Späte Erinnerung an eine Pionierin

Für Regina Jonas, erste Rabbinerin der Welt, wird in Berlin eine Gedenktafel enthüllt

von Rainer Jung

Dass in dieser Ecke Geschichte geschrieben wurde, sieht man dem Haus wirklich nicht an. Die Nummer sechs in der Krausnickstraße ist ein moderner Bau. Im Erdgeschoss residiert eine Künstlerin, daneben ein Laden mit Wohnaccessoires. Die typische Mischung am Laufsteg der schicken Berliner Mitte zwischen Oranienburger Straße und Hackeschem Markt. Doch vielleicht passt die Kulisse gerade deshalb besonders gut. Wenn am heutigen Freitag in der Krausnickstraße zu Ehren von Regina Jonas eine Gedenktafel eingeweiht wird, ist Berlin um einen Ort reicher, an dem die Widerhaken ihrer Vergangenheit zu fühlen sind. Denn Jonas, 1935 von dem Offenbacher Rabbiner Max Dienemann mit 33 Jahren als erste Frau der Welt zur Rabbinerin ordiniert, Ende 1944 im Konzentrationslager Auschwitz ermordet, war in völlige Vergessenheit geraten.

Schicksal einer Jüdin, die ihrer Zeit zu weit voraus war. "Man hat sie totgeschwiegen", sagt Elisa Klapheck. Klapheck redigiert das Magazin der Jüdischen Gemeinde und gehört zur Fraueninitiative "Bet Debora", die die Erinnerungstafel angeregt hat. Vor einigen Jahren hörte sie zum ersten Mal den Namen Regina Jonas. Als sie Hermann Simon, den Leiter des Centrum Judaicum, nach Literatur über die Rabbinerin fragte, bot der ihr an, Jonas' schmalen Nachlass auszuwerten, der seit der Wiedervereinigung zugänglich ist. Bei weiteren Recherchen stellte die junge Journalistin verblüfft fest, dass sich eine ganze Reihe von Zeitzeugen noch gut an die gelehrte Frau erinnern konnten.

Jugendfreundinnen erzählten von ihren Erlebnissen mit der halbwüchsigen Regina. Die Halbwaise aus armer, streng gläubiger Familie stürzte sich begierig auf alles, was mit jüdischer Religiosität zu tun hatte, und drängelte sich sogar bei Prüfungen vor. Schülerinnen, denen Jonas später Religionsunterricht erteilte, zeichnen das Bild einer fröhlichen und "patenten" Frau. Auf manche Kinder wirkte es indes ein wenig unsicher. Susanne Flörsheim hatte noch die Worte im Ohr, mit denen die Geistliche Ende der dreißiger Jahre Kinder aus säkularen jüdischen Familien bewegen wollte, sich auf ihre Religion zu besinnen: "Die Zeiten seien so, dass man sich nicht mehr zurückhalten kann." Ein Motto, das Regina Jonas für sich selbst in radikalster Form begriff. Eine Flucht ins Ausland zog sie nie ernsthaft in Betracht. Bis zu ihrer Deportation arbeitete sie für die Gemeinde. Dabei hatte Jonas immer wieder mit Gegenwind von konservativer Seite zu kämpfen: Auf die Kanzel der Neuen Synagoge an der Oranienburger Straße durfte sie nicht, obwohl zahlreiche Beter in Eingaben dafür votierten. Und noch im KZ Theresienstadt, wohin die Nazis sie 1942 verschleppten, zweifelte ein Oberrabiner ihre Ordination an. Allerdings ohne damit allzu viel auszurichten: Regina Jonas hielt Vorträge und betreute Neuankömmlinge im Lager. Dass die Pionierin im Talar trotzdem nach der Befreiung Deutschlands von den Nazis in einer Gedächtnislücke verschwand, erklärt Elisa Klapheck mit einem Reflex auf die erlittenen Schrecken: "Die wenigen Überlebenden der Schoa waren oftmals in ihrer Religiosität zutiefst verunsichert und klammerten sich an althergebrachte Traditionen." Und zu denen passte ein weiblicher Rabbi ganz einfach nicht, mochten Regina Jonas' persönliche religiöse Vorstellungen auch durchaus konservativ sein.

Die Amnesie ging so tief, dass Anfang der siebziger Jahre in den USA und England noch einmal die Debatten über die Frauenordination abliefen, die Regina Jonas bereits 1930 in ihrer Abschlussarbeit "Kann die Frau das rabbinische Amt bekleiden?" behandelt hatte. Für die britische Rabbinerin Sybil Sheridan ein Beispiel dafür, wie der Holocaust "das Judentum um ein Jahrhundert zurückwarf".

Heute gibt es weltweit 200 Rabbinerinnen, die meisten in USA, Israel und Großbritannien. Seit 1995 wirkt die erste Nachkriegsrabbinerin Deutschlands in Oldenburg und Braunschweig. Die Gemeinde in Berlin lässt an manchen hohen Feiertagen eine heute in England lebende Berlinerin als Gastrabbinerin amtieren. Wie es mit der Emanzipation in Berlins Synagogen weitergeht, hängt allerdings auch davon ab, wie sich der Generationenwechsel im Gemeindevorsitz - auf den 49-jährigen Andreas Nachama folgte kürzlich der 72-jährige Alexander Brenner - auswirkt. Dass sich aber etwas tut in Frauenfragen, das soll am Freitag in der Krausnickstraße zu sehen sein - und zu hören. Bei der Zeremonie wird Avitall Gerstetter singen, Deutschlands erste jüdische Kantorin.

Frankfurter Rundschau 2001, 01.06.2001

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