns das vor Augen führen:  Zum ersten Mal in ihrer Geschichte hat die katholische Kirche mit der Erklärung  „Nostra Aetate“ eine Selbstkorrektur vorgenommen! Nach 2.000 Jahren veränderte  sie ihren Kurs.
 Sie erkannte nicht nur das Judentum  als die Wurzel des Christentums an, sondern betonte zugleich, dass – ich  zitiere aus „Nostra Aetate“ – „die Juden nach dem Zeugnis der Apostel immer  noch von Gott geliebt“ sind und man „die Juden nicht als von Gott verworfen  oder verflucht darstellen“ dürfe. „Da also das Christen und Juden gemeinsame  geistliche Erbe so reich ist, will die Heilige Synode die gegenseitige Kenntnis  und Achtung fördern.“ Die Kirche sagte sich von ihrem über  Jahrhunderte praktizierten Antijudaismus los. Sie präsentierte sich erstmals –  wie es der deutsch-israelische Schriftsteller Chaim Noll einmal beschrieben hat  – Zitat: „in aller Offenheit und Angreifbarkeit - als eine fehlbare  Institution. Zugleich als eine, die über die geistige Kraft verfügt, sich  selbst zu korrigieren“. Wer heute noch einmal nachliest, wie  vehement der Protest aus bestimmten Kreisen der Kirche war und wie scharf  arabische und muslimische Staaten beim Vatikan intervenierten, der kann  erahnen, wie tief diese Kurskorrektur war und auf allen Seiten empfunden wurde. Für uns Juden war die Erklärung ein  riesiger Schritt. Würde nun endlich die von der Kirche betriebene  Judenfeindschaft aufhören? Sie hatte über Jahrhunderte furchtbare Folgen  gezeitigt. Zur jüdischen Geschichte gehört die blutige Geschichte von  Kreuzzügen und Pogromen und schließlich der Shoa unauflöslich dazu. So war es  denn auch kein Zufall, dass jüdische Vertreter im Jahr 2000 in ihrer Antwort  auf „Nostra Aetate“ viele Gemeinsamkeiten zwischen Judentum und Christentum  herausarbeiteten, aber ausdrücklich auf diese belastende Vergangenheit  eingingen: In der Erklärung „Dabru Emet – auf Deutsch: Redet Wahrheit“ heißt  es: „Der Nazismus war kein christliches Phänomen. (Aber) ohne die lange  Geschichte des christlichen Antijudaismus und christlicher Gewalt gegen Juden  hätte die nationalsozialistische Ideologie keinen Bestand finden und nicht  verwirklicht werden können. Zu viele Christen waren an den Grausamkeiten der  Nazis gegen die Juden beteiligt oder billigten sie. Andere Christen wiederum  protestierten nicht genügend gegen die Grausamkeiten. Dennoch war der Nationalsozialismus  selbst kein zwangsläufiges Produkt des Christentums. Wäre den  Nationalsozialisten die Vernichtung der Juden in vollem Umfang gelungen, hätte  sich ihre mörderische Raserei weitaus unmittelbarer gegen die Christen  gerichtet.“ Das bringt die historischen Tatsachen auf den Punkt: Die  katholische Kirche hatte gründliche Vorarbeit geleistet für die Nazis. Sie  konnten auf eine tief verwurzelte Judenfeindlichkeit aufbauen. Für das jüdische  Volk endete der Vernichtungswahn der Nationalsozialisten in der Katastrophe der  Shoa. 1965, als Nostra Aetate verkündet  wurde, lagen nur 20 Jahre dazwischen. Wir müssen uns dies bewusst machen, um zu  erkennen: Nostra Aetate war damals ein Meilenstein und ist es bis heute. 2. Der christlich-jüdische Dialog  als stabiles Fundament Dass wir heute auf zahlreiche  christlich-jüdische Gesprächskreise, Initiativen und Foren blicken können – das  ist ganz wesentlich eine Folge von „Nostra Aetate“. Es hatte schon nach 1945  einzelne Initiativen gegeben, die wichtig waren, um „Nostra Aetate“ den Weg zu  bereiten. Und natürlich gab es immer Christen, die sich für Juden und die  Verständigung eingesetzt haben, nach dem Krieg und auch während des Krieges.
