 
      
       
      Joschka Fischer erhält Buber-Rosenzweig-Medaille
       Laudatio von Paul Spiegel: 
      Präsident des Zentralrats der Juden in 
      Deutschland 
      Laudatio für Bundesaußenminister Dr. h. c. Joschka Fischer 
      Preisträger der Buber-Rosenzweig-Medaille 2003 
       
      Es sind zwei Ereignisse, die mir sofort in den Sinn kommen, wenn ich an 
      Joschka Fischer denke: 
      Da ist der Bundesaußenminister im vorletzten Jahr auf Visite in Israel. 
      Und ein unglücklicher Zufall will es, dass er Zeuge wird eines der 
      schrecklichsten Selbstmordattentate in Tel Aviv vor dem Dolphinarium, bei 
      dem zwanzig Jugendliche, die ganz einfach nur in die Diskothek wollten, 
      auf grausame Weise durch einen Selbstmordattentäter ermordet wurden. 
      Joschka Fischer begibt sich als einer der ersten unmittelbar nach dem Anschlag 
      zum Ort des schrecklichen Geschehens, um die Toten zu ehren, ihrer zu gedenken, 
      seiner Solidarität mit den Hinterbliebenen sichtbar Ausdruck zu verleihen. 
      Sein Gesicht spricht Bände: Es ist nicht das übliche, für 
      das Fernsehen aufgesetzte seriös-nachdenkliche Gesicht von Berufspolitikern, 
      wie man es leider nur all zu oft von so vielen offiziellen Gedenk- und Trauerfeiern 
      kennt. Nein, aus Mimik und Gestik des Bundesaußenministers sprechen 
      Entsetzen, Schock, Verzweiflung - und das tiefe Begreifen der Tragik des 
      Nahost-Konflikts, die er nun hautnah miterleben musste. Dieses Begreifen, 
      das den Menschen Joschka Fischer, nicht etwa den Grünen-Politiker, 
      nicht etwa den Außenminister Deutschlands erfasst, dieses Begreifen 
      um die Alltags-Dimension des Konflikts lässt Joschka Fischer nicht 
      ruhen, in jenen Tagen in einer Art Pendeldiplomatie das Schlimmste zu verhüten. 
      Und es gelingt ihm. Nicht erst seit jenen Tagen im Juni 2001 ist Joschka 
      Fischer ein angesehener und respektierter Vermittler zwischen den israelisch-palästinensischen 
      Fronten geworden. Doch spätestens seitdem hat der Bundesaußenminister 
      eine Position in Nahost, vor allem aber in Israel, errungen, die kein anderer 
      europäischer Politiker inne hat. 
      Das Mitleiden, das Mitfühlen der Angst, des Schmerzes, das Begreifen 
      der Wut, des Hasses beider Seiten machen Fischer zu einem überzeugenden 
      Mediator, dem niemand, nicht Sharon, nicht Arafat, Parteilichkeit vorwerfen 
      kann. Denn sein Einsatz für eine Lösung in Nahost ist nicht der 
      Versuch, Israel und/oder der Palästinensischen Autonomiebehörde 
      zu helfen, sondern den Menschen, hüben wie drüben. 
      Dabei lässt Joschka Fischer, der deutsche Nachkriegspolitiker, niemals 
      Zweifel daran, in welcher Verpflichtung er aufgrund der Geschichte seines 
      Landes steht. Seine Verantwortung für die Sicherheit Israels, für 
      das Existenzrecht des jüdischen Staates ist nicht nur Lippenbekenntnis 
      sondern aktive Tat. Und - es gelingt ihm, trotz dieser inneren Verpflichtung, 
      auch den Palästinensern als ehrlicher Makler zu dienen. Auch dafür 
      gebührt ihm die Ehrung des heutigen Tages, gerade wenn man an die Lehre 
      denkt der Namensgeber der Medaille, die Joschka Fischer heute erhält. 
      Denn Martin Bubers philosophischer Ansatz, mit dem "Du", mit dem 
      "Anderen", dem "Gegenüber" in Dialog zu treten, 
      seine Forderung, den Gesprächspartner in seiner gesamten Wesenheit 
      wahrzunehmen und als solches auch wirklich anzunehmen - das scheint Joschka 
      Fischers ganz selbstverständliches Credo zu sein in seinen Bemühungen, 
      Israel und den Palästinensern zu helfen, endlich in Frieden zu leben. 
