Jenseits aller Hoffnung

Israel muss sich einseitig zurückziehen - und die Palästinenser brauchen ein internationales Protektorat

von Shlomo Avineri

Der Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern ist dramatisch eskaliert. Dennoch dominiert weltweit noch immer die Ansicht, der Faden der vorausgegangenen Verhandlungen könne wieder aufgenommen werden - ganz so, als hätte es die letzten 18 Monate nie gegeben. Diese Vorstellung ist unsinnig. Niemand steigt zweimal in denselben Fluss. Jassir Arafat hat in Camp David die Vorschläge von Ehud Barak und Bill Clinton in den Wind geschlagen. Es hat seitdem eine Intifada gegeben, Dutzende von palästinensischen Selbstmordanschlägen. Und es gibt die Brutalität der israelischen Kriegsführung. Dass die Rückkehr zum Friedensprozess von Oslo nach dieser Entwicklung noch immer möglich sein könnte, ist ein weltfremder Gedanke. Nötig sind rundum neue Konzepte. Denkbar wäre, dass sich die Israelis einseitig aus den besetzten Gebieten zurückziehen und ein internationales Protektorat über die Palästinenser errichtet wird.

Warum aber führt das alte Denken nicht mehr weiter? Aus Sicht der meisten Israelis hat Jassir Arafat den Friedensprozess von Oslo im Juli 2000 in Camp David und im Januar 2001 in Taba zerstört. Der Führer der Palästinenser hatte die historische Gelegenheit, den Palästinensern einen eigenen Staat zu sichern. Über die Einzelheiten der Verhandlungen und über Ehud Baraks Verhandlungstaktik mag man unterschiedlicher Meinung sein. Aber was Baraks Angebot an Arafat bedeutete, steht außer Zweifel.

Denn Ehud Barak war der erste Premierminister Israels, der eindeutig bereit war, einen unabhängigen palästinensischen Staat anzuerkennen. Selbst bei Jitzhak Rabin und Schimon Peres war das niemals ausdrücklich der Fall, auch wenn das Abkommen von Oslo faktisch auf eine Anerkennung hinauslief. Darüber hinaus kündigte Barak die Bereitschaft Israels an, sich aus 93 bis 95 Prozent der besetzten Gebiete im Westjordanland zurückzuziehen, ungefähr 30 Siedlungen aufzugeben und ihre 25 000 Einwohner zu evakuieren. Barak bot den Palästinensern außerdem Gebiete innerhalb des israelischen Staatsgebietes an - zum Ausgleich für die kleinen Teile des Westjordanlandes, die unter israelischer Hoheit bleiben sollten. Und schließlich brach Barak ein drei Jahrzehnte altes israelisches Tabu: Er schlug vor, Jerusalem neu aufzuteilen und den Tempelberg unter die gemeinsame Souveränität Israels und Palästinas zu stellen. Selbst der Rückkehr einer begrenzten Zahl von palästinensischen Flüchtlingen aus humanitären Gründen wollte Barak zustimmen.

Doch nun verfielen die Palästinenser auf die Forderung, Israel müsse das Rückkehrrecht sämtlicher vier Millionen Flüchtlinge des Jahres 1948 anerkennen. Das wäre gerade so, als hätte das wiedervereinigte Deutschland 1990 die Herstellung normaler Beziehungen zu Polen und zur Tschechoslowakei an die Bedingung geknüpft, dass zwölf Millionen deutsche Vertriebene in ihre alte Heimat zurückkehren dürfen.

Weil die Palästinenser Baraks Angebot ablehnten und neue Forderungen aufstellten, kam die Mehrheit der israelischen Wähler im Februar 2001 zu dem Schluss, es gehe Arafat in Wahrheit nicht allein darum, die Folgen des Krieges von 1967 zu revidieren. Sein endgültiges Ziel sei, mithilfe einer Salamitaktik das Jahr 1948 und damit die Existenz Israels überhaupt rückgängig zu machen. Wer die Enttäuschung nicht begreift, mit der die Israelis auf den Zusammenbruch der Verhandlungen von Camp David reagierten, kann auch nicht verstehen, warum Ariel Scharon Premierminister wurde.

