Die Verfolgung der deutschen Juden als Bürgerverrat

von Ernst-Wolfgang Böckenförde

Die Reichspogromnacht am 9. und 10. November 1938 war ein Signal und wurde zum Symbol für die zunehmende Entrechtung und Verfolgung der Juden in Deutschland, noch bevor der Weg zum Holocaust endgültig beschritten wurde. Was schon im Frühjahr 1933, alsbald nach der sogenannten Machtergreifung begonnen hatte und Schritt um Schritt vorangebracht wurde, mit diskriminierenden und ausschließenden rechtlichen Regelungen ebenso wie durch oftmals gelenkte rechtswidrige Praxis, wurde hier provokativ und mit zynischer Brutalität sichtbar gemacht. Synagogen, zahlreiche jüdische Geschäfte, Wohnungen jüdischer Bürger und ihr Eigentum wurden mutwillig zerstört, demoliert, in Brand gesetzt, jüdische Menschen wurden inhaftiert, mißhandelt, entwürdigt. Der Schutz, den der Staat den in ihm lebenden Menschen gewährt - Schutz ihrer Person, ihrer Freiheit und ihres Eigentums - blieb nicht nur aus, er wurde absichtsvoll, von hoher Hand, vereitelt. Niemand, der seine Augen nicht bewußt zumachte, konnte es mehr übersehen: Es ging um die planmäßig betriebene Entrechtung und Ausschließung der Juden aus dem bürgerlichen Leben, ihre Behandlung als - rechtliches - Freiwild.

Dieses Geschehen und das sich bald anschließende Verbrechen des Holocaust werden heute allgemein verurteilt. Sie werden ohne Verharmlosung oder Beschönigung als das gekennzeichnet und angesehen, was sie waren: die elementare Mißachtung dieser Menschen als Person, als Rechtssubjekte in der politischen Gemeinschaft, in ihrem Recht auf Leben und Freiheit und ihrer menschlichen Würde. Dem ist an sich nichts hinzuzufügen. Aber gleichwohl wird der Vorgang damit nicht zur Gänze erfaßt, nämlich noch nicht in einer spezifischen Bedeutung und Eigenart, die er für uns Deutsche im Hinblick auf die deutschen Juden hat. Davon soll im Folgenden die Rede sein.

Im Blick auf die deutschen Juden war die Entrechtung und Verfolgung der Juden zugleich Bürgerverrat; Bürgerverrat von seiten des Staates und der Täter, aber auch von seiten der schweigend hinwegsehenden oder tatenlos zusehenden Bürger. Denn was den deutschen Juden geschah, geschah nicht nur anderen Menschen, deren Menschenrechte man zu achten hat, es geschah eigenen Mitbürgern, deutschen Staatsbürgern, mit denen man durch das gemeinsame Band der Staatsangehörigkeit besonders verbunden war.

Die deutschen Juden lebten nicht als Fremde, nicht als bloße Schutzverwandte in Deutschland; sie lebten hier als Mitglieder und Glieder des durch die gemeinsame Staatsangehörigkeit bestimmten deutschen Volkes. Staatsangehörigkeit meint aber nicht ein beliebig kündbares Vertragsverhältnis, sie meint eine statusmäßige Zugehörigkeit, eine die Person als solche betreffende Rechtsbeziehung, die nicht zuletzt durch das Verhältnis von Schutz und Gehorsam gekennzeichnet ist. Dazu gehört auf der einen Seite der Anspruch des Staates auf Loyalität, Gesetzesgehorsam und - in schwierigen Zeiten - Treue seiner Bürger, auf der anderen Seite die Aufgabe und Pflicht des Staates, jeden Bürger, wie schon das Preußische Allgemeine Landrecht wußte, »bei dem Seinigen gegen Gewalt und Störungen zu schützen«. Ein einseitiges Hinausweisen aus diesem Schutz- und Treueverhältnis kommt, außer vielleicht bei schwerwiegenden Verbrechen gegen die Gemeinschaft, nicht in Betracht.