      Es ist das Pech, sozusagen das "Künstlerpech", Joschka Fischers, 
      Außenminister "nur" der Bundesrepublik zu sein, also eines 
      Landes, dessen wirtschaftliche und diplomatische Möglichkeiten nicht 
      ausreichen, um im Nahen Osten Vorschläge, Ratschläge durchzusetzen 
      oder den Regierungen vor Ort gewisse Anreize für die Umsetzung seiner 
      Friedensvisionen anzubieten. Hinzu kommt: Joschka Fischer ist Außenminister 
      eines Landes, das auf dem europäischen Kontinent liegt. Und dieses 
      Europa, das sich in einem für die Menschheit einmaligen politischen 
      Akt bemüht, zu einer supranationalen Einheit und Identität zu 
      gelangen, ist in diesem Augenblick, wie wir alle täglich miterleben 
      können, in seinen nationalen Identitäten, Eitelkeiten und Interessen 
      ganz offensichtlich gespaltener und zerstrittener denn je. Insofern erscheint 
      Joschka Fischer vielen wie ein unglücklicher Don Quichotte, wenn er 
      immer wieder in den Nahen Osten reist und versucht, mit irgendwelchen greifbaren 
      Ergebnissen zurückzukommen. Die Zyniker, die Abgebrühten mokieren 
      sich: er solle nicht den großen Staatsmann spielen, er sei schließlich 
      nicht der Außenminister der USA, was will er dort eigentlich? 
      Doch Fischers unermüdlicher Einsatz für einen friedlichen Nahen 
      Osten, für die Sicherheit Israels, ist genau das, was wir Bürger 
      von Politikern doch stets einfordern: Jenseits von Zynismus und Kaltschnäuzigkeit 
      das Unmögliche versuchen, eben nicht die inhaltsleere Geschäftigkeit 
      des Berufspolitikers an den Tag zu legen, die uns Wählern großes 
      Engagement suggerieren soll, sondern sich, trotz aller Skepsis, trotz aller 
      Beschränkungen, glaubwürdig einzusetzen. Insofern ist Joschka 
      Fischer der Sisyphus des Nahen Ostens. Und Martin Buber hätte seine 
      helle Freude an diesem Realpolitiker voller Idealismus. 
      Ich sprach eingangs von zwei Ereignissen, die mir sofort einfallen, wenn 
      ich an Joschka Fischer denke. Seine Bewegtheit, seine persönliche Erschütterung 
      in Tel Aviv ist eines davon. 
      Das andere, für uns Juden in Deutschland ein ebenso wichtiges Ereignis: 
      Sein Artikel in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung", als die 
      sogenannte Antisemitismus-Debatte im vergangenen Jahr ihren ersten Höhepunkt 
      erreichte. 
      Sein Bekenntnis zur jüdischen Gemeinschaft in Deutschland, sein Engagement 
      gegen den Antisemitismus, der sich in zahlreichen Äußerungen 
      deutscher Politiker aus der so genannten Mitte der Demokratie offenbarte, 
      vor allem aber sein tiefes, feinfühliges Begreifen unserer psychologischen 
      Befindlichkeit, das ihn veranlasste, eindringlich davor zu warnen, die jüdischen 
      Bürger dieses Landes erneut allein zu lassen - dieses vehemente "J'accuse" 
      eines deutschen Politikers - das war das richtige Wort zur richtigen Zeit 
      am richtigen Platz vom richtigen Mann. Es stand im Raum der öffentlichen 
      Diskussion wie ein Monolith und beschämte fast die gesam-te politische 
      Klasse, die wenngleich kritisch gegenüber Möllemann, sich im Wahlkampf 
      doch offenbar lieber nicht so recht "outen" wollte, um potentielle 
      Wähler besser nicht zu verschrecken, und dabei konnte es sich wohl 
      nur um jene Wähler handeln, die als antisemitisch eingestellt galten. 
      Joschka Fischer interessierte das alles wenig. Er beherzigte, was die Gründergeneration 
      der Bundesrepublik immer als deutsches Mantra predigte: Aus der Vergangenheit 
      lernen! Joschka Fischer hat das getan. Er hat aus der Vergangenheit seines 
      Landes, aber auch aus seiner persönlichen Vergangenheit gelernt. Und 
      wir Juden, die wir nun doch allzu gut unterscheiden können zwischen 
      Anbiederung und ehrlicher Sympathie, zwischen Pose und Sensibilität, 
      haben in Joschka Fischer einen Freund, für den die Begriffe der französischen 
      Revolution: Gleichheit, Freiheit, Brüderlichkeit nicht leere Worthülsen 
      sind. Mit großem persönlichem Risiko versucht er diese Ideale 
      der Aufklärung umzusetzen. 
