Vor 70 Jahren: Der "Judenboykott" am 1. April 1933 und die Kirche

von Hans-Joachim Barkenings

1933 - das Jahr der nationalsozialistischen "Machtübernahme" bestimmt durch seine Ereignisse noch heute den Gang der "deutschen Dinge". 1933 - das Jahr, das die Evangelische Kirche völlig unerwartet vor die Frage ihrer inneren Identität als christliche Kirche und sie somit in eine entscheidende Bewährungsprobe stellte.

Spätestens seit dem "Judenboykott" vom 1. April 1933 sah sich die evangelische Kirche mit dem "Judenproblem" konfrontiert und an einer empfindlichen Schwachstelle herausgefordert, war doch die Frage nach Israel in ihrer realistisch-theologischen Tiefe von ihr noch nie bedacht worden. Die theologischen und pastoralen Vertreter der evangelischen Kirche hatten es dabei bewenden lassen, im Gefolge Schleiermachers das Judentum als "überholte Religion" und "die" Juden als verdächtige, ja gefährliche Subjekte einzustufen, wie das Martin Luther in seinen Schriften gegen die Juden aus der antijüdischen Perspektive des Mittelalters - verschärft durch etliche böse und "moderne" Zungenschläge - dem Protestantismus als weiterwirkendes Erbe vermacht hatte.

Dem seit dem 19. Jahrhundert sich artikulierenden radikalen Antisemitismus war damit eine Fülle von judenfeindlichen Klischees geliefert worden, wovon dieser reichlich und dankbar Gebrauch machte (bis in die judenfeindlichen Invektiven von Streichers "Stürmer" hinein). Wer von Gott - wie der "christliche" Antijudaismus vorgab - "verworfen" war, der musste de facto auch moralisch verwerflich sein: "der" Jude. Treitschkes Resümee: "Die Juden sind unser Unglück" fand sein positives Echo auch in der Mentalität einer ganzen Generation von Kirchenführern und Pastoren der evangelischen Kirche, amalgamierte sich dort mit nationalen Träumen, nationalistischen Wünschen, machte schließlich blind für die Herausforderung der Judennot. Man ging daran vorüber - als Priester, als Levit. Abseits aller Theologie entfaltete sich die Parole "Die Juden sind unser Unglück" soziologisch verbrämt, politisch zugespitzt und zudem durch den pseudo-naturwissenschaftlichen "Rassengedanken" modern aufgemotzt, schließlich ins Wahnhafte gesteigert, in einem Ideologie-Mix, der in der gesellschaftlichen Praxis als Forderung nach "Sozialhygiene" nicht nur auf "Ausscheidung" aller Juden, sondern auf deren "Ausrottung" hinzielte. "Was der Antisemit will, ist immer der Tod des Juden", sollte nach der Schoah der französische Philosoph Jean-Paul Sartre resümierend feststellen. Nach Hitlers "Machtübernahme" sah sich die nationalsozialistische "Bewegung" in der Rolle der Vollstreckerin des angestauten antisemitischen Wollens. Die Mitglieder ihrer militanten Gliederungen SA und SS fühlten sich berufen, nunmehr in aller Härte gegen "die" Juden loszuschlagen, getreu der Weisung Adolf Hitlers in seinem Buch "Mein Kampf": "Mit dem Juden gibt es kein Paktieren, sondern nur das harte Entweder - Oder".

So holten am 23. März 1933 SS-Leute den Dajan der ostjüdischen Gemeinde in Duisburg, Mordochai Bereisch, aus seiner Wohnung. Sie trieben ihn eine Stunde lang durch Duisburgs Straßen auf den Platz vor dem Stadttheater, ohne dass aus der zahlreichen Zuschauermenge irgendein Protest gegen die Akte der Demütigung und gegen die Schläge lautgeworden wäre. Bereits am 18. März hatten fünf SS-Leute den Dajan am Ausgang des Schabbat in seiner Betstube überfallen. Sie "schlugen und verwundeten mich mit solcher Grausamkeit, dass sie vermeinten, ich sei bereits an die Tore des Todes gelangt", berichtete Bereisch später. Nun riss man Bereisch an seinen Haaren, an seinem Bart. Man hatte ihm eine schwarz-rot-goldene Fahne umgehängt, um auf diese Weise noch nachträglich die vergangene Weimarer Republik als "Judenrepublik" zu schmähen. Ein bis heute unbekannt gebliebener Beamter bewahrte den Dajan vor der Lynchjustiz. Doch ein Foto von den Vorgängen vor dem Duisburger Stadttheater ging durch die Presse der Welt - Zeugnis der gefährlichen Bedrohung, in der die Judenheit in Deutschland geraten war.