Die Emanzipation der Juden in Deutschland war nicht dadurch erfolgt, daß sie als besondere Gruppe einen eigenen, Freiheit und Autonomie verbürgenden Rechtsstatus erhielten, sondern in der Weise, daß jeder einzelne als Staatsangehöriger, Staatsbürger in den Staatsverband aufgenommen wurde. Beispielhaft heißt es, vom Geist der preußischen Reformen inspiriert, im Edikt betreffend die bürgerlichen Verhältnisse der Juden in dem preußischen Staate vom 11. März 1812: »Die in unseren Staaten jetzt wohnhaften, mit General-Privilegien, Naturalisations-Patenten und Konzessionen versehenen Juden und deren Familien sind für Einländer und Preußische Staatsbürger zu achten. «

Da wurde das alte System je individueller Schutzbriefe, Privilegien und Auflagen verabschiedet und ein neuer Boden gewonnen: die Einbeziehung der Juden in den Staatsverband, die Erklärung zu Staatsbürgern wie andere auch. Zwar wurden sie nicht voll gleichberechtigt, es blieben einige Vorbehalte, insbesondere was den Zugang zu »öffentlichen Bedienungen und Staatsämtern« betrifft, aber von solchen ausdrücklich angeführten Begrenzungen abgesehen, galten auf der Grundlage des gemeinsamen Staatsbürgerrechts gleiche Rechte und Pflichten: »Die für Einländer zu erachtenden Juden sollen, insofern diese Verordnung nichts Abweichendes enthält, gleiche bürgerliche Rechte und Freiheiten mit den Christen genießen.«

Auch das ist bemerkenswert: Der Unterschied der Juden zu anderen Staatsbürgern wird allein in der Religion gesehen. Nicht Juden und Deutsche, Juden oder Preußen werden einander gegenübergestellt, sondern Juden und Christen. In der Präambel zu seinem Emanzipationsedikt spricht der König von »den jüdischen Glaubensgenossen in unserer Monarchie«. Die Juden erscheinen nicht als ethnisch-religiöse Minderheit, sozusagen eine andere Art von Volk, erst recht nicht als besondere Rasse, sie sind nicht mehr und nicht weniger als preußische Staatsbürger jüdischen Glaubens.

Was diese Art von Emanzipation für die Juden bedeutete und wie sie dadurch in Staat und Gemeinden einbezogen wurden, macht ein Bürgerbrief - in der schlesischen Stadt Trachenberg erteilt - aus dem Jahre 1839 deutlich:

»Der Magistrat der Stadt Trachenberg beurkundet hierdurch, daß der aus Bawicz gebürtige Schnittwaarenhändler Kaufmann Birnbaum zum hiesigen Bürger aufgenommen worden ist, und derselbe durch nachstehenden vor uns und vor dem jüdischen Aßeßor Israel H. Cohn aus Bawicz geleisteten Eid
"Ich, Kaufmann Birnbaum als gläubiger Israelit, schwöre bei dem Allmächtigen, Allwissenden und Gerechten Gott »Dornai« daß Seiner Königliche Majestät von Preußen meinem Allergnädigsten Herrn, ich unterthänig treu und gehorsam sein, meinen Vorgesetzten willige Folge leisten, meine Pflichten als Bürger gewissenhaft erfüllen und zum Wohl des Staats und der Gemeinde, zu der ich gehöre, nach meinen Kräften mitwirken will, so wahr mir der höchste Gott zur ewigen Seeligkeit helfe."
die getreue Erfüllung aller Bürgerpflichten angelobet hat, so erklärt der Magistrat gedachten Kaufmann Birnbaum aller Rechte und Wohlthaten, die einem Trachenberger Bürger zustehen, gleichfalls für theilhaftig und genießbar, mit dem Versprechen: ihn bei dem erlangten Bürgerrecht solange er sich desselben nicht unwürdig zeigt, gegen jedermann kräftigst zu schützen. «

Die jüdischen Untertanen und Staatsbürger nahmen die Pflichten aus ihrer Staatsangehörigkeit ernst. Sie wurden und waren - auch wenn die Emanzipation im 19.Jahrhundert alsbald steckenblieb und bestimmte Beschränkungen ihrer Rechte lange fortbestanden - loyale, besonders loyale Staatsbürger. Sie wußten, was sie dem Staat verdankten, der ihre Emanzipation, so weit sie reichte, heraufgeführt hatte, oftmals gegen Widerstände und Ablehnung aus der Gesellschaft, und der sie darin schützte. Staatsbezogenheit und Staatstreue entsprach für die Juden zudem der historischen Erfahrung ihres kollektiven Gedächtnisses. Immer hatten sie, wie Yerushalmi aufgezeigt hat, den Schutz, den sie fanden, von der obersten Gewalt im Lande erhalten, lange Zeit von Kaisern, Königen und Landesherren, später, seit dem, 19.Jahrhundert, vom Staat.'