      Sein FAZ-Artikel beschämte all diejenigen, die uns sonst immer, in 
      sicheren, friedlichen Zeiten, mit salbungsvollen Worten zur Seite stehen. 
      Ich will jetzt nicht auf einzelne Gruppen eingehen, doch zumindest eine 
      mag ich hier nicht unerwähnt lassen. Denn es hat schon beinahe etwas 
      Tragikomisches, wenn ein Politiker, also ein Mensch, der einem Berufsstand 
      angehört, der allgemein nur noch gescholten, verhöhnt und beschimpft 
      wird, wenn also ein Politiker das tut, was man normalerweise von den Intellektuellen 
      eines Landes in solch einer Situation erwartet, ja erwarten muss. 
      Joschka Fischer ist ein Deutscher, dem es glaubhaft gelungen ist, aus der 
      schrecklichen Vergangenheit dieses Landes Lehren zu ziehen. Sein unermüdlicher 
      Einsatz für ein besseres Miteinander in der Bundesrepublik, sein überzeugender 
      Einsatz für eine bessere Welt, ein sicheres Israel, ein friedliches 
      Palästina, seine Treue und Verlässlichkeit gegenüber uns 
      jüdischen Menschen in Deutschland, lässt uns Nachgeborene erahnen, 
      wie einstmals das oft zitierte deutsch-jüdische Verhältnis, zumindest 
      in Teilen der Gesellschaft, vor der Shoa gewesen sein muss - oder wie es 
      hätte sein sollen. Und wie es auch künftig sein könnte und 
      sein sollte. 
      Denn es zeigt uns, was in diesem Land an positivem Potential möglich 
      ist, allerdings auch, wie viele Defizite in dieser Republik noch existieren 
      und was noch alles zu tun ist. Insofern ist Joschka Fischer wirkliches Vorbild, 
      denn er setzt Maßstäbe im Umgang zwischen jüdischen und 
      nichtjüdischen Deutschen, zwischen Deutschen und Israelis. Die Lehre 
      Franz Rosenzweigs und Martin Bubers hat er zutiefst verstanden und verinnerlicht. 
      Sie geht weit über das Jüdische hinaus. Es ist die Lehre eines 
      grenzüberschreitenden Humanismus, der Kraft, Mut und unermüdliche 
      Beharrlichkeit verlangt. 
      Joschka Fischer ist ein würdiger Preisträger der Buber-Rosenzweig-Medaille. 
      Wir alle sollten stolz und dankbar sein, dass er die verdiente Würdigung 
      für sein Tun erhält und annimmt. 
      Joschka Fischer 
        Bundesminister des Auswärtigen 
        Dankesrede anlässlich der Verleihung der Buber-Rosenzweig-Medaille 
         
        Ich bedanke mich für die Worte, die Sie, lieber Herr Spiegel soeben 
        gesprochen haben. Es ist für mich eine sehr große Ehre, heute 
        mit der Buber-Rosenzweig-Medaille ausgezeichnet zu werden. Berühmte 
        Preisträger, wie Isaac Bashevis Singer, Eugen Kogon, Yehudi Menuhin, 
        Friedrich Dürrenmatt, Lea Rabin, Bundespräsident Johannes Rau 
        und auch Richard von Weizsäcker verleihen dieser Auszeichnung einen 
        besonderen Rang. Die heutige Ehrung ist für mich aber auch gerade 
        deshalb etwas ganz besonderes, weil mit dem Namen der Medaille die Erinnerung 
        an zwei herausragende deutsche Intellektuelle jüdischen Glaubens 
        Verbunden ist. 
        Meine Damen und Herren, 
        wir erleben eine Zeit, in der die Frage einer drohenden Konfrontation 
        bis hin zu ihrer schlimmsten Form, nämlich des Krieges zwischen den 
        Kulturen und Religionen, wieder auf bedrückende Art und Weise aktuell 
        geworden ist. Der verbrecherische Terrorismus des 11. September 2001 hat 
        uns diese drohende Konfrontation ebenso vor Augen geführt wie die 
        uns fast täglich erreichenden furchtbaren Nachrichten über Terror 
        und Gewalt in Israel und den palästinensischen Gebieten. Angesichts 
        dieser aktuellen Drohung eines neuen, mit terroristischen Mitteln geführten 
        Religionskrieges, angesichts auch der Gefahr des islamistischen Totalitarismus 
        eines Osama bin Laden und anderer Gruppen, gewinnt die Idee einer interreligiösen 
        Zusammenarbeit eine bedrückende und doch auch zugleich Hoffnung stiftende 
        Aktualität. 
