| Von Nächstenliebe und Wohltätigkeit im Judentumvon Michael  Rosenkranz
Im Midrasch Sifra (zu Paraschath Qedoschim, Kap. 4, Abs. 12) wird von  einer Diskussion zwischen Rabbi Akiba und Rabbi ben Asai berichtet, worin der  Hauptsatz der Thorah (Fünf Bücher Moses) bestehe. Rabbi Akiba meint, es sei der  Satz „Liebe deinen Nächsten wie dich“ (III. B.M. 19, 18b). Rabbi ben Asai ist  dagegen der Meinung, der Satz „Dies ist das Buch der Abstammung des Menschen …“  (I. B.M. 5, 1) sei ein noch wichtigerer Satz. Wie das? Was geschieht, wenn der  Mensch sich selbst nicht liebt, gar sich hasst? Darf das sein Handeln dem  Nächsten gegenüber dann auch bestimmen? Die Fortsetzung des Satzes aus dem  Ersten Buch Moses aber lautet: „Am Tag, als Gott einen Menschen erschuf,  bildete Er ihn im Ebenbild Gottes“. In jedem Mitmenschen begegnen wir also dem  Ebenbild Gottes, und es heißt im jüdischen Glaubensbekenntnis: „Liebe den  Ewigen, deinen Gott, mit deinem ganzen Herzen, deiner ganzen Seele und deinem  ganzen Vermögen.“ (V. B.M. 6, 5) und begegne deinem Nächsten, in dem dir das  Ebenbild Gottes erscheint, in eben dieser Weise, (- gleichgültig, was du von  dir selber hältst). Allerdings bist auch du selber das Ebenbild Gottes, - liebe  und achte du daher auch dich selber.  Liebe zu Gott bedeutet aber, Seine Schöpfung und Seine Geschöpfe zu  achten; Gottes Willen zu erfragen, ihn ernst zu nehmen, bereit zu sein, ihn zu  erfüllen; Gott nachzueifern. In welcher Weise können wir Ihm nacheifern? Im  jüdischen Hauptgebet, in der so genannten Amidah, wird der Ewige dafür  gepriesen, dass Er die Lebenden in Liebe versorgt, Tote mit großer  Barmherzigkeit wiederbelebt, Fallende stützt, Kranke heilt, Gefesselte befreit  und Seine Treue denen bewahrt, die im Staube schlafen. Dies ist unsere Vorlage,  und es heißt ferner: „Wenn dein Bruder neben dir sinkt und seine Hand schwach  wird, dann stütze ihn, sei er auch ein Fremder oder ein Halbbürger, aufdass er  an deiner Seite lebe.“ (III. B.M. 25, 35) Jeder also, der im Ebenbild Gottes  erschaffen wurde, ist unser Bruder, ist unsere Schwester, denen wir mit Achtung  und Respekt gegenüber treten sollen. Wir müssen sie nicht lieben, wenn wir es  nicht können, müssen sie aber würdigen, sie anständig behandeln. Und wir müssen  dafür sorgen, dass sie an unserer Seite ohne Not leben können. Dies ist die  Basis für das jüdische Wohlfahrtswesen. Doch Fürsorge kann auch erdrücken, beschämen, unselbständig machen und  also Schaden anrichten. Das sollte nicht geschehen. Grundsätzlich sollte  Fürsorge die eigenständige Lebensfähigkeit des Nächsten zum Ziel haben, nicht  Abhängigkeit erzeugen. Fürsorge sollte nicht der Eitelkeit des Helfenden dienen  und darf niemals die Würde des Empfängers verletzen, ihn nicht beschämen, ihm  nicht Dankbarkeit abverlangen. Andererseits darf Fürsorge auch nicht zur  Selbstaufopferung und Selbstschädigung des Fürsorgenden führen, denn er hat  auch sich selbst gegenüber eine Bewahrungspflicht. Rabbi Moscheh ben Maimon,  genannt Maimonides, definierte in seinem großen Werk „Mischneh Thorah“ die  Wohltätigkeit als in acht Stufen steigerbar: Unterste Stufe: Die unfreundliche  Gabe, die den Empfänger verletzt oder beschämt. Zweite Stufe: Die freundliche,  aber unzureichende Gabe. Dritte Stufe: Die Gabe auf Verlangen hin. Vierte  Stufe: Die unaufgeforderte Gabe. Fünfte Stufe: Bewahrung der Anonymität des  Empfängers. Sechste Stufe: Bewahrung der Anonymität des Spenders. Siebte Stufe:  Bewahrung der Anonymität sowohl des Empfängers als auch des Spenders. Achte und  höchste Stufe: Hilfestellung zur selbstständigen Lebenserhaltung. Und  Maimonides empfahl, dass der Spender nicht mehr als 20 % seines Vermögens gebe,  um nicht womöglich selbst fürsorgebedürftig zu werden; allerdings sollte er  auch nicht weniger als 5 % geben, am Besten etwa 10 %, und dies nach  Möglichkeit ungenannt (Babylon. Talmud, Traktat Baba batra 10a). Im Idealfall hat jeder Mensch ein großes Herz und hilft so gut er kann.  