Diese gewährten und sicherten ihre -wenn auch begrenzten - Rechte, verteidigten sie gegen Übergriffe lokaler Obrigkeiten oder Anfeindungen aus dem gemeinen Volk, später aus der dem Antisemitismus Raum gebenden Gesellschaft. Das »Königsbündnis« (Yerushalmi), die Ergebenheit und positive Haltung gegenüber dem König, späterhin dem Staat, wurde so zur Form ihres Lebens und Überlebens im Exil. Sie wollten Diener des Königs, loyale und treue Bürger des Staates sein und sind es gewesen. Wenn nicht schon anderes, so belegt es jedenfalls die Zahl der (freiwillig) Kriegsdienstleistenden und der über zwölftausend gefallenen Soldaten und Offiziere jüdischer Herkunft im Ersten Weltkrieg.

Von dieser Lage aus bedeutete das, was den jüdischen Staatsbürgern nach 1933 widerfuhr, eine Katastrophe ganz besonderer Art. Mit Anfeindungen innerhalb der Gesellschaft bei sich ausbreitendem Antisemitismus waren sie vertraut; sie konnten es gelassen nehmen, weil sie sich als Staatsbürger im Schutz des Staates wußten. Aber daß nun der Staat selbst an seinen Bürgern Verrat übte, daß er, statt sie in ihren Rechten zu schützen, ihre Ausrottung und Vernichtung zum Programm erhob und ihre Verfolgung systematisch betrieb, lag außerhalb des für sie Vorstellbaren. Der Staat, ihr Schutzherr, nun als Verräter und Verbrecher? Dies konnten sie nicht fassen und waren außerstande, dagegen eine Kampf- oder Verteidigungsstrategie zu entwickeln, waren wehrlos im vollen Sinn. Nicht nur einige wenige waren es, die die rechtzeitige Emigration nicht wahrnahmen oder auch ausschlugen, weil sie einfach nicht glauben mochten, daß der Staat, den sie als Rechtsstaat und schützenden Staat erfahren hatten, über gewisse, aus politischer Opportunität verfügte Einschränkungen hinaus ihre totale Entrechtung, ja Vernichtung betreiben könnte. Eine hochbetagte Frau hat mir vor einigen Jahren erzählt, wie sie - Mittzwanzigerin - 1936/37 ihrem Vater sagte, ob es nicht an der Zeit sei, eine Auswanderungsmöglichkeit in die USA zu besorgen und wahrzunehmen -ihr Vater sei empört gewesen und habe mit einer Ohrfeige reagiert, wie sie so etwas sagen und denken könne.

Was den deutschen Juden 1933 bis 1945 geschah, ihre Entrechtung und Verfolgung bis hin zur planmäßigen Vernichtung, wurde vom Staat gegenüber eigenen Staatsbürgern, und zwar besonders loyalen Staatsbürgern organisiert, und es konnte, soweit es bekannt wurde, ohne in die Breite gehende Abwehr oder wenigstens Abscheu und Entrüstung bei der Bevölkerung, eben den Mitbürgern der jüdischen Staatsbürger, vonstatten gehen. Das macht den Verrat und Treubruch, macht neben dem Verbrechen die Schande der Judenverfolgung in Deutschland aus.

Man muß sich die Perfidie vor Augen führen, mit der hier - auch unabhängig von der Pogromnacht - vorgegangen wurde. Die fortschreitende Entrechtung der Juden, ihre Erklärung »out of law«, wurde gerade im Funktionsmodus der Legalität, mittels fortlaufender Rechtsetzungsakte durchgeführt. Das Ziel war klar, ein Lehrbuch des Verfassungsrechts beschreibt es 1939 kommentarlos wie folgt: »Die Juden genießen im Reich nicht die Stellung einer fremdvölkischen Minderheit, sondern ihnen ist eine Sonderstellung zugewiesen, die sich aus dem Ziel einer völligen Ausscheidung des Judentums erklärt. «