        Die Idee der "christlich jüdischen Zusammenarbeit" bekommt 
        durch die aktuellen Krisen seit dem 11. September etwas überaus Paradigmatisches 
        und zugleich aktuell Politisches. Diese Idee gründet auf dem Dialog 
        und ist deshalb schon von ihrem Wesen her antitotalitär. Sie gründet 
        auf dem gegenseitigen Verständnis, auf dem Wissen nicht nur um die 
        jeweils eigene Religion und Kultur, sondern auch um die des Anderen, des 
        Gegenüber. Sie achtet im Dialog und Verständnis die Unterschiede 
        in Glauben und Tradition, und gerade deshalb verachtet sie zutiefst Gewalt, 
        Unrecht und Unterdrückung im Namen des jeweils Einen Gottes. 
        Martin Buber und Franz Rosenzweig versinnbildlichen in ihren Personen 
        und in ihrem Werk diese großartige Idee des religiösen Dialogs 
        und der Toleranz im Deutschland der Vorkriegszeit. Und zumindest Buber 
        musste das Scheitern dieser Idee der christlich-jüdischen Zusammenarbeit, 
        des Neben- und Miteinander von jüdischer und christlicher Kultur 
        in Deutschland mit der Machtergreifung der Nazis und ihres massenmörderischen 
        Antisemitismus auf furchtbare Weise selbst miterleben. 
        Judentum, Christentum und Islam - all diese großen Weltreligionen 
        sind monothestische Religionen, glauben also an den Einen Gott. Und ihr 
        Glauben gründet auf Sein Wort, auf das Buch also. Das Judentum ist 
        die älteste dieser drei monotheistischen Buchreligionen. Judentum 
        und Christentum, das sind auch Altes und Neues Testament, Altes und Neues 
        Buch. Buber und Rosenzweig haben ihr Leben als Gelehrte den Büchern 
        und ihrem Verständnis und ihrer immer wieder neu zu erschließenden 
        Auslegung gewidmet. Sie wussten um das Besondere in den Beziehungen zwischen 
        dem Judentum und dem Christentum in der deutschen Kultur. Und auch der 
        mörderische Antisemitismus der Nazis wusste dies. Es sollte entsetzliche 
        Folgen haben. 
        "Dort, wo man Bücher verbrennt, verbrennt man auch am Ende Menschen," 
        wusste bereits Heinrich Heine in seiner Tragödie Almansor, auch wenn 
        er dabei an die Schrecken der spanischen Reconquista dachte, und nicht 
        an den tödlichen Antisemitismus der Nazis. 1933 geschah es gewiss 
        nicht von ungefähr, dass die nationalsozialistische Barbarei mit 
        der Bücherverbrennung begann. Der Antisemitismus Hitlers und der 
        Nazis führte seine Blutspur über die schändlichen Nürnberger 
        Rassegesetze, über die Pogrome des 9./10. November 1938 hin zur Shoah, 
        dem Völkermord an den deutschen und europäischen Juden. 
        Dies alles geschah in Deutschland und durch Deutsche. Dies alles ereignete 
        sich in der Mitte Europas, in aller Öffentlichkeit. Und dies geschah 
        nur wenige Jahre nachdem Buber und Rosenzweig ihre Gedanken über 
        das Verbindende zwischen Neuem und Altem Buch veröffentlicht hatten. 
        Die nach 1945 wieder aufgenommene Idee der christlich-jüdischen Zusammenarbeit 
        musste völlig neu beginnen. Ein Wiederanknüpfen war nicht mehr 
        möglich, denn das mörderische Zerstörungswerk der Nazis 
        hatte zu gründlich gewirkt. Das deutsche Judentum war bis auf wenige 
        Ausnahmen - Überlebende aus den Ghettos und Lagern oder aus dem Untergrund 
        und zurückkehrende Emigranten - vertrieben oder ermordet worden und 
        mit ihm auch jene lebendige und reiche Kultur Deutschlands, die ohne ihre 
        jüdischen Wurzeln und Beiträge bis 1933 einfach nicht vorstellbar 
        war. 
