LITERARISCHE
STÜCKE Jesus
mit den verfolgten Juden Gang durch die Via Dolorosa, Georg Mannheimer Denn sie wissen nicht, was sie tun, Hermann Adler Das Kreuz von Wilna, Hermann Adler Hütet die Tafeln des göttlichen Bundes, Hermann Adler Die Prüfung des Lächlers, Christa Reinig Lächeln über die Welt und über sich selbst, Horst Bienek Das Lied vom letzten Juden, Jizachak Katznelson Welt, frage nicht die Todentrissenen, Nelly Sachs Der ungebetene Gast, Günter Kunert
Ich sah dich
durch die düstre Altstadt gehn, Ich sah den
Pöbel sich im Taumel drehn, Ich sah dich,
als ich durch die Altstadt ging, Ich sah:
dich wieder blutig und entstellt, GEORG
MANNHEIMER geschrieben 1933
Nah an der
Mauer des Ghettos in Wilna steht, blutig, ein Holzkreuz, Endlos von
Schmerzen gepeinigt, so schreit der Gekreuzigte betend: HERMANN
ADLER geschrieben 1941/42 in Polen Er (der Oberkapo) hatte im Dienst einen jungen Burschen bei sich, einen Pipel, wie man ihn nannte, ein Kind mit feingezeichneten schönen Gesichtszügen, das nicht in unser Lager paßte. (In Buna haßte man die Pipel: dort erwiesen sie sich oft grausamer als die Erwachsenen. Ich habe einmal einen Dreizehnjährigen seinen Vater schlagen sehen, weil dieser sein Bett nicht gut gemacht hatte. Da der Alte sanft weinte, schrie der Junge: "Wenn du nicht sofort aufhörst zu heulen, bring ich dir kein Brot mehr. Verstanden?" Der kleine Diener des Holländers wurde jedoch von allen geliebt. Er hatte das Gesicht eines unglücklichen Engels.) Eines Tages flog die Elektrozentrale von Buna in die Luft. An Ort und Stelle gerufen schloß die Gestapo auf Sabotage. Man fand eine Fährte, die in den Block des holländischen Oberkapos führte. Dort entdeckte man nach einer Durchsuchung eine bedeutende Menge Waffen. Der Oberkapo
wurde auf der Stelle festgenommen. Wochenlang wurde er gefoltert. Umsonst.
Er gab keinen Namen preis, wurde nach Auschwitz über-führt und
war fortan verschollen. Als wir eines Tages von der Arbeit zurückkamen, sahen wir auf dem Appellplatz drei Galgen. An-treten. Ringsum die SS mit drohenden Maschinenpistolen, die übliche Zeremonie. Drei gefesselte Todeskandidaten, darunter der kleine Pipel, der Engel mit den traurigen Augen. Die SS schien besorgter, beunruhigter als gewöhnlich. Ein Kind vor Tausenden von Zuschauern zu hängen, war keine Kleinigkeit. Der Lagerchef verlas das Urteil. Alle Augen waren auf das Kind gerichtet. Es war aschfahl, aber fast ruhig und biß sich auf die Lippen. Der Schatten des Galgens bedeckte es ganz. Diesmal weigerte sich der Lagerkapo, als Henker zu dienen. Drei SS-Männer traten an seine Stelle. Die drei Verurteilten stiegen zusammen auf ihre Stühle. Drei Hälse wurden zu gleicher Zeit in die Schlingen eingeführt. "Es lebe die Freiheit!" riefen die beiden Erwachsenen. Das Kind schwieg. "Wo ist Gott, wo ist er?" fragte jemand hinter mir. Auf ein Zeichen des Lagerchefs kippten die Stühle um. Absolutes Schweigen herrschte im ganzen Lager. Am Horizont ging die Sonne unter. "Mützen ab!" brüllte der Lagerchef. Seine Stimme klang heiser. Wir weinten. 