"Scheyne Lidlech" im Heim des Löwen

Die jüdische Gemeinschaft Galiziens erlebt eine Renaissance

von Thomas Roser

Für ihren Auftritt haben sich die "Scheyne Mejdelach", die schönen Mädchen, mit langen Röcken und Blusen herausgeputzt. Leise gibt Konstatin Sokolov auf der Ziehharmonika die ersten Takte vor und bald stimmen die rüstigen Sängerinnen ein: "Wo ist mein Schtetl, mein Gessle, mein Schtib? Wo ist mein Teichle und mein Mejdle, das ich lieb?" Eifrig klatscht eine zahnlose Frau mit Kopftuch im Rhythmus mit. Andere Gäste in dem zum Chanukka-Fest geschmückten Speisesaal der jüdischen Hesed-Aryeh-Stiftung tunken zu den schwungvollen Melodien eher gleichgültig ihr Brot in die Suppe. Vielleicht liegt es daran, dass die Zuhörer die russischen Lieder des Chors weit besser verstehen als die jiddischen Lidlech. "Aber es ist die Aufgabe der Musiker, die Lieder unserer Kultur zu bewahren", sagt Sokolov später fast ein wenig trotzig.

Sowohl unter polnischer als auch unter Habsburger-Herrschaft galt das heute ukrainische Lwiw (Lemberg) jahrhundertelang als das kulturelle Zentrum des galizischen Judentums. Vor dem Einmarsch der deutschen Wehrmacht 1941 war ein Drittel der Bevölkerung jüdisch. Acht Gymnasien, 16 jüdische Theater und 18 Synagogen zählte Lwiw zu dieser Zeit. Nur wenige der damals 110 000 Lemberger Juden überstanden die Besatzungszeit. Die Überlebenden emigrierten oder assimilierten sich in der Sowjetgesellschaft. Die jüdische Gemeinschaft in Galizien bestand so gut wie nicht mehr.

Zwei Generationen von Sowjetjuden seien nach dem Krieg "wie ein leeres Blatt Papier" ohne das Wissen um ihre Traditionen aufgewachsen, erinnert sich die Schauspielerin Ada Diadora. Nur der Vermerk im Pass habe von der jüdischen Herkunft gezeugt und wegen des "offiziellen Antisemitismus" bei der Jobsuche für Benachteiligungen gesorgt. "Wir waren lange nicht besonders stolz, jüdisch zu sein, und identifizierten uns auch nicht damit."

Doch ermutigt von der Perestroika unternahmen in den 80er Jahren ältere Juden in Lwiw erste Versuche, die Erinnerung an ihre Gemeinschaft wieder zu pflegen. Aber erst nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und der Unabhängigkeit der Ukraine hätten viele Juden ernsthaft damit begonnen, ihre Geschichte und Kultur "neu zu entdecken", erzählt Ada Diadora. Das gilt auch für sie selbst. 1995 fing die Schauspielerin an, sich mit jüdischen Gebräuchen vertraut zu machen und Hebräisch zu lernen. Heute leitet Ada Diadora Hesed Aryeh - das "Heim des Löwen".

Das Fortbildungsprogramm der Stiftung richtet sich vor allem an 30- bis 50-jährige Juden, erläutert Lehrerin Elena Powolocka. Denn neben dem Wunsch, mehr über die eigene Geschichte und Kultur zu wissen, gebe es gerade in dieser Altersgruppe das Bedürfnis, mit anderen Juden zusammen zu sein: "Selbst Leute, die jahrelang ihre jüdische Herkunft verschwiegen oder verdrängt haben, kommen jetzt zu uns, um mehr über die jüdische Lebensweise zu erfahren." Schätzungsweise 6000 bis 8000 Juden leben heute in Lwiw, 4000 sind Mitglieder von Hesed Aryeh. Neben der Wiederbelebung der jüdischen Kultur hat sich diese von 300 ehrenamtlichen Helfern getragene und von jüdischen Gönnern in den USA unterstützte Organisation die Sozialarbeit und Altenpflege zum Schwerpunkt ihrer Arbeit gemacht. Vor allem für verarmte Rentner, die mit Pensionen von umgerechnet 15 bis 60 Mark über die Runden kommen müssen, ist das Überleben in der Ukraine sehr schwierig geworden. Nicht zuletzt dank der Anstrengungen der Stiftung sei die Emigration gebremst worden, berichtet Ada Diadora: "Jüngeren fällt ein Neubeginn im Ausland weniger schwer. Doch wenn ein alter Mensch auswandern muss, ist das für ihn meist eine Tragödie."