Für Arafat, so sehen es die Israelis seitdem, ist Terror die Fortsetzung der Diplomatie mit anderen Mitteln - und umgekehrt. Deshalb haben 70 Prozent der israelischen Juden den Krieg unterstützt, der in den vergangenen Wochen gegen die administrativen Strukturen der Palästinenser geführt wurde. Weniger als 13 Prozent glauben, dass Arafat Frieden anstrebt. Volle 98 Prozent sind der Meinung, dass er es nicht ernst meint, wenn er den Terrorismus verdammt.

Das ist die Lage - aber was folgt daraus? Mit zögerlicher Unterstützung von Schimon Peres und der Arbeitspartei hat Scharon den palästinensischen Autonomiebehörden einen verheerenden Schlag versetzt. Aber hat Scharon überhaupt einen Begriff davon, wie sich sein - moralisch problematischer - militärischer Erfolg in eine politische Strategie übersetzen ließe?

Wohl kaum. Doch nachdem er die palästinensischen Autonomiestrukturen zerschlagen und ein weiteres Mal die furchterregende militärische Übermacht der israelischen Streitkräfte demonstriert hat, könnte er nun eine neue Politik beginnen. Nicht mittels Verhandlungen - einen glaubwürdigen Partner dafür gibt es nicht -, sondern unilateral. Im Laufe der vergangenen Monate sind immer mehr Israelis zu der Einsicht gelangt, dass es nicht möglich sein wird, den Status quo auf unabsehbare Zeit aufrechtzuerhalten. Deshalb sollte sich Israel aus dem größten Teil der besetzten Gebiete zurückziehen und eine klare Grenzlinie zu den Palästinensern festlegen. Das würde das weitgehende Ende der Besatzungspolitik bedeuten, es würde eine wirksame Barriere gegen Terroristen und Selbstmordattentäter schaffen und die zurzeit noch desolaten Verhältnisse stabilisieren helfen. Vielleicht würde es nach und nach auch Bedingungen schaffen, unter denen aufs Neue Verhandlungen aufgenommen werden können.

Ohne die Aufgabe von Siedlungen im Gaza-Streifen und im Westjordanland wird das alles nicht gehen. Damit eine klare Grenze gezogen werden kann, müssten mindestens 30 kleine, isolierte und nicht zu verteidigende Siedlungen aufgelöst und etwa 30 000 Siedler evakuiert werden. Das wird eine schwierige politische Aufgabe, um die sich Scharon nur zu gern drücken möchte. Nach Israels einseitigem Rückzug aus dem Libanon hatten sowohl Israelis wie Palästinenser einen solchen Schritt lange Zeit als Zeichen von Schwäche gedeutet. Doch im Gefolge der jüngsten israelischen Operationen gegen die palästinensische Verwaltung stünde dieses Vorgehen in einem anderen Licht: Es könnte nun aus einer Position der Stärke heraus erfolgen. Deshalb nimmt die Zustimmung zur Räumung der Siedlungen im linken wie im rechten politischen Spektrum zu.

Eine unlängst gegründete "Bewegung für den einseitigen Rückzug" organisiert derzeit eine Kampagne, die eine Million Unterschriften zusammenbringen soll. Der Rat für Frieden und Sicherheit, eine stark beachtete Gruppe von mehr als 1200 früheren Armeeoffizieren und Sicherheitsexperten, hat ihre Zustimmung zu dieser Idee bekundet. Schriftsteller wie Amos Oz und A. B. Jehuscha haben ebenfalls den Rückzug gefordert. Die Menschen beginnen zu begreifen, dass die Besatzung nicht andauern kann - und dass das Fehlen von Verhandlungspartnern nicht als Alibi dafür dienen kann, alles beim Alten zu belassen oder sogar noch weitere Siedlungen zu errichten.