Spontane Aktionen dieser Art zu unterbinden, eigenständige antisemitische Brutalitäten zu kanalisieren, ließen sich die braunen Machthaber den "Judenboykott" zum 1. April 1933 einfallen, angeblich als "Antwort" auf die heftigen Reaktionen des Auslandes auf die Verfolgung von politischen Gegnern und der Juden im "neuen" Deutschland, jene Empörung des Auslandes als von den Juden angezettelte "Greuelhetze" ausgebend.

Ein großes Fotomaterial belegt das gesteuerte Vorgehen der militanten Nazis: die Eingänge zu jüdischen Geschäften, zu Arzt- und Anwaltspraxen von SA- und SS-Wachen zerniert, Schaufenster und Häuser mit antijüdischen Parolen beschmiert, die Parole "Deutsche, kauft nicht bei Juden" dadurch verschärft, dass jene die sich tapfer zu jüdischen Mitbürgern hielten und ihnen in dieser schweren Stunde Treue und Solidarität bewiesen (auch das gab es ja!), durch die Veröffentlichung von Namen und Fotos in der Presse der Lächerlichkeit und dem Verdacht, "Volksschädling" zu sein, preisgegeben wurden.

In die propagandistische Verteidigung ihrer Boykott-Aktion bezogen die Nationalsozialisten ungeniert Persönlichkeiten wie den Generalsuperintendenten Otto Dibelius, aber auch den berühmten Rabbiner Leo Baeck, Präsident der Reichsvertretung der deutschen Juden, ein. Dibelius gab der Meinung Ausdruck, dass der Boykott eine "notwendige Gegenmaßnahme" gegen die Greuelpropaganda" des Auslandes gegen Deutschland sei. Obwohl es sich doch bei diesem Boykott um eine Verfolgung der Juden erstmals seit ihrer Emanzipation durch einen deutschen Staat handelte, konnten protestantische Kirchenmänner auf die kirchlichen Proteste aus dem Raum der Ökumene stur antworten, in Deutschland gäbe es keine Pogrome.

Stimmen, die von den Organen der Evangelischen Kirche Worte des Protestes, Bekundungen der Solidarität den Juden gegenüber einforderten, waren erfolglos. So zum Beispiel ein prominenter evangelischer Laie, der Münchner Bankier Wilhelm Baron Pechmann, der telegraphisch "eindringlich und mit allem, was mir an innerster Überzeugung zu Gebote steht" den Kirchenbehörden gegenüber zum Ausdruck brachte, "dass ich es für verhängnisvoll halten würde, wenn unsere Kirche in solcher Stunde schweigen wollte."

Da gab es den rheinischen Sozialpfarrer Lic. Menn, - der Historiker Günther van Norden hat erst kürzlich wieder die Aufmerksamkeit auf ihn gelenkt - der dem rheinischen Generalsuperintendenten Stoltenhoff am Tage des Boykotts schrieb: "Es lässt sich doch nicht verheimlichen, dass wir mit der sog. Boykottbewegung, die seit Jahrhunderten erst Judenverfolgung begonnen haben. Ich bin entsetzt über den kalten Hass und die teuflische Sicherheit der Methoden, die aus den Anordnungen der Parteileitung... spricht. Hier wird alles, was bei der Marxistenverfolgung geleistet wurde, weit überboten. ... Die persönliche Verfolgung von Menschen, deren ‚Schuld' entweder in einer politischen Überzeugung oder in der Zugehörigkeit zu einer Rasse besteht und in nichts anderem, diese Verfolgung mit der deutlichen Absicht der Existenzvernichtung, das schlägt der einfachsten sittlichen Einsicht ins Gesicht. Es zeigt sich, dass man nicht jahrelang Massen schreien lassen kann: ‚Jude verrecke!', ohne dass man einmal diesem brutalen Verfolgungswillen Raum gibt. Ich habe noch nie so wie jetzt an meinem Volk innerlich gezweifelt. Wer wird hier den Mut haben, das Notwendige zu sagen? Zu sagen, dass die christliche Kirche wirklich für niemand eintritt, der wider unser Volk sündigt, es aber mit aller Deutlichkeit als sittliches Unrecht bezeichnet, als widerchristlich, Menschen nur deshalb als einzelne zu verfolgen und zu schädigen, weil sie einer Gruppe angehören, gegen die man aus irgend einem Grund kämpfen zu müssen meint." Was wusste der rheinische Generalsuperintendent dem rheinischen Sozialpfarrer zu antworten? Nur dies: "Die augenblickliche politische Lage bedeutet für jeden einsichtigen Christenmenschen neben der großen Freude über das, was der Umschwung gebracht hat, natürlich auch ernste Sorgen. Ich bin dankbar dafür, dass der Boykott zunächst nur auf den Samstag beschränkt wurde, und ich hoffe sehr, dass er nicht wieder auflebt". Freilich wolle er doch "offen sagen", er habe "einiges Verständnis" dafür - auch wenn die Parole "Juda verrecke" in gar keiner Weise zu verteidigen sei -, "dass der angesammelte, auch bei keineswegs antisemitisch Eingestellten angesammelte Groll über das, was da Presse, Börse, Theater usw. beherrschende Judentum uns angetan hat, sich einmal energisch Luft macht". Gegen die "urgewaltige Bewegung unserer Gegenwart" sei sowieso nichts auszurichten. "Für mich war der 21. März ein ganz großes Erlebnis. In meinem Herzen und in meinem Haus haben die Farben schwarz-rot-gold keine Stunde einen Platz gehabt." Bei "grundsätzlicher Überparteilichkeit" könne die Kirche samt ihren Amtsträgern freilich "gegenüber dem nationalen Erleben nicht den Gleichgültigen spielen."