        Dennoch! Ein ganz entschiedenes DENNOCH stand an jenem Neubeginn! Denn 
        die Mörder, die Nazis und Antisemiten durften auch in ihrer totalen 
        Niederlage den Sieg nicht davontragen. Und genau dieses wäre geschehen, 
        wenn nach der Katastrophe 1945 jüdisches Leben in Deutschland völlig 
        erloschen wäre. Genau diese Erkenntnis hat einen Mann wie Heinz Galinski, 
        Jude, Deutscher, Berliner und ein Überlebender der Hölle von 
        Auschwitz dazu gebracht, die jüdische Gemeinde zu Berlin und den 
        Zentralrat der Juden in Deutschland erneut zu gründen. Der Neubeginn 
        jüdischen Lebens in Deutschland, so schwer das den wenigen Überlebenden 
        und Rückkehrer und ihren Familien zu Beginn auch gefallen ist, war 
        der Sieg über den nationalsozialistischen Antisemitismus. 
        Und bis auf den heutigen Tag gilt, dass die Frage, wie sicher und, ja, 
        vielleicht auch wie zuhause sich deutsche Juden und ihre Gemeinden in 
        unserem Land fühlen, die entscheidende Frage für die Stärke 
        und die Stabilität unserer Demokratie ist und bleibt. 
        Wir können uns das unfassbare Verbrechen der Ermordung und Vertreibung 
        der deutschen Juden durch die Nazis nicht oft genug in Erinnerung rufen. 
        Und dies nicht nur, wegen der moralischen und historischen Verantwortung 
        unseres Landes für dieses Menschheitsverbrechen, sondern auch und 
        gerade, weil es die Erinnerung an uns selbst ist. An unser kollektives 
        Wir, das durch Hitler und seine Verbrechen nachhaltig verstümmelt 
        wurde. 
        Es waren Deutsche, Landsleute, die durch den deutschen Staat und die damalige 
        Mehrheit, ausgegrenzt, entrechtet, gedemütigt, enteignet, vertrieben 
        und schließlich ermordet wurden. Martin Buber war einer von ihnen. 
        Mit der Vertreibung und Ermordung der deutschen Juden hat Deutschland 
        einen wesentlichen Teil seiner kulturellen Identität dauerhaft zerstört, 
        und diese Wunde schmerzt bis in die Gegenwart. 
        Gewiss, die deutsche Demokratie blickt auf mehr als fünf Jahrzehnte 
        beeindruckender Leistungen und einer nachhaltigen Stabilität zurück. 
        Deutschland ist heute, trotz aller Mängel, die es zu überwinden 
        gilt, ein offenes Land, eine europäisch integrierte Demokratie, ein 
        unerschütterlicher Rechtsstaat mit einer starken Zivilgesellschaft. 
        Und dennoch: Was wäre unser Deutschland für ein wunderbares 
        Land, um wie viel reicher wäre es, um wie viel beeindruckender, wenn 
        Albert Einstein und Martin Buber geachtet und respektiert an deutschen 
        Universitäten weiterforschen hätten können! Wenn Alfred 
        Kerr und Lion Feuchtwanger in Berlin oder München weiterschreiben 
        hätten können! Wenn Ernst Lubitsch, Fritz Lang oder Joseph von 
        Sternberg nicht nach Amerika hätten emigrieren müssen! Wenn 
        all die vielen anderen unserer jüdischen Landsleute, die Bekannten 
        und Unbekannten und ihre Kinder und Enkelkinder nicht vertrieben oder 
        ermordet worden wären! 
        Gerade in Berlin, dem einstigen Zentrum jüdischen Lebens in Europa, 
        wird mir dieser Verlust in und für Deutschland immer wieder bewusst. 
        Die geistige und kulturelle Blüte der Stadt seit der Aufklärung 
        wurde hier ganz wesentlich von deutschen Juden mitbegründet und gestaltet. 
        Namen wie Moses Mendelsohn, Rahel Varnhagen, Henriette Hertz bis hin zu 
        Max Liebermann prägten über Generationen hinweg ihre intellektuelle 
        und kulturelle Vielfalt. Aber selbstverständlich sei auch mein geliebtes 
        Frankfurt am Main dabei nicht vergessen, der Stadt von Martin Buber. 