'Mützen auf!" Dann begann der Vorbeimarsch. Die beiden Erwachsenen lebten nicht mehr. Ihre geschwollenen Zungen hingen bläulich heraus. Aber der dritte Strick hing nicht reglos: der leichte Knabe lebte noch... Mehr als eine halbe Stunde hing er so und kämpfte vor unseren Augen zwischen Leben und Sterben seinen Todeskampf. Und wir mußten ihm ins Gesicht sehen. Er lebte noch, als ich an ihm vorüberschritt. Seine Zunge war noch rot, seine Augen noch nicht erloschen. Hinter mir hörte ich denselben Mann fragen: "Wo ist Gott?" Und ich hörte eine Stimme in mir antworten: "Wo er ist? Dort - dort hängt er, am Galgen..." An diesem Abend schmeckte die Suppe nach Leichnam. *********************** "Nie werde ich diese Nacht vergessen, die erste Nacht im Lager, die aus meinem Leben eine siebenmal verriegelte lange Nacht gemacht hat. Nie werde ich diesen Rauch vergessen. Nie werde ich die kleinen Gesichter der Kinder vergessen, deren Körper vor meinen Augen als Spiralen zum blauen Himmel aufstiegen. Nie werde ich die Flammen vergessen, die meinen Glauben für immer verzehrten. Nie werde ich das nächtliche Schweigen vergessen, das mich in alle Ewigkeit um die Lust am Leben gebracht hat. Nie werde ich die Augenblicke vergessen, die meinen Gott und meine Seele mordeten, und meine Träume, die das Antlitz der Wüste annahmen. Nie werde ich das vergessen, und wenn ich dazu verurteilt wäre, so lange wie Gott zu leben. Nie." ELIE WIESEL, Die Nacht zu begraben, Elischa, übersetzt von Curt Meyer-Clason, Bechtle-Verlag, München/Esslingen, ca. 1963, S. 92-94, S. 50 geschrieben nach dem 2. Weltkrieg Ich kann
nicht hassen. Ich kann
nicht hassen. ILSE BLUMENTHAL-WEISS In Wilna
steht ein Kreuz aus Stein gehauen. Ein Heiliger ist an das Kreuz geschlagen. Er hört uns nicht. Aus Stein sind Seine Ohren. Nie schlug Sein Herz. Es ist aus toten Steinen. Die Mutter kniet vor Ihm. Sie kann nicht weinen. Aus Stein ist sie und hat Ihn nie geboren. Euch aber sieht ein Unsichtbarer stehen. Euch hat ein Gott beseelt. Und doch: Ihr höret Uns nicht, als ob auch ihr nur steinern wäret. Ihr glaubt, ihr seht. Und doch: Ihr könnt nicht sehen! Versteinerte!
Erheuchelt sind die Lieder Aus euren Kehlen. Trug ist euer Beten. Gerichtet habt ihr! Sterbende, sie riefen Gott an! Er kann euch retten und vernichten! Wie ihr gerichtet habt, kann Gott euch richten! Er ließ euch prüfen, um euch selbst zu prüfen! Versteinerte! Wollt ihr vor Steinen büßen? Versteinerte! Wollt ihr den Stein beweinen? Wollt ihr euch heuchlerisch vor Göttersteinen, Versteinerte, den Lebenden verschliessen? Seht! Als die Mörder ihre Opfer führten, Euch liess es kalt. Kalt waren eure Herzen. Mit Spott ertruget ihr die fremden Schmerzen. Gott gab euch Seelen, die sich niemals rührten! Ihr Steinernen! Wer gab euch Kraft zu gaffen? Ihr Steinernen! Macht fremder Schmerz Vergnügen? Gott schuf den Heiland euch nach Seinen Zügen. Ihr habt Ihn, Steinerne, aus Stein erschaffen! Euch zu erlösen,
wurde Er geboren. HERMANN
ADLER geschrieben in Wilna 1942, Nach einem englischen Motiv der Maria Syrkin Dies denke aus: die Schleuder hat versagt, kraftlos der Stein verkollert in den Hecken - und Goliath beginnt sich graß zu recken und vor dem Knaben, der's in Gott gewagt, dem süßen
Knaben, steht er auf und ragt Dies denke aus: des Unholds Wüten kreißt und torkelt wüst vor der Philister Heer. Pflugscharen splittern. Felder klaffen leer. Geborsten der Altar. Die Harfe reißt. Dies denke
