![](../../md2001/line.gif)
Joschka Fischer erhält Buber-Rosenzweig-Medaille
Laudatio von Paul Spiegel:
Präsident des Zentralrats der Juden in
Deutschland
Laudatio für Bundesaußenminister Dr. h. c. Joschka Fischer
Preisträger der Buber-Rosenzweig-Medaille 2003
Es sind zwei Ereignisse, die mir sofort in den Sinn kommen, wenn ich an
Joschka Fischer denke:
Da ist der Bundesaußenminister im vorletzten Jahr auf Visite in Israel.
Und ein unglücklicher Zufall will es, dass er Zeuge wird eines der
schrecklichsten Selbstmordattentate in Tel Aviv vor dem Dolphinarium, bei
dem zwanzig Jugendliche, die ganz einfach nur in die Diskothek wollten,
auf grausame Weise durch einen Selbstmordattentäter ermordet wurden.
Joschka Fischer begibt sich als einer der ersten unmittelbar nach dem Anschlag
zum Ort des schrecklichen Geschehens, um die Toten zu ehren, ihrer zu gedenken,
seiner Solidarität mit den Hinterbliebenen sichtbar Ausdruck zu verleihen.
Sein Gesicht spricht Bände: Es ist nicht das übliche, für
das Fernsehen aufgesetzte seriös-nachdenkliche Gesicht von Berufspolitikern,
wie man es leider nur all zu oft von so vielen offiziellen Gedenk- und Trauerfeiern
kennt. Nein, aus Mimik und Gestik des Bundesaußenministers sprechen
Entsetzen, Schock, Verzweiflung - und das tiefe Begreifen der Tragik des
Nahost-Konflikts, die er nun hautnah miterleben musste. Dieses Begreifen,
das den Menschen Joschka Fischer, nicht etwa den Grünen-Politiker,
nicht etwa den Außenminister Deutschlands erfasst, dieses Begreifen
um die Alltags-Dimension des Konflikts lässt Joschka Fischer nicht
ruhen, in jenen Tagen in einer Art Pendeldiplomatie das Schlimmste zu verhüten.
Und es gelingt ihm. Nicht erst seit jenen Tagen im Juni 2001 ist Joschka
Fischer ein angesehener und respektierter Vermittler zwischen den israelisch-palästinensischen
Fronten geworden. Doch spätestens seitdem hat der Bundesaußenminister
eine Position in Nahost, vor allem aber in Israel, errungen, die kein anderer
europäischer Politiker inne hat.
Das Mitleiden, das Mitfühlen der Angst, des Schmerzes, das Begreifen
der Wut, des Hasses beider Seiten machen Fischer zu einem überzeugenden
Mediator, dem niemand, nicht Sharon, nicht Arafat, Parteilichkeit vorwerfen
kann. Denn sein Einsatz für eine Lösung in Nahost ist nicht der
Versuch, Israel und/oder der Palästinensischen Autonomiebehörde
zu helfen, sondern den Menschen, hüben wie drüben.
Dabei lässt Joschka Fischer, der deutsche Nachkriegspolitiker, niemals
Zweifel daran, in welcher Verpflichtung er aufgrund der Geschichte seines
Landes steht. Seine Verantwortung für die Sicherheit Israels, für
das Existenzrecht des jüdischen Staates ist nicht nur Lippenbekenntnis
sondern aktive Tat. Und - es gelingt ihm, trotz dieser inneren Verpflichtung,
auch den Palästinensern als ehrlicher Makler zu dienen. Auch dafür
gebührt ihm die Ehrung des heutigen Tages, gerade wenn man an die Lehre
denkt der Namensgeber der Medaille, die Joschka Fischer heute erhält.
Denn Martin Bubers philosophischer Ansatz, mit dem "Du", mit dem
"Anderen", dem "Gegenüber" in Dialog zu treten,
seine Forderung, den Gesprächspartner in seiner gesamten Wesenheit
wahrzunehmen und als solches auch wirklich anzunehmen - das scheint Joschka
Fischers ganz selbstverständliches Credo zu sein in seinen Bemühungen,
Israel und den Palästinensern zu helfen, endlich in Frieden zu leben.