Versonnen wiegen sich die Alten zu der von Tanzlehrerin Galina aufgelegten Musik. Zweimal im Monat werden jene, die alleine nicht mehr auf die Straße können, zu Bastel- und Gymnastiktreffen in den Versammlungssaal bei der Synagoge kutschiert. Hier bekommen sie auch die Haare geschnitten und eine Ärztin misst ihren Blutdruck. Die Alten seien nicht nur körperlich in einem schlechten Zustand, sondern oft auch deprimiert, berichtet Violetta Zdioruk. Immer wenn eine neue Runde zusammenkommt, wird ausführlich erzählt: "Oft sind es schreckliche Geschichten. Nur Gott weiß, wie sie den Holocaust überlebt haben." Die Geselligkeit im Zentrum von Hesed Aryeh tut vielen gut: "Sie schließen Freundschaften, rufen sich an, beginnen sich wieder zu schminken. Ihre Seelen werden wiederbelebt."

Einer von denen, die nicht nur zu Hause herumsitzen mögen, ist auch Jakov Grabowiecki. Der 79-jährige Mechaniker fertigt in der Werkstatt Alltagshilfen für seine Altersgenossen an. Simpel und doch nützlich sind der Wurstabschneider, die Strumpfanzieher und die Krücke mit dem ausfahrbaren Dorn für vereiste Gehwege. Der Tüftler in dem blauen Arbeitskittel baut alles nach den Zeichnungen der hauseigenen Ingenieure.

Alltagshilfen sind das eine, Lebensmittel das andere, auf das viele der alten Juden angewiesen sind. Neben den zwei Speisesälen in Lwiw betreibt die Stiftung noch fünf weitere in der Provinz. Bettlägerige werden von Helfern besucht, erhalten Pakete mit Zucker, Vitaminpillen und Gemüsekonserven. Koscher seien die Lebensmittel meist nicht, sagt Ada Diadora: "Sie sind hier schwer aufzutreiben und viel zu teuer." Nur in einer der sieben Kantinen werde koscher gekocht, berichtet Ludmila Bondareva, die die Speisungen organisiert: "Die Leute dort essen seit drei Jahren täglich Fisch: Denn etwas anderes können wir nicht bezahlen." Außerdem seien viele an das koschere Essen nicht gewöhnt: "Sie haben jahrzehntelang schließlich das Gleiche gegessen wie andere Ukrainer."

Damit die Gäste nicht das Gefühl haben, in "Kantinen für Arme" zu speisen, ist das Speisezimmer als Klub gestaltet. "Die Leute sollen sich nicht als Almosenempfänger fühlen: Wir wollen ihnen hier ihr Selbstwertgefühl zurückgeben", sagt Bondareva. Sie weist auf einen Greis, der langsam seine Suppe löffelt: "Der Mann war früher ein bekannter Maler, andere waren Ärzte, Professoren oder Schriftsteller. Viele sind jetzt völlig verarmt." Sorgen bereitet der Küchenchefin, dass die Spenden aus den USA nach den Anschlägen vom 11. September zurückgegangen sind. Den Plan eines Frühstückstischs musste die Stiftung aus Geldmangel genauso streichen wie ein Mutter-Kind-Programm, die Ausgabe von Brot und Sauermilch am Sabbat musste eingestellt werden. Auch wenn die jüdische Gemeinschaft derzeit in Galizien eine neue zarte Blüte erfährt, ist die Lebenswelt des jiddischen Schtetl auch in Lwiw wohl für immer vergangen. Im Alltag sei das noch von Musik- und Theatergruppen gepflegte Jiddisch praktisch ausgestorben, die Umgangssprache der Juden sei Russisch, berichtet Lehrerin Powolocka: "Uns wird in der Stadt oft vorgeworfen, dass wir nicht Ukrainisch sprechen." Auch den Erwartungen mancher Geldgeber im Ausland werden die Lemberger Juden nicht immer gerecht. Es habe Versuche aus den USA gegeben, in Lwiw ein orthodoxes Judentum zu etablieren. "Aber das fand kaum Anklang. Denn 40 Jahre lang haben die Leute hier wie Sowjetbürger gelebt", sagt Ada Diadora und meint mit leicht spöttischem Unterton: Der orthodoxeste Jude in Lwiw sei der Rabbi aus den USA.

aus: Frankfurter Rundschau, 21.12.2001

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