aus: das Wehe einer Welt, FRIEDRICH
TORBERG geschrieben 1940/46
Mitten in
Wilna steht, ehrfurchtgebietend, das heilige Kloster Wehe dem
Volk, das die Zeugen des ewigen Gottes vernichtet, HERMANN
ADLER geschrieben 1941/42 in Polen für
meine mutter, als ihm die
luft wegblieb, hat er gelächelt er lächelte
auch, als man ihn bespuckte doch als
man ihm nach einem wuchtigen tritt CHRISTA
REINIG
Das Gedicht ist wie die Beschreibung eines Bildes, das Francis Bacon gemalt haben könnte. Einfach und lakonisch, in grellen Aufrissen, mit einprägsamen, suggestiven Reimen: ein Mensch, der lächelt, über die Welt, über die Feinde, über sich selbst, rätselhaft lächelt - und dem man das Lächeln nicht wegnehmen kann, auch nicht in der Tortur. Ein Gedicht, das ein konkretes, wenn auch zeitloses Ereignis aufschreibt und das damit hinausweist in eine politische oder theologische Metapher. Etwa: der Glaube, der unverrückbar ist und schließlich den andern, den Feind, verändert; das weiche Wasser besiegt den harten Stein; der Schwache besiegt den Tyrannen. Das sind schon Interpretationen, es ließen sich weitere hinzufügen. Darum geht es nicht. Es ist ein "offenes Gedicht, und ich glaube, Christa Reinig geht es eher darum, auf diese Weise den Leser zur eigenen, aus der Selbsterfahrung bestimmten Interpretation aufzurufen. Erst von daher kann sich jene Betroffenheit einstellen, die, übers Literarische hinau.s, ins Biographisehe (oder Nacherlebbare) geht. Der Vorgang wird deshalb so lapidar wie möglich "erzählt", kein Dekor, kein Milieu, keine definierte Zeit: im Grunde ein philosophischer Gedanke, eine theosophische Idee, die hier in eitler zugegeben kühnen und schlüssigen Parabel konkretisiert werden. Der Titel "Die Prüfung" verstärkt noch den ideengeschichtlichen Aspekt. Das Gedicht ist vielinterpretierbar, aber doch eindeutig. Es ist privat wie auch öffentlich, politisch wie religiös wie auch literarisch: in dieser Prüfung sind wir,die Leser, ebenfalls Gefolterte; das will in einem konkreten und metaphorischen Sinn verstanden sein. Christa Reinig hat sich lange mit chinesischer Philosophie beschäftigt, von dort kommt das her - und von Brecht und auch aus der Erfahrung ihrer (damals) isolierten wie gefährdeten Existenz. Die konventionelle Form hält die Kühnheit, die Explosivkraft des Gedankens zusammen, ja, der Zwang des Reims, ohne Umweg, von Zeile zu Zeile, macht erst die Freiheit des Lächlers (auch in der Tortur) offenbar. HORST
BIENEK Nicht einer
blieb verschont, war das Euch glaubte
ich, ihr Himmel. Und Erkennt ihr
uns nicht mehr? Sind wir Wenn je mein
Volk ein auserwähltes war, Ihr kennt,
erkennt uns nicht. Kein Gott,
ihr Himmel, lebt in euch. JIZCHAK
KATZNELSON geschrieben ca. 1943 nach der Teilnahme am Ghettokampf in Warschau.
Gekürzter Text.
wohin sie
gehen, Welt, die
Falte ihres Lächelns hat ihnen ein starkes Eisen ausgebrannt; NELLY
SACHS geschrieben 1942/44 in Stockholm Vor meinem
eignen Tod ist mir nicht bang, Allein im
Nebel tast ich todentlang Der weiß
es wohl, dem gleiches widerfuhr; MASCHA
KALEKO geschrieben 1956 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 GÜNTER
KUNERT nach dem 2. Weltkrieg geschrieben Wir sind
die Toten |
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