Eine Regelung jagt die andere, jede mit einer neuen Diskriminierung und Ausschließung: angefangen vom Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums, das die Juden - noch mit Vorbehalten für Frontkämpfer - aus dem Beamtenverhältnis entfernte, über die sogenannten Nürnberger Gesetze, hier insbesondere das Reichsbürgergesetz, das die Reichsbürgerschaft von der Staatsangehörigkeit trennte, den Juden die Reichsbürgerschaft verweigerte und die ihnen verbleibende Staatsangehörigkeit auf einen reinen Pflichtenstatus reduzierte, bis hin zu dem ganzen Stapel von Verordnungen, die die Juden sukzessiv von allen Berufen und nahezu jeglicher Erwerbstätigkeit ausschlossen, ihre Teilnahme am Rechtsverkehr beschränkten und ihr Vermögen konfiskatorisch belasteten, jeweils mit schärfsten Sanktionen bei Zuwiderhandlungen. Fragt man nach den tatsächlichen wirtschaftlich-sozialen Auswirkungen dieser Regelungsflut, so bleibt kein Zweifel: Es ging, schon Jahre vor Deportation und Ermordung, um die Beseitigung realer Lebensmöglichkeit, eine Entrechtung, die ohne Flucht ins Ausland physische Verelendung oder Vernichtung zur natürlichen Folge hat, eben »Ausscheidung«.

Aber es war nicht allein der Staat, der durch die Aktivitäten eines verbrecherischen Regimes Bürgerverrat betrieb. Bürgerverrat ging auch, zuweilen indirekt und sublim, von den Mitbürgern der jüdischen Staatsbürger aus. Ich spreche nicht von den Tätern, für sie versteht es sich von selbst, ich spreche von den vielen aus der schweigenden Mehrheit, die unbeteiligt wegsahen und tatenlos dabeistanden, wiewohl sie in ihrem Bereich auch ohne ernstes Risiko für Freiheit und Leben die Möglichkeit zum Handeln, zur Hilfe oder zum Aufschrei gehabt hätten.

Es hat überall beachtliche Beispiele von Bürgersolidarität und tätiger Hilfe gegeben - nur leider zu wenige. Solches Verhalten war also möglich, aber es blieb vereinzelt. Weit vorherrschend war die Passivität, das Nichts-damit-zu-tun-haben-Wollen anstelle des Eintretens für Mitbürger, die diskriminiert wurden und denen öffentlich Unrecht geschah. Die Bürgergesellschaft, auf die wir uns heute gerne berufen, lebt von der Bereitschaft ihrer Mitglieder, sich der allgemeinen Belange und der Belange anderer anzunehmen, für sie einzutreten, auch dann, wenn es persönlichen Einsatz fordert und Nachteile mit sich bringt. Zivilcourage - eben ziviler Mut, das Handeln als Citoyen, ist das, was die Bürgergesellschaft trägt und auch erst hervorbringt. Zieht jeder sich auf sich selbst zurück, um nur sein eigenes Dasein zu leben, gehen ihn seine Mitbürger und was ihnen geschieht, nichts mehr an, wird die Bürgergesellschaft von innen her verraten und löst sich auf.

Neben verbreiteter Passivität gab es auch die bereitwilligen Mitläufer im Strom der Zeit. Von ihnen wurde gerade in den ersten Jahren des NS-Regimes in nicht wenigen Fällen Bürgerverrat praktiziert in mehr oder weniger kleiner Münze. Ein Beispiel für viele: In Münster wurde dem Radiohändler Siegfried Steinweg der Zutritt zu dem von ihm gegründeten Radioverein, dessen Vorsitzender er war, und die weitere Mitwirkung in ihm verwehrt - Arisierung in vorauseilendem Gehorsam.' Auch manche Studentenverbindungen trennten sich, ihrem Begriff von Ehre und der gelobten Freundschaft zuwider, von ihren jüdischen Bundesbrüdern oder erwarteten von ihnen - welche Verkehrung der Dinge - den freiwilligen Austritt, damit sie unbehelligt blieben. Siegfried Steinweg, der Radiohändler, war ein Mann mit Ehrgefühl: Auf dem Weg nach Palästina, auf dem Schiff zwischen Triest und Haifa warf er feierlich das Eiserne Kreuz, das ihm im Ersten Weltkrieg verliehen worden war, über Bord.