        Aber auch bei dieser Erinnerung lässt uns die Abgründigkeit 
        unserer Geschichte nicht los. Berlin ist die Stadt, in der der Holocaust 
        geplant, organisiert und befohlen wurde. Hier war das Machtzentrum von 
        Hitlers rassistischem Größenwahn, der den Tod von sechs Millionen 
        deutscher und europäischer Juden planvoll und rücksichtslos 
        ins Werk setzte. 
        Und bis heute ist diese Kernfrage unserer Geschichte nicht wirklich beantwortet 
        - trotz vieler kluger und umfänglicher Analysen und Bücher zu 
        diesem Thema: Wie konnte es geschehen? Warum? Und weshalb gerade hier, 
        in Deutschland? Bei uns? 
        Seit der Aufklärung und spätestens seit der französischen 
        Revolution gab es Anlas zur Hoffnung, dass die Juden Europas als gleichberechtigter 
        Teil der Bevölkerung aufgenommen würden. Die mühsam erreichte 
        Emanzipation führte gerade in Deutschland zu einer großen Assimilationsbewegung. 
        Im Gefolge der Großen Französischen Revolution und des Völkerfrühlings 
        der Freiheit waren die Mauern der Ghettos nahezu überall niedergelegt 
        worden. Fortan nahmen die Juden gleichberechtigt am öffentlichen 
        Leben teil und setzen auf die volle Integration in die sich überall 
        in Europa herausbildenden Nationalstaaten, als Staatsbürger mit allen 
        Rechten und Pflichten. 
        Vor sechzig Jahren wurde diese Hoffnung auf ein gleichberechtigtes Miteinander 
        auf brutale Weise zerstört. Deutschland beantwortete die Zuneigung, 
        ja - es ist ein großes Wort, aber Ralph Giordano hat es in seiner 
        bewegenden Rede am letzten 9. November in Berlin zurecht ausgesprochen 
        - die Liebe seiner jüdischen Bürger mit einem beispiellosen 
        Verbrechen, mit dem größten Völkermord in der jüdischen 
        Geschichte. 
        Die Gründung des Staates Israel ist auch eine Antwort auf den Judenhass 
        und den Völkermord des Nationalsozialismus. Aber sie ist auch die 
        Folge eines allgemeinen europäischen Versagens seit der zweiten Hälfte 
        des 19. Jahrhunderts. Der Zionismus Theodor Herzls, die Idee von einem 
        eigenen Staat für die Juden in Palästina, die jüdische 
        Nationalbewegung also, war eine Reaktion auf den in der zweiten Hälfte 
        des 19. Jahrhunderts immer gefährlicher aufkommenden Antisemitismus 
        gewesen. Diese jüdische Nationalbewegung war auch ein Ergebnis des 
        Scheiterns der Emanzipation und Integration der jüdischen Minderheiten 
        in vielen europäischen Nationalstaaten. 
        Europa und vor allen Dingen Deutschland muss sich der Verantwortung für 
        seine Geschichte stellen, und d.h. dass wir immer ein aus historischer 
        und moralischer Verantwortung begründetes Sonderverhältnis zum 
        Staat Israel haben müssen und haben werden. Dies bedeutet ein klares 
        Bekenntnis zu dem Existenzrecht Israels als jüdischem Staat und zu 
        dem Recht seiner Bürgerinnen und Bürger, in Frieden und Sicherheit 
        und ohne Angst vor Terror leben zu können. 
        Dieses Sonderverhältnis zwischen Deutschland und Israel ist ein Fundament 
        deutscher Außenpolitik und damit unabhängig von tagesaktuellen 
        politischen Konstellationen. Es fordert gerade in schwierigen Zeiten unsere 
        Solidarität. Israel kann sich auf Deutschland als Partner verlassen, 
        das gilt heute ebenso wie in Zukunft. 
        Nach wie vor wird das Existenzrecht Israels in Frage gestellt. Nach wie 
        vor herrschen Terror und Gewalt im Nahen Osten. Ich selbst habe auf vielen 
        Reisen in die Region erfahren, welchen Schrecken und welches Leid der 
        Terrorismus in Israel anrichtet. Terror und Gewalt dürfen sich nicht 
        durchsetzen, niemals. Kämpfen müssen wir um einen wirklichen 
        Frieden, der beiden Völkern endlich ein Nebeneinander ohne Gewalt 
        in einer stabilen Region sichert. 