 Meine sehr geehrten Damen und  Herren, lassen Sie mich das hier kurz einschieben, damit kein falscher Eindruck  entsteht: Die katholische Kirche hat in der Shoa ohne Frage Schuld auf sich  geladen. Aber es gab auch mutige Christen, die in der NS-Zeit für die Rettung  von Juden ihr Leben riskierten oder für ihren Glauben mit dem Leben bezahlen  mussten – das ist gerade in der jüdischen Gemeinschaft nicht vergessen! Doch mit „Nostra Aetate“ hatte die  Amtskirche die entscheidende theologische Wende vollzogen. Die Wende in den  Köpfen und Herzen musste noch folgen – sie dauert bis heute an. Dennoch, das  ist meine Erfahrung: Die christlich-jüdischen Beziehungen bilden heute ein  stabiles Fundament. In jüngster Vergangenheit haben wir das in der  Beschneidungsdebatte 2012 gespürt. Nach dem unsäglichen Urteil des Kölner  Landgerichts gegen die Beschneidung stellten sich die beiden großen Kirchen  sofort an unsere Seite – und damit ja auch an die Seite der Muslime! Die Situation damals war wirklich  brenzlig: Wäre die Politik der Auffassung der Kölner Richter gefolgt und hätte  die Beschneidung aus religiösen Gründen zum Straftatbestand erklärt – dann wäre  jüdisches Leben in Deutschland unmöglich geworden! Der nach wie vor große  Einfluss der Kirchen auf die Politik war in der Debatte für uns eine große  Hilfe. Dafür sind wir bis heute dankbar! Die Beschneidungsdebatte förderte  aber auch ein Bild der Gesellschaft zutage, das erschreckend war: In sehr  vielen Beiträgen war ein völliges Unverständnis für Religion generell zu  spüren. Gemeinsam standen wir einer säkularisierten Gesellschaft gegenüber und  merkten: Hier gilt es, zusammen nicht nur für unsere Werte und Rituale zu  kämpfen, sondern für unsere Religionsfreiheit. Hier gilt es, den Wert  religiösen Lebens deutlich zu machen und zu verteidigen! Es wurde klar: Wir befinden uns in  der gleichen Lage. Beim interreligiösen Dialog geht es daher nicht nur darum,  Konflikte zwischen den Religionsgemeinschaften auszuräumen, sondern uns  gegenseitig zu unterstützen und unsere Interessen gemeinsam zu vertreten. Schon 2011 beim Treffen des  Zentralrats der Juden mit Papst Benedikt XVI. hat mein Vorgänger Dieter  Graumann das fast in weiser Voraussicht betont: „Und in einer Welt, in der,  jedenfalls in Europa, die Kraft des Glaubens leider schwächer und bisweilen  weniger populär zu werden scheint, haben wir umso mehr an gemeinsamen Zielen  und gemeinsamen Interessen und noch so viel mehr, was uns eint und auch für  immer einen muss.“ Dem kann ich mich nur anschließen.  Uns allen sollte daran gelegen sein, dass Religion ihren Stellenwert in der  Gesellschaft behält und wieder ausbauen kann. Der schwindende Einfluss von  Religion ist besorgniserregend. Das solide Fundament der  christlich-jüdischen Beziehungen hat sich in meinen Augen auch zu Beginn dieses  Jahres gezeigt. Zum 70. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz veröffentlichten  die Deutsche Bischofskonferenz und die EKD eine gemeinsame Erklärung. Darin  heißt es: „Die bis heute schmerzliche Erinnerung an Auschwitz stellt uns vor  die Frage nach Schuld und ihren Folgen sowie nach unserer Verantwortung. (…)  Dazu gehört ein kritisches Verhältnis zu den kulturellen und religiösen  Traditionen, in denen wir leben und die uns mit den vergangenen Lebenswelten  verbinden, in denen die Shoah möglich war. Als Christen können wir auch der  Frage nicht ausweichen, warum die Verbrechen von Auschwitz auf einem Kontinent  geschahen, der seit mindestens einem Jahrtausend vom Christentum geprägt wurde.  (…) Die katholische und die evangelische Kirche treten in ökumenischer  Gemeinschaft gegenwärtig und zukünftig entschieden jeder Form von Antijudaismus  und Antisemitismus entgegen“. Meine sehr geehrten Damen und  Herren, der Geist von „Nostra Aetate“ ist in dieser Erklärung ganz deutlich zu  spüren. Ja, ich wage sogar zu behaupten: Ohne „Nostra Aetate“ wäre sie gar  nicht möglich gewesen. Solche Erklärungen sind nicht selbstverständlich. Und  wir, die jüdische Gemeinschaft in Deutschland, wissen sie sehr zu schätzen. Bischof Mussinghof sprach eben  davon, dass es die Pflicht aller Bürger und eine Christenpflicht sei, jeder  Form von Antisemitismus entgegenzutreten. Für diese Worte danke ich Ihnen ganz  ausdrücklich! Und gerade ist erstmals eine  Delegation der Deutschen Bischofskonferenz mit orthodoxen und liberalen  Rabbinern nach Israel gereist, um gemeinsam jüdische und christliche  Einrichtungen zu besuchen. Vermutlich gibt es keinen anderen Ort auf der Welt,  an dem Religionsvertreter ihr gegenseitiges Verständnis besser vertiefen  könnten. Hier wirkt „Nostra Aetate“ im besten Sinne nach. An dieser Reise zeigt sich auch, wie  wichtig die Erklärung „Nostra Aetate“ für das Verhältnis des Vatikans zu Israel  war. 1993 schlossen beide Staaten ihren Grundlagenvertrag miteinander ab. Und  für die jüdische Gemeinschaft weltweit gilt: Niemals darf die Kirche die  Bedeutung Israels für uns Juden unterschätzen! Nie darf das Existenzrecht  Israels in Frage gestellt werden! 3. „Nostra Aetate“ in unserer Zeit „Nostra Aetate“ wird stets als die  bahnbrechende Erklärung der katholischen Kirche zum Judentum betrachtet. Zu  Recht. Aber wir sollten nicht übersehen, dass der Text darüber hinausgeht: Es  ist die Erklärung – so der Titel - „über das Verhältnis der Kirche zu den  nichtchristlichen Religionen“. Ein ganzer Abschnitt (Nostra Aetate III) ist dem  Islam gewidmet. „Mit Hochachtung betrachtet die Kirche auch die Muslim, die den  alleinigen Gott anbeten (…)“ „Da es jedoch im Lauf der Jahrhunderte zu manchen  Zwistigkeiten und Feindschaften zwischen Christen und Muslimen kam, ermahnt die  Heilige Synode alle, das Vergangene beiseite zu lassen, sich aufrichtig um  gegenseitiges Verstehen zu bemühen (…)“
 Und im Schlussabschnitt von „Nostra  Aetate“ heißt es: „Deshalb verwirft die Kirche jede Diskriminierung eines  Menschen oder jeden Gewaltakt gegen ihn um seiner Rasse oder Farbe, seines  Standes oder seiner Religion willen (…)“ Meine Damen und Herren, 1965 war die  Welt noch eine andere. Es gibt keinen Grund, sie in rosarote Farben zu tauchen.  Aber hätte sich damals jemand vorstellen können, dass im Namen einer Religion  Verkehrsflugzeuge in Wolkenkratzer gelenkt werden? War der islamistische Terror,  wie er heute Christen und Juden bedroht, in dieser Weise vorstellbar? Millionen von Muslimen haben mit  diesem Terror nichts zu tun. Auseinandersetzen müssen sie sich aber ebenso mit  der Gewalt, die im Namen ihrer Religion ausgeübt wird, wie die katholische  Kirche dies auch tun musste. Die lateinischen Worte „Nostra Aetate“ bedeuten  „In unserer Zeit“. Kann uns die Erklärung auch heute, in unserer Zeit, einen  Weg weisen, wie wir in einen fruchtbaren Dialog mit der muslimischen Welt  kommen können? Papst Johannes Paul II., der wie  kein zweiter im Geist von „Nostra Aetate“ gewirkt hat, hat einmal gesagt: „Der  interreligiöse Dialog ist nie ein Versuch, unsere eigene Sicht der Dinge  anderen aufzuzwingen. Er bedeutet auch nicht, dass wir unsere eigenen Überzeugungen  aufgeben. Nein, Dialog bedeutet vielmehr, dass wir fest zu dem stehen, woran  wir glauben, während wir gleichzeitig den anderen voller Respekt zuhören und  dabei das suchen, was gut und heilig ist, was den Frieden und die Kooperation  fördert.“ Gewalt wird geächtet, aber wir  bemühen uns um gegenseitiges Verstehen – das ist quasi das Rezept, das uns  „Nostra Aetate“ gibt. In unserer Zeit bedeutet das: Terroristen werden  geächtet. Aber im Dialog mit den Muslimen bemühen wir uns um gegenseitiges  Verstehen. Gegenseitiges Verständnis ist wahrlich nicht leicht. Es verlangt uns  allen viel ab. Es spricht aber viel dafür, dass nur mit diesem Schlüssel das  Tor zu einer friedlicheren Welt geöffnet werden kann. 4. „Nostra Aetate“ als bleibende  Verpflichtung Im eben gehörten Vortrag wurde  „Nostra Aetate“ als „bleibender Kompass“ bezeichnet. Wie ich es eingangs schon  erwähnte, möchte ich noch darüber hinausgehen. Die Erklärung „Nostra Aetate“  sollte nicht nur Kompass, sondern eine bleibende Verpflichtung sein!