Das Geheimnis der Versöhnung heißt Erinnerung. Erinnerung bedeutet, auch danach zu fragen, wie es zu dem gekommen ist, das - um der Versöhnung willen - der Erinnerung bedarf. Darauf können an dieser Stelle nicht fertige Antworten gegeben werden. Aber es kann und soll auf einige Faktoren hingewiesen werden, die dazu beigetragen haben, den Bürgerverrat, der geschehen ist, möglich zu machen.

Ein nicht unwichtiger Faktor ist, daß die Emanzipation der Juden nach ihrem entschlossenen Beginn Anfang des 19. Jahrhunderts, schon auf dem Wiener Kongreß, vor allem aber in der Restaurationszeit, auf halbem Wege steckenblieb. Einerseits sollten die Juden als Staatsbürger in den Staatsverband und die Staatsbürgergesellschaft aufgenommen werden, andererseits wollten sich Staat und Staatsbürgergesellschaft weiterhin als christlich verstehen und also die jüdischen Bürger nur dann zu öffentlich-staatlichen Ämtern zulassen, wie auch in die Gesellschaft voll integrieren, wenn sie zum Christentum übertraten. Das war im Grunde ein Widerspruch in sich. Die Taufe wurde instrumentalisiert, wurde zum Entree-billet in die bürgerliche Gesellschaft, wie es Heinrich Heine dann formuliert hat. Sie war für nicht wenige Juden der Weg und wurde von ihnen als Weg benutzt, um von fortbestehenden, mit den Gedanken des gemeinsamen Staatsbürgertums unvereinbaren rechtlichen oder tatsächlichen Diskriminierungen frei zu werden.

Ein Beispiel für viele ist der Vater von Karl Marx. Er war Advokat beim Appellationsgericht in Trier, damals ein öffentliches Amt, das er in der napoleonischen Zeit erlangt hatte. Der Oberlandesgerichtspräsident in Düsseldorf setzte sich, in altpreußischem Geist argumentierend, für seine Übernahme in den Staatsdienst ein: »jene ... Israeliten sind Eingeborene; sie haben ihre Anstellung rechtmäßig erlangt; sie haben im Vertrauen auf das Gesetz, das die Juden von Staatsämtern nicht ausschloß, diesen Erwerbszweig gewählt; sie würden brotlos werden, wenn sie ihn verlören; auch haben sie das ohne Einschränkung gegebene königliche Wort für sich, das die vorgefundenen Beamten, wenn sie sich unverweislich betragen haben, beibehalten werden sollen; es ist gegen sie nichts zu erinnern vorgekommen, vielmehr sprechen die offiziellen Zeugnisse sehr vorteilhaft für sie. « Derjustizminister lehnte die Übernahme gleichwohl ab. In dieser Situation entschied sich Heinrich Marx mit seiner Familie für den Übertritt zum Christentum und behielt so sein Amt.

Was war das für ein Staat, der die Juden als Bürger aufnahm, ihnen aber dennoch den Übertritt zum Christentum als Bedingung ihrer Befreiung von rechtlicher Diskriminierung ansonn? Die Integration der jüdischen Bürger wurde damit nicht gefördert, vielmehr erschwert und eher paralysiert. Die Vorbehalte, die gegen die Juden seit altersher aus dem religiösen Gegensatz bestanden, zuweilen verbunden mit negativen Alltagserfahrungen, fanden darin weiterhin eine Bestätigung. Die Juden waren und blieben »Andere«; Bürger und Staatsbürger, so breitete es sich aus, waren sie zunächst nur formal, richtig und voll erst, wenn sie sich taufen ließen. So standen der Bürgergleichheit und Bürgersolidarität mit den Juden fortwirkend Hemmnisse entgegen. Der Antijudaismus, der in den beiden christlichen Bekenntnissen wirksam war, bekräftigte diese Hemmnisse, und zwar um so mehr, je stärker man dem Postulat anhing, der Staat sei und müsse ein sogenannter christlicher Staat sein - im Zeichen von Staatsbürgergleichheit und zunehmend anerkannter Religionsfreiheit eine objektive Illusion. Da waren die jüdischen Bürger doch eine Gruppe für sich, eben Andere, die zwar im Staat lebten, aber doch nicht eigentlich dazugehörten.