Genau das aber erklärt, warum von der Kirche kein kritisches Wort, geschweige denn ein protestierendes, gegen den Judenboykott öffentlich zu hören war. Zu sehr war man von dem "nationalen Ereignis" dem "Tag von Potsdam" (21. März 1933) beeindruckt, an dem der "greise Generalfeldmarschall" Paul von Hindenburg dem "einfachen Gefreiten" Adolf Hitler symbolisch die Hand zum Bund gereicht hatte.

Was Wunder, wenn der telegrafische Hilferuf der Reichsvertretung der deutschen Juden an die Adresse des Evangelischen Oberkirchenrates in der Berliner Jebensstraße nahezu ohne Echo blieb: "Die deutschen Juden erhoffen gegenüber den gegen sie gerichteten Bedrohungen ein baldiges Wort, das im Namen der Religion von der evangelischen Kirche in Deutschland gesprochen wird, damit unwiderbringlicher Schade auch für Gemeinsames des Glaubens abgewendet werde."

Diese Hoffnung auf ein "baldiges Wort" der Solidarität war vergeblich. Der Evangelische Oberkirchenrat begnügte sich mit der telegrafischen Versicherung, "die Entwicklung mit größter Aufmerksamkeit" verfolgen zu wollen, und mit dem Ausdruck der Hoffnung, "dass Boykottmaßnamhen mit dem heutigen Tag ein Ende finden".

Ohne Zweifel ließ die Evangelische Kirche in diesem Augenblick eine Gelegenheit verstreichen, die zu einer Sternstunde im Verhältnis von Christen und Juden hätte werden können. Wann hätte je zuvor eine offizielle jüdische Instanz das "Gemeinsame des Glaubens" beschworen? Wann wäre die christliche Kirche je auf dieses "Gemeinsame" angesprochen worden? War der jüdische Appell an "Gemeinsames des Glaubens" vielleicht doch zu naiv, weil doch im protestantischen Raum dieses "Gemeinsame" schon längst intensiv in Frage gestellt war, nur um ja nicht in irgend eine Nachbarschaft des Judentums zu geraten? War doch im Protestantismus das "Alte Testament" als verbindlicher Teil der christlichen Bibel zunehmend in Frage gestellt (und es sollte nicht mehr lange dauern, bis dieses "Alte Testament" als eine Sammlung von "Viehhändler- und Zuhältergeschichten" öffentlich diffamiert würde). Und wurde nicht gar das Jude-sein Jesu von Nazareth weggeleugnet?

Es bedurfte erst der furchtbaren Ereignisse der Schoah, ehe evangelische Christen in Deutschland, anfangs noch sehr mühsam, entdeckten, dass es jenseits des immer noch Juden und Christen Trennenden auch "Gemeinsames des Glaubens" wirklich gab und gibt. Dem nach Auschwitz doch noch und trotz allem Geschehenen wieder möglich gewordenen Gespräch, das bedeutende jüdische Persönlichkeiten mit uns Christen zu führen bereit waren, ist es zu danken, dass aus dem traditionellen Anti und aus dem interesse- und beziehungslosen Nebeneinander früherer Tage ein Miteinander sich entwickelt hat, für die christliche Kirche sich ein "mit Israel" herausschälte, das wir als konstitutiv für die Existenz der Kirche und für unsere Identität als Christen erkannt und im Grundartikel der Kirchenordnung der Evangelischen Kirche im Rheinland bekannt haben:

Die Kirche "bezeugt die Treue Gottes, der an der Erwählung seines Volkes Israel festhält. Mit Israel hofft auf einen neuen Himmel und eine neue Erde."

zur Titelseite

zum Seitenanfang


Evangelischer Arbeitskreis Kirche und Israel in Hessen und Nassau
Pfr. U.Schwemer, Theodor-Storm Str.10, 64646 Heppenheim;
Tel: 06252-71270 / Fax: 06252-72606