 Ein Kompass weist den richtigen Weg.  Aber wir wissen nur zu gut: Die Nadel eines Kompasses zittert oft. Manchmal  wird sie auch magnetisch abgelenkt. Manchmal verirren wir uns trotz Kompass.  Das trifft zwar alles auch auf den fragilen christlich-jüdischen Dialog zu.  Aber als Vorgabe ist mir das zu wenig. Was wir anstreben, sollte mehr sein: Die  katholische Kirche ist ein Versprechen eingegangen gegenüber dem Judentum. Sie  hat sich verpflichtet. Und hinter dieses Versprechen darf sie nicht mehr  zurückfallen. Leider gibt es aus jüdischer Sicht  seit dem Pontifikat von Benedikt XVI. Zweifel an der Standfestigkeit der  Kirche. Es sind drei Themen, die ich hier ansprechen muss: 
        die  Neufassung der Karfreitagsfürbitte für die lateinische Messedie  Rücknahme der Exkommunikation der vier Bischöfe der Pius-Bruderschaftsowie die  angestrebte Seligsprechung von Papst Pius XII. Zur Karfreitagsfürbitte: Die Abschaffung der alten  Karfreitagsfürbitte war für die jüdische Gemeinschaft ein sehr wichtiger  Schritt gewesen. Umso größer war der Schock, als Papst Benedikt XVI. 2008 die  Karfreitagsfürbitte für den außerordentlichen Ritus neu formulierte. Darin  fanden sich die Worte wieder, dass die Herzen der Juden erleuchtet werden  mögen, damit sie Jesus Christus erkennen. Die Skepsis auf jüdischer Seite -  die ohnehin vor allem unter orthodoxen Juden immer bestanden hatte – dieses  Misstrauen, ob die Kirche letztlich nicht doch die alte Judenmission fortsetzen  wolle, gewann prompt die Oberhand. Ich möchte an dieser Stelle noch  einmal Chaim Noll zitieren, der diese zutreffenden Sätze allerdings schon 2005  verfasste: „Die Wunden sind tief, das Selbstverständnis beider Seiten von der  unseligen Feindschaft gezeichnet, eine Wieder-Annäherung schien lange im  Bereich des Undenkbaren und ist auch heute ein schweres, umstrittenes Werk.“  Als Kardinal Walter Kasper dann in der FAZ auch noch gönnerhaft den Juden  unterstellte, ihre Irritationen wegen der neuformulierten Karfreitagsfürbitte  seien nicht rational, sondern emotional begründet, da war der christlich-jüdische  Dialog so sehr erschwert, dass sein Ende drohte. Wir Juden fragten uns: Wenn uns die  katholische Kirche als ihren älteren Bruder bezeichnet, dann fehlt es diesem  jüngeren Bruder aber offenbar an Respekt. Dann fühlt er sich seinem älteren  Geschwisterteil, vermutlich weil er größer ist, offenbar überlegen. Und ja, wir Juden reagieren  emotional, wenn sich eine Gruppe uns gegenüber als ausdrücklich überlegen  einstuft. Kardinal Kasper ergänzte noch generös: „Man sollte sie (die  Irritationen) jedoch nicht als Ausdruck von Überempfindlichkeit abtun.“ Doch,  genau das! Wir sind überempfindlich. Denn wir haben sechs Millionen Brüder und  Schwestern verloren, weil andere Menschen uns als minderwertig betrachteten.  Und deshalb sind wir sofort hellwach, wenn kleinste Anzeichen wieder in diese  Richtung deuten. Wir sind hellwach, aber nicht  hysterisch. Wir haben auch registriert, dass Papst Benedikt jeglicher  Judenmission eine klare Absage erteilt hat. Ebenso ist uns natürlich der Besuch  des Papstes in der Kölner Synagoge im Jahr 2005 in Erinnerung. Damit hat er ein  starkes Zeichen der Verbundenheit gesetzt. Und in seinem zweiten Jesus-Buch  verneint Benedikt XVI. die Verursachung der Kreuzigung Jesu durch die Juden. Daneben haben wir auch die  theologischen Ausführungen von Kardinal Kasper zur neuen Karfreitagsfürbitte  zur Kenntnis genommen. Darin legte er dar, warum diese Neuformulierung genau  nicht hinter „Nostra aetate“ zurückgeht. Dennoch: Theologie ist das eine.  