In der Vergangenheit hat Scharon niemals nennenswerte strategische oder staatsmännische Fä- higkeiten an den Tag gelegt. Seine Chance hat er jetzt: Entscheidet er sich für den einseitigen Rückzug, dürften ihm ein paar seiner rechtsradikalen Koalitionspartner abhanden kommen. Aber nicht nur aus der Mitte, sondern sogar vonseiten der Linken würde er in diesem Fall neue Unterstützer gewinnen.

Aber was ist mit den Palästinensern? Die israelischen Angriffe haben nicht nur den größten Teil der Infrastruktur des palästinensischen Terrors, sondern auch der palästinensischen Verwaltung zerstört. Dass die Autonomiebehörde in veränderter Form neu errichtet werden könnte, ist kaum denkbar. Denn die Palästinenser werden schwerlich in der Lage sein, legitimierte politische Strukturen aufzubauen, die nicht durch den Terror kontaminiert sind.

Es ist eben schwierig, Organisatoren des Terrors und Drahtzieher von Flugzeugentführungen wie die Einheit 17 der alten PLO in eine reputierliche Präsidialgarde zu verwandeln. Und es wird noch schwieriger werden, die Reste solch einer Truppe zu freundlichen Polizeibeamten umzuschulen. Was die Palästinenser brauchen, ist ein internationales Protektorat - eine Variante der Konstruktion, die gegenwärtig in Bosnien und im Kosovo existiert.

Der internationale Beitrag zur Lösung der aktuellen Krise kann nicht darin bestehen, dass eine überparteiliche Militärmacht Israelis und Palästinenser voneinander fern hält. Durch solche Maßnahmen ist Terrorismus noch niemals verhindert worden - abgesehen davon würde Israel dieser Lösung nicht zustimmen. Sinnvoll wäre dagegen eine gemeinsame internationale Anstrengung mit dem Ziel, den Palästinensern beim Wiederaufbau ihrer Strukturen zu helfen. Benötigt wird dazu ein Bündnis wohlwollender Mächte. Um Legitimität zu gewinnen, müsste es eine erhebliche arabische Beteiligung aufweisen.

Saudi-Arabien sollte eine Führungsrolle bei der Bildung einer internationalen Schutzzone übernehmen. Unter der Schirmherrschaft und mit dem Geld der Saudis und anderer Golfstaaten wäre es möglich, die palästinensischen Strukturen zu rekonstruieren. Ein königlich saudischer Prinz könnte zum international mandatierten Hohen Repräsentanten ernannt werden. Zur Mithilfe bereite Staaten wie die Vereinigten Staaten und Großbritannien müssten ihm zur Seite stehen.

Ein international verbürgtes Protektorat hätte eine doppelte Funktion: Einerseits böte es den Palästinensern einen gewissen Schutz vor den Israelis. Andererseits könnten sich auch die Israelis nach ihrem Rückzug aus besetzten Gebieten in ihrem Alltag wieder sicherer fühlen. Denn auf der anderen Seite würden nicht wieder Verhältnisse entstehen, in denen Terroristen und Selbstmordattentäter geduldet oder geschützt werden. Diese Schritte bedeuten keine Lösung - vielmehr sind sie offensichtlich eine Nichtlösung. Doch auch für Zypern, Bosnien oder das Kosovo sind noch keine endgültigen Regelungen gefunden. Immerhin: Nichtlösungen dieser Art können weiteres Blutvergießen verhindern.

Zugegeben: Das alles mag vage und noch nicht sehr weit durchdacht erscheinen. Doch sämtliche alten Ideen haben sich nun einmal als völlige Fehlschläge erwiesen.

Die Zeit, 16.5.2002;

Shlomo Avineri lehrt Politik an der Hebrew University in Jerusalem. Er war Staatssekretär im Außenministerium unter Premierminister Rabin.

Aus dem Englischen von Tobias Dürr.

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