        Auf beiden Seiten in diesem tragischen Konflikt sterben unschuldige Menschen 
        oder werden schwer verstümmelt und verletzt. Das Leid der betroffenen 
        Familien findet sich auf beiden Seiten. Zudem erfüllt mich die humanitäre 
        Lage in den palästinensischen Gebieten mit tiefer und wachsender 
        Sorge. 
        Der Friede im Nahen Osten ist für uns alle von entscheidender Bedeutung, 
        auch und gerade wenn wir von unserer Sicherheit sprechen Ich bin überzeugt, 
        dass man diese Krise nicht mit militärischen Mitteln, sondern nur 
        mit einem politischen Kompromiss wird lösen können. Freilich 
        muss dieser Frieden auf Sicherheit gründen, sonst wird es ihn niemals 
        geben. 
        Frieden ist nur dann erreichbar, wenn die Menschen nachbarschaftlich und 
        im gegenseitigen Respekt voreinander zusammenleben. Wir müssen alle 
        Anstrengungen unternehmen, die dem Staat Israel und seiner Bevölkerung 
        ein sicheres Leben garantiert und gleichzeitig den Palästinensern 
        eine wirkliche Perspektive eröffnet. Die dauerhafte Lösung des 
        Konflikts liegt in zwei unabhängigen, demokratischen Staaten, die 
        nachbarschaftliche Beziehungen unterhalten und in gemeinsamer Sicherheit 
        verbunden sind. 
        Die internationale Gemeinschaft muss jetzt alles daran setzen, damit der 
        Weg hin zu dieser Zwei-Staaten-Lösung beschritten werden kann. Die 
        Vorschläge dazu liegen in Gestalt einer "road map" auf 
        dem Tisch. Die USA aber auch Europa sind dabei besonders gefordert. Denn 
        dieser Ansatz verspricht positive Auswirkungen auf die gesamte Region 
        des Nahen und Mittleren Osten. Ohne internationale Hilfe wird sich ein 
        Fortschritt oder gar ein Durchbruch im Nahostkonflikt jedoch nicht verwirklichen 
        lassen. 
        Aus all diesen Gründen werde ich mich weiterhin mit aller Kraft dafür 
        einsetzen, dass Terror und Gewalt sich nicht durchsetzen werden, dass 
        Israels Sicherheit dauerhaft gesichert wird, dass auch das Leid der Palästinenser 
        ein Ende findet und sie ihre legitime Forderung nach einem eigenen Staat, 
        der friedlich an der Seite Israels lebt, umsetzen können, und dass 
        deshalb der Friedensprozess zwischen Israel und den Palästinensern 
        wieder in Gang kommt. 
        Dies ist mir ein ganz persönliches Anliegen und es bleibt ein zentraler 
        Bestandteil unserer Außenpolitik. Dass Sie mir heute die Buber-Rosenzweig-Medaille 
        verleihen, betrachte ich auch als einen Auftrag, mich weiter mit aller 
        Kraft für diesen Frieden zwischen Israel und den Palästinensern 
        zu engagieren. 
        Meine Damen und Herren, 
        Schließlich hat sich kein anderer als Martin Buber selbst für 
        die Notwendigkeit zu einer Verständigung und friedlichen Koexistenz 
        zwischen Juden und Arabern eingesetzt. Auch wenn uns heute seine Vision 
        eines konföderativen Staates Israel-Palästina sehr fern scheint 
        - die politischen Notwendigkeiten hat er mit großer Klarheit gesehen. 
        Franz Rosenzweig starb 1929 im Alter von 43 Jahren. Sein früher Tod 
        bewahrte ihn vor der schrecklichen Zeit, in der das jüdische Geistesleben 
        in Deutschland unwiederbringlich vernichtet wurde. Martin Buber konnte 
        glücklicherweise 1938 nach Israel fliehen. Von Jerusalem aus musste 
        er aber mit ansehen, wie die Nazis den jüdischen Teil der deutschen 
        Bevölkerung und der anderer europäischer Staaten systematisch 
        ausrotteten. Er musste verfolgen, wie ein jahrtausendalter, wesentlicher 
        Pfeiler deutschen und europäischen Geisteslebens in wenigen Jahren 
        zerstört wurde. 