Empathie ist das andere. Daher bekräftige ich unsere  Forderung von damals: Die Neuformulierung der Karfreitagsfürbitte muss  zurückgenommen werden! Ein wenig in der Schwebe ist derzeit  – so vermittelt es sich zumindest nach außen – die vollständige Wiederaufnahme  der Pius-Bruderschaft in den Schoß der katholischen Kirche. Welchen Status die  Bischöfe bekommen sollen, scheint noch nicht entschieden zu sein. Fakt ist  aber: Die Rücknahme der Exkommunikation der vier Bischöfe hat unter Papst  Benedikt XVI. stattgefunden und hat bis heute Bestand. Damit ist diese  antisemitische Bruderschaft – die im Übrigen „Nostra Aetate“ ablehnt und  Holocaust-Leugner in ihren Reihen hat – fast gänzlich rehabilitiert. So sehr  sich die deutschen Bischöfe davon distanziert haben – und das wissen wir zu  würdigen – bleibt dies eine Belastung des jüdisch-christlichen Dialogs. Und schließlich Papst Pius XII. Er  ist eine höchst umstrittene Persönlichkeit. Und so sehr es eine Tatsache ist,  dass er zur Rettung vieler Juden beitrug, ist es ebenso eine Tatsache, dass die  Kirche unter seiner Leitung davor zurückschreckte, wirklich mit allen ihr zur  Verfügung stehenden Mitteln gegen die Nazis vorzugehen, und es ist eine  Tatsache, dass unter den Augen von Papst Pius XII. die römischen Juden  deportiert wurden. An dieser Ambilvalenz wird deutlich,  wie wichtig eine seriöse und wissenschaftliche, historische Einordnung von Pius  XII. ist. Die Akten aus dieser Zeit aus den Archiven des Vatikans müssen der  Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden. Wir begrüßen es daher sehr, dass  Papst Franziskus derzeit zurückhaltend mit der Seligsprechung umgeht. Meine sehr geehrten Damen und  Herren, die Brücke zwischen Christen und Juden hat diesen Belastungen bisher  standgehalten. Zuversichtlich stimmen mich auch viele Gesten des neuen Papstes,  der eine besondere Nähe und persönliche Verbindung zum Judentum hat. Denn weiterhin sind wir Bedrohungen  ausgesetzt: Wenn ich etwa sehe, dass ein evangelischer Theologe dafür plädiert,  die hebräische Bibel, oder um es christlich auszudrücken – das Alte Testament –  aus dem Kanon zu verbannen – dann ist ein kurzer Draht, vor allem Vertrauen  zwischen beiden Religionen wichtig. Vor allem aber brauchen wir  gegenseitigen Respekt. Die respektvolle Haltung, die sich durch die gesamte  Erklärung „Nostra Aetate“ zieht, sollte für uns Vorbild sein. Respekt ist eine  Tugend, die leider auch in unserer Gesellschaft – so scheint mir – verloren zu  gehen droht. Wenn wir Religionsgemeinschaften respektvoll miteinander umgehen  und respektvoll übereinander reden – dann können wir als Vorbilder in die  Gesellschaft wirken. Auch in diesem Sinne ist „Nostra Aetate“ eine bleibende  Verpflichtung – für die Kirche, aber auch für uns, die jüdische Gemeinschaft. Ich danke Ihnen! Vortrag des Präsidenten des  Zentralrates der Juden in Deutschland, Dr. Josef Schuster, bei einer  Veranstaltung der Deutschen Bischofskonferenz zu 50 Jahre „Nostra aetate"  am 21. Juni 2015Quelle: Zentralrat der Juden in Deutschland
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