Hatte Israel Schuld am 11. September?

von Klaus-Peter Lehmann

I.

Der alte Antisemitismus ist offen und frivol. Er lebt aus dem Affekt und deshalb von Unkenntnis, Lüge, Verdrehung und lautem Vorurteil, das er zur Wahrheit krönt. Aber Antijüdisches kommt auch bescheidener daher, mit Wahrheiten, an denen nichts auszusetzen ist. Allein ihre Wertigkeit und Anordnung in einer Rede lässt den Affront im sachlich vorgetragenen Urteil erahnen. Der Redner spricht ehrlich und ohne erkennbaren Dünkel. Vielleicht hat er nur einen blinden Fleck.

Diese Gedanken kamen mir nach drei professoralen Vorträgen anlässlich des 11. Septembers. Es handelt sich um ausgewiesene Experten des Nahen Ostens, Politologe der eine, (1) Orientalist der andere (2), konvertierter Diplomat der dritte (3). Sie sollten über die Ursachen der Selbstmordattentate von New York referieren. Alle drei ergingen sich vor allem in langen Ausführungen über die kriegerische Politik des Staates Israel gegenüber den Palästinensern. Während der Politologe seiner eifernden Rhetorik wegen von Einwürfen aus dem Publikum gebremst wurde, verblieben der Orientalist und der Diplomat ruhig, sine ira et studio. Sie sagten nichts Falsches und doch war das Ganze falsch.

Ihr Thema war das "Phänomen der islamistischen Selbstmordattentäter" bzw. "Die Ursachen des Terrorismus" aus muslimischer Sicht. Unabhängig voneinander hatte ihr Vortrag denselben Aufbau. Zuerst zeigten sie auf, dass der Islam Mord und Selbstmord rigoros ablehnt, dass sich aus Koran, Hadithen und Fatwas keine Rechtfertigung für solche Handlungen herleiten lässt. Es folgte eine ausgiebige Darstellung der aggressiven Verdrängungspolitik Israels gegen die Palästinenser. Trotz Friedensprozess hat sich ihre Lage nicht verbessert, sondern treibt viele in die äußerste Verzweiflung... Ein abschließender Anhang erklärte die Terroristen um bin Laden zu geistesgestörte Sektierern.

Nichts davon ist unwahr. Unwahrhaftig und unaufrichtig wäre allenfalls bei dem vorgegebenen Thema den Fokus so konzentriert auf die Politik Israels zu richten. Ergibt sich doch aus der Gedankenfolge der Vorträge folgendes Gesamtbild.

  • Der Islam als solcher hat mit den Anschlägen nichts zu tun. Ihn trifft keine Schuld.

  • Israel treibt die Palästinenser so sehr in die Verzweiflung, dass ihnen nichts anderes übrig bleibt als mit Anschlägen zu reagieren. Sie sind die eigentlich Schuldigen.

  • Bin Laden´s Attentäter kommen nicht aus der palästinensischen Verelendung, sondern aus der gebildeten und wohlhabenden Schicht der Saudis. Sie sind abseitige Irre von marginaler Bedeutung.

Zweifellos gibt dieser Abriss zu erkennen, worüber der Redner diskutieren will. Nicht über eine islamistische Anschlagspolitik, sondern über Israel. Und so geschah es jedes Mal. Viele Beiträge verurteilten Israels Politik. Fazit: Schuld sind die Israelis, dass Palästinenser zu Attentätern werden. Es versteht sich von selbst, dass damit nur die jüdischen gemeint sind. Allein Dr. Hofmann sprach das Falsche aus, das der unaufrichtigen Struktur der Reden zugrunde liegt. Er wies ausdrücklich auf die jüdische Weltverschwörung hin: in den USA könne kein politischer Kurs eingehalten und kein Präsident gewählt werden ohne das Einverständnis der amerikanischen Juden und ihrer übermächtigen Presse. Das weitgehend muslimische Publikum klatschte anhaltend wie sonst den ganzen Abend nicht.

Unterdrückte reagieren auf ihre Lage verschieden. Manche organisieren vernünftige Gegenbewegungen, wie die marxistische Arbeiterbewegung in Europa im 19. Jahrhundert oder die teils christlich inspirierten Befreiungsbewegungen Südamerikas in diesem Jahrhundert. Andere wiederum ergeben sich resigniert in ihr Los, wie viele Hindus in Indien. Es geht nicht darum Unterdrückung zu rechtfertigen. Immer presst sie in Lebensbedingungen, die zum Verzweifeln sind. Aber sie determiniert nicht. Über die Art von Widerstand und Ergebung bestimmt nicht der Unterdrücker. In seiner Gegenwehr ist der Unterdrückte handelndes Subjekt und kann daraufhin befragt werden, warum er so und nicht anders handelt. Die Frage, die nach dem 11. September zu beantworten wäre, ist die nach den spezifischen Gründen der so vielen arabischen Selbstmordattentate. Eine Tabuisierung des Islams wäre hier ebenso wenig hilfreich wie seine Verteufelung. Fatal wäre eine Abstempelung Israels aber auch der USA in der Form, dass eine sicher notwendige Kritik ihrer Politik keinen Raum mehr lässt für ein genaues Betrachten der spezifischen islamistischen Reaktion in ihrer selbstverantworteten Eigenheit. Hier darf kein blinder Fleck entstehen. Der kann sich leicht antisemitisch färben.

(1) Prof. Dr. M. Massarat, Universität Osnabrück, am 3. 10. 01 in der Uni HH
(2) Prof. Dr. G. Rotter, Orientinstitut HH, am 12. 12. 01 im Institut für Sozialforschung in HH
(3) Dr. M. W. Hofmann, Deutscher Botschafter a. D. in Marokko, 11. 1. 02 in der Uni HH

zur Titelseite

zum Seitenanfang


Evangelischer Arbeitskreis Kirche und Israel in Hessen und Nassau
Pfr. U.Schwemer, Theodor-Storm Str.10, 64646 Heppenheim;
Tel: 06252-71270 / Fax: 06252-72606