        Vor diesem Hintergrund war es eine beeindruckende Geste, dass Buber schon 
        zu Beginn der fünfziger Jahre nach Deutschland reiste. Als einer 
        der ersten differenziert er zwischen individueller Schuld und kollektiver 
        Verantwortung. In seiner großen Rede anlässlich der Verleihung 
        des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels hat er dies überzeugend 
        dargelegt. Wie kein anderer in dieser Zeit hat er dem neuen, demokratischen 
        Deutschland die Hand zur Versöhnung gereicht. Es kann uns nicht erstaunen, 
        dass er sich deshalb in Israel harscher Kritik ausgesetzt sah. 
        Die Beschäftigung mit Martin Buber macht uns immer wieder schmerzhaft 
        bewusst, dass eine Folge des Holocausts auch der Verlust des Wissens um 
        den jüdischen Glauben und seine Traditionen in Deutschland war. Was 
        vor dem Krieg in fast jeder deutschen Stadt selbstverständlich war 
        und zur Erfahrungswelt buchstäblich eines jeden Kindes gehörte, 
        wurde schlagartig ausgelöscht. Früher gingen die Schüler 
        auf ihrem Schulweg an den Synagogen ihrer Städte vorbei. Ich fürchte, 
        heute ist den wenigsten Schülern in unserem Land geläufig, was 
        eine Synagoge ist. 
        Dass sich in den letzten Jahren in vielen deutschen Großstädten 
        jüdisches Leben wieder wächst, stimmt hoffnungsvoll. Die Gemeinden 
        werden größer und es öffnen jüdische Geschäfte, 
        Restaurants, und Bildungsstätten. Der Zuzug von Juden aus der ehemaligen 
        Sowjetunion spielt dabei eine wichtige Rolle. Ich weiß, dass diese 
        Entwicklungen die jüdischen Gemeinden mitunter auch vor Probleme 
        stellen. Und es wäre gewiss eine Illusion zu glauben, dass das jüdische 
        Leben im Deutschland der Vorkriegszeit wiedererstehen könnte. 
        Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang ein Wort zum Engagement der 79 
        Gesellschaften für christlich-jüdische Zusammenarbeit in Deutschland 
        und ihrer 20.000 Mitglieder und Freunde sagen. Seit Jahrzehnten arbeiten 
        sie ehrenamtlich für Verständigung und Versöhnung. Sie 
        haben durch ihre Arbeit mit den jüdischen Gemeinden, durch ihre Kontakte 
        mit Emigranten in der ganzen Welt und durch ihre Veranstaltungen wesentlich 
        zu einem Deutschlandbild beigetragen, dass von Offenheit, Hilfsbereitschaft, 
        Interesse und historischer Verantwortung geprägt ist. Ihre Mithilfe 
        war bei der Gründung und beim Aufbau vieler jüdischer Gemeinden 
        in Ostdeutschland nach der Vereinigung wesentlich. Auch ihre Unterstützung 
        bei der Integration der neuen Mitglieder aus der ehemaligen Sowjetunion 
        kam für viele jüdische Gemeinden sehr gelegen. Für die 
        christlich-jüdischen Verständigung leisten sie bis heute vieles, 
        was der Staat nicht leisten kann. Sie sind ein ganz wichtiger Teil der 
        deutschen Zivilgesellschaft. Vom Koordinierungsrat der Gesellschaften 
        heute ausgezeichnet zu werden, ist für mich daher eine besondere 
        Ehre. 
        In einem Brief an Theodor Heuss vom Februar 1963 schreibt Martin Buber 
        über die Herkunft des Wortes Dank. Etymologisch hänge das deutsche 
        Danken' mit Denken' zusammen. Wer danke, erkläre dem 
        Angesprochenen, er werde ihn im freundlichen Gedächtnis bewahren. 
        Das hebräische Wort für Danken, Hodoth, habe eine andere Wurzel: 
        In erster Linie bedeute es "sich zu etwas bekennen". Buber formuliert: 
        "Wer dankt, bekennt sich zum Bedankten, er will sich fortan zu ihm 
        bekennen.. Sich so zu jemand bekennen heißt aber: ihn in seiner 
        Existenz bestätigen." 
        So will ich es mit meinem Dank für die Buber-Rosenzweig-Medaille 
        halten: Ihren Auftrag im Gedächtnis behalten und mich zu dem bekennen, 
        für das die Auszeichnung steht: Für den Dialog, für die 
        Versöhnung zwischen Juden und Christen in Deutschland und in der 
        Welt und für unsere Solidarität und Freundschaft mit dem Staat 
        Israel. 
        Ich danke Ihnen.  
        Quelle: DKR  
      
      
      
       
      
       
       
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