In der Wirklichkeit funktioniert das nicht immer. Auf Freiwilligkeit,  Großzügigkeit und Unparteilichkeit kann man sich nicht immer verlassen. Es  bedarf oft organisatorischer Strukturen, um dem Einzelnen die Möglichkeit zum  Helfen zu geben, anderseits die Würde der Empfänger zu wahren und schließlich  die Versorgung der Bedürftigen zu sichern und dies nicht vom Wohlwollen  einzelner abhängig zumachen.  Es bildeten sich daher in jüdischen Gemeinden  Wohltätigkeitseinrichtungen aus, die einerseits für die notwendige  Infrastruktur der Hilfe sorgen (Küchen, Kleiderkammern, Ausstattung bedürftiger  Bräute, Krankenbesuche und –versorgung, Altenbetreuung, Beistand für Sterbende  und Versorgung Verstorbener und ihrer Hinterbliebenen und anderes mehr) und  anderseits die Aufrechterhaltung und Kontinuität der Versorgung und ihre  gerechte Verteilung gewährleisten. Neben persönlicher Hilfe in der jeweiligen  Situation kann hier jeder sich entweder ehrenamtlich und/oder als Spender  einbringen. Außerdem aber wurden dem Menschen von der Thorah verschiedene  Pflichtabgaben auferlegt, um die Versorgung der Bedürftigen zu sichern, auch  wenn keine Spendenbereitschaft bestehen sollte. Damit soll jeder Einzelne  verstehen, dass nicht alles, was ein Mensch von Gott erhält, nur für ihn  alleine ist, es ihm vielmehr zur Erfüllung seiner Fürsorgepflicht gegeben  wurde. Ein Feld darf nicht vollständig abgeerntet werden, eine Feldecke muss  für die Armen übrig gelassen werden (III. B.M. 19, 9-10), beim  Herunterschütteln der Oliven vom Baum darf man hinterher nicht Ast für Ast  nachlesen, - das Verbliebene gehört den Armen (V. B.M. 24, 19-22), in jedem  dritten Jahr gehört der zehnte Teil des Ertrags den Bedürftigen (V. B.M. 14,  28-29), abgesehen vom zehnten Ertragsanteil, der jährlich zur Erhaltung der  öffentlichen Einrichtungen und ihrer Bediensteten (vormals der Tempel und die  Leviten) abzugeben ist (V. B.M. 14, 22-27). Die Bewahrung, Behütung und Fürsorge von und für Gottes Schöpfung, die  auch unsere eigene Lebensgrundlage ist, umfasst jedoch nicht nur den Menschen,  - sowohl den Mitmenschen als auch uns selbst -, sondern auch das Tier, die  Pflanzen und die ganze Erde. Und so werden in der Thorah hierzu sehr  detaillierte Hinweise gegeben:  zu einem selbst:das Gebot, sich zu freuen (III.B.M. 23, 40;  V. B.M. 14, 26). Freude tut gut und ermöglicht Dankbarkeit und bildet die  Grundlage für die Liebe zur Schöpfung.
 gegenüber dem Mitmenschen:Schutz der Armen, der Waisen, der Witwen, der  Fremden;
 Fürsorge gegenüber Behinderten; Ehrfurcht vor  alten Menschen; korrektes
 Verhalten gegenüber dem Tagelöhner, dem  Schuldner, dem Schuldigen,
 dem Feind; Gebot der Schabbath-Ruhe für alle  Menschen.
 gegenüber der Kreatur und der Schöpfung:Respekt vor den Bedürfnissen und Eigenheiten  der Tiere und Pflanzen; Verbot der Tiermisshandlung und der Artenausrottung;  Gebot der Schabbath-Ruhe auch für Tiere und die Erde.
 In unserer heutigen Zeit, in der der Mensch mehr als früher in der Lage  ist, die Schöpfung zu zerstören, ist es besonders wichtig, die Fürsorgepflicht  auch gegenüber Tieren, Pflanzen und der unbelebten Natur zu erkennen und zu  erfüllen. Was aber unterscheidet die Wohltätigkeit (hebr. Tsedaqah/Zedaka) von  der Liebe (hebr. Chessed)? Die Weisen lehrten (Babylon. Talmud, Traktat Sukkah  49b): Wohltätigkeit geschieht durch Geld, Taten der Liebe geschehen sowohl  durch die Person, als auch durch Geld. Wohltätigkeit gilt den Armen, Taten der  Liebe gelten sowohl den Armen als auch den Reichen. Wohltätigkeit gilt den  Lebenden, Taten der Liebe gelten sowohl den Lebenden als auch den Toten. Und:  Wohltätigkeit wird nur nach dem Maß der Liebe vergolten, die darin enthalten  ist. Das Wort Zedaka bedeutet Herstellung eines gerechten Ausgleichs,  Chessed liebevolle Zuwendung. Dr.  Michael Rosenkranz, geboren in Stuttgart 1948; niedergelassen als Arzt für  Allgemeinmedizin; Mitglied der Jüdischen Gemeinde Bochum-Herne-Hattingen; seit  1996 Autor von Artikeln und Referent über Themen der jüdischen Religion, u.a.  auf www.talmud.de; Beauftragter der  Jüdischen Gemeinde für den interreligiösen Dialog und Teilnehmer mehrerer  interreligiöser Arbeitskreise.       zur Titelseite 
         zum Seitenanfang  |   |