Die gleiche Wirkung ergab sich aus dem nationalen Denken und dem ihm zugrundeliegenden Nationbegriff. Der Nationbegriff war in Deutschland aus angebbaren Gründen ethnisch orientiert, nicht willentlich-politisch wie in Frankreich. Gemeinsame Sprache, Geschichte und Kultur galten als Kriterien der Zugehörigkeit und Zusammengehörigkeit. Die Deutschen als Volk und Nation hatten danach ihren Ursprung bei den Germanen, die das Christentum annahmen, fanden darin ihre Eigenart, die sich in der Geschichte zur Entfaltung brachte. Das war zwar zu einem großen Teil eine Ideologie, aber sie war in den Köpfen wirksam, eine mentale Realität. Und in diesem Sinn waren Juden keine Deutschen, auch wenn sie deutsche Staatsbürger waren. Ihre Hineinnahme in die Bürgersolidarität fand nicht statt, sie waren und blieben Andere. Für eine existentielle Verbundenheit mit ihnen, gar eine staatsbürgerliche Treuebindung, fehlte der Anknüpfungspunkt; nur die jüdischen Mitbürger ihrerseits gingen dem Staat gegenüber davon aus.

Alle diese Umstände trugen dazu bei, daß es bei der Judenverfolgung an dem spontanen Empfinden für das mangelte, was hier eigentlich geschah und das zu verhindern man als Mitbürger aufgerufen war, nämlich Bürgerverrat. Statt dessen bestanden durch die verbreiteten, teils religiös, teils ethnisch, teils über Alltagserfahrungen begründeten Vorbehalte Hemmnisse, vielleicht sogar emotionale Blockaden, sich für die gleichen Bürgerrechte der jüdischen Mitbürger zu engagieren. Man fühlte sich und blieb eher unbeteiligt. Auch die christlichen Kirchen verwahrten sich nicht einmal gegen die Zerstörung der Synagogen, der jüdischen Gotteshäuser, in denen doch der nämliche Gott verehrt wurde wie in ihren Kirchen.

Von daher ist die Aufgabe, die die Erinnerung uns im Blick auf die Zukunft stellt, klar vorgezeichnet: die volle Anerkennung und Integration der noch oder wieder in Deutschland lebenden deutschen Juden als Staatsbürger und Mitbürger, und auch die Aufnahme anderer jüdischer Menschen, die bei uns Schutz vor Drangsal oder Verfolgung suchen. Dies findet auch, soweit ich sehe, zunehmend statt. Drei Begebenheiten geben insoweit Anlaß zu Optimismus.

An erster Stelle ist das Vorbild zu nennen, das vom Vorsitzenden des Zentralrats der Juden in Deutschland, Ignatz Bubis, ausgeht. Ohne Vorbehalt und wie selbstverständlich spricht er davon, nicht ein Jude in Deutschland, sondern ein Deutscher jüdischen Glaubens zu sein. Und er handelt entsprechend. Welche Versöhnungsleistung dies nach dem Holocaust und seinem persönlichen Schicksal bedeutet, läßt sich kaum ermessen.

Sodann haben die christlichen Konfessionen ihren latenten oder offenen Antijudaismus aufgearbeitet und, wie mir scheint, überwunden. Für die katholische Kirche - ich darf mich als Katholik auf sie beziehen - hat dies das Zweite Vatikanische Konzil in Angriff genommen und die nachfolgenden Päpste, insbesondere auch Johannes Paul 11. haben es konsequent fortgeführt. Dessen Wort von den Juden als den älteren Brüdern der Christen hat einen Markstein gesetzt - wie anders war das Judenbild, das unserer Generation in der Jugend, auch im Religionsunterricht und in der Liturgie, vermittelt wurde.

Schließlich ist auf die Reaktion des so zahlreichen Zuhörerpublikums bei den Goldhagen-Diskussionen hinzuweisen. Es geht hier nicht um das Buch und die wissenschaftliche Kontroverse darum. Ermutigend ist die Bereitschaft, Goldhagens These von den »willigen Vollstreckern« nicht einfach abzuwehren, sondern sie anzuhören und sich ihr zu stellen, und die Betroffenheit über das, was diese Diskussion jedenfalls offenbar gemacht und ins öffentliche Bewußtsein gerufen hat: das verbreitete Hinwegsehen und Schweigen, die nicht aufbegehrende Hinnahme dessen, was den Juden in Deutschland seit 1933 geschah - eben Bürgerverrat.

aus: MERKUR 51, Heft 2 vom Februar 1997, S. 165-170

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