Es ist das Pech, sozusagen das "Künstlerpech", Joschka Fischers,
Außenminister "nur" der Bundesrepublik zu sein, also eines
Landes, dessen wirtschaftliche und diplomatische Möglichkeiten nicht
ausreichen, um im Nahen Osten Vorschläge, Ratschläge durchzusetzen
oder den Regierungen vor Ort gewisse Anreize für die Umsetzung seiner
Friedensvisionen anzubieten. Hinzu kommt: Joschka Fischer ist Außenminister
eines Landes, das auf dem europäischen Kontinent liegt. Und dieses
Europa, das sich in einem für die Menschheit einmaligen politischen
Akt bemüht, zu einer supranationalen Einheit und Identität zu
gelangen, ist in diesem Augenblick, wie wir alle täglich miterleben
können, in seinen nationalen Identitäten, Eitelkeiten und Interessen
ganz offensichtlich gespaltener und zerstrittener denn je. Insofern erscheint
Joschka Fischer vielen wie ein unglücklicher Don Quichotte, wenn er
immer wieder in den Nahen Osten reist und versucht, mit irgendwelchen greifbaren
Ergebnissen zurückzukommen. Die Zyniker, die Abgebrühten mokieren
sich: er solle nicht den großen Staatsmann spielen, er sei schließlich
nicht der Außenminister der USA, was will er dort eigentlich?
Doch Fischers unermüdlicher Einsatz für einen friedlichen Nahen
Osten, für die Sicherheit Israels, ist genau das, was wir Bürger
von Politikern doch stets einfordern: Jenseits von Zynismus und Kaltschnäuzigkeit
das Unmögliche versuchen, eben nicht die inhaltsleere Geschäftigkeit
des Berufspolitikers an den Tag zu legen, die uns Wählern großes
Engagement suggerieren soll, sondern sich, trotz aller Skepsis, trotz aller
Beschränkungen, glaubwürdig einzusetzen. Insofern ist Joschka
Fischer der Sisyphus des Nahen Ostens. Und Martin Buber hätte seine
helle Freude an diesem Realpolitiker voller Idealismus.
Ich sprach eingangs von zwei Ereignissen, die mir sofort einfallen, wenn
ich an Joschka Fischer denke. Seine Bewegtheit, seine persönliche Erschütterung
in Tel Aviv ist eines davon.
Das andere, für uns Juden in Deutschland ein ebenso wichtiges Ereignis:
Sein Artikel in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung", als die
sogenannte Antisemitismus-Debatte im vergangenen Jahr ihren ersten Höhepunkt
erreichte.
Sein Bekenntnis zur jüdischen Gemeinschaft in Deutschland, sein Engagement
gegen den Antisemitismus, der sich in zahlreichen Äußerungen
deutscher Politiker aus der so genannten Mitte der Demokratie offenbarte,
vor allem aber sein tiefes, feinfühliges Begreifen unserer psychologischen
Befindlichkeit, das ihn veranlasste, eindringlich davor zu warnen, die jüdischen
Bürger dieses Landes erneut allein zu lassen - dieses vehemente "J'accuse"
eines deutschen Politikers - das war das richtige Wort zur richtigen Zeit
am richtigen Platz vom richtigen Mann. Es stand im Raum der öffentlichen
Diskussion wie ein Monolith und beschämte fast die gesam-te politische
Klasse, die wenngleich kritisch gegenüber Möllemann, sich im Wahlkampf
doch offenbar lieber nicht so recht "outen" wollte, um potentielle
Wähler besser nicht zu verschrecken, und dabei konnte es sich wohl
nur um jene Wähler handeln, die als antisemitisch eingestellt galten.
Joschka Fischer interessierte das alles wenig. Er beherzigte, was die Gründergeneration
der Bundesrepublik immer als deutsches Mantra predigte: Aus der Vergangenheit
lernen! Joschka Fischer hat das getan. Er hat aus der Vergangenheit seines
Landes, aber auch aus seiner persönlichen Vergangenheit gelernt. Und
wir Juden, die wir nun doch allzu gut unterscheiden können zwischen
Anbiederung und ehrlicher Sympathie, zwischen Pose und Sensibilität,
haben in Joschka Fischer einen Freund, für den die Begriffe der französischen
Revolution: Gleichheit, Freiheit, Brüderlichkeit nicht leere Worthülsen
sind. Mit großem persönlichem Risiko versucht er diese Ideale
der Aufklärung umzusetzen.
Sein FAZ-Artikel beschämte all diejenigen, die uns sonst immer, in
sicheren, friedlichen Zeiten, mit salbungsvollen Worten zur Seite stehen.
Ich will jetzt nicht auf einzelne Gruppen eingehen, doch zumindest eine
mag ich hier nicht unerwähnt lassen. Denn es hat schon beinahe etwas
Tragikomisches, wenn ein Politiker, also ein Mensch, der einem Berufsstand
angehört, der allgemein nur noch gescholten, verhöhnt und beschimpft
wird, wenn also ein Politiker das tut, was man normalerweise von den Intellektuellen
eines Landes in solch einer Situation erwartet, ja erwarten muss.
Joschka Fischer ist ein Deutscher, dem es glaubhaft gelungen ist, aus der
schrecklichen Vergangenheit dieses Landes Lehren zu ziehen. Sein unermüdlicher
Einsatz für ein besseres Miteinander in der Bundesrepublik, sein überzeugender
Einsatz für eine bessere Welt, ein sicheres Israel, ein friedliches
Palästina, seine Treue und Verlässlichkeit gegenüber uns
jüdischen Menschen in Deutschland, lässt uns Nachgeborene erahnen,
wie einstmals das oft zitierte deutsch-jüdische Verhältnis, zumindest
in Teilen der Gesellschaft, vor der Shoa gewesen sein muss - oder wie es
hätte sein sollen. Und wie es auch künftig sein könnte und
sein sollte.
Denn es zeigt uns, was in diesem Land an positivem Potential möglich
ist, allerdings auch, wie viele Defizite in dieser Republik noch existieren
und was noch alles zu tun ist. Insofern ist Joschka Fischer wirkliches Vorbild,
denn er setzt Maßstäbe im Umgang zwischen jüdischen und
nichtjüdischen Deutschen, zwischen Deutschen und Israelis. Die Lehre
Franz Rosenzweigs und Martin Bubers hat er zutiefst verstanden und verinnerlicht.
Sie geht weit über das Jüdische hinaus. Es ist die Lehre eines
grenzüberschreitenden Humanismus, der Kraft, Mut und unermüdliche
Beharrlichkeit verlangt.
Joschka Fischer ist ein würdiger Preisträger der Buber-Rosenzweig-Medaille.
Wir alle sollten stolz und dankbar sein, dass er die verdiente Würdigung
für sein Tun erhält und annimmt.
Joschka Fischer
Bundesminister des Auswärtigen
Dankesrede anlässlich der Verleihung der Buber-Rosenzweig-Medaille
Ich bedanke mich für die Worte, die Sie, lieber Herr Spiegel soeben
gesprochen haben. Es ist für mich eine sehr große Ehre, heute
mit der Buber-Rosenzweig-Medaille ausgezeichnet zu werden. Berühmte
Preisträger, wie Isaac Bashevis Singer, Eugen Kogon, Yehudi Menuhin,
Friedrich Dürrenmatt, Lea Rabin, Bundespräsident Johannes Rau
und auch Richard von Weizsäcker verleihen dieser Auszeichnung einen
besonderen Rang. Die heutige Ehrung ist für mich aber auch gerade
deshalb etwas ganz besonderes, weil mit dem Namen der Medaille die Erinnerung
an zwei herausragende deutsche Intellektuelle jüdischen Glaubens
Verbunden ist.
Meine Damen und Herren,
wir erleben eine Zeit, in der die Frage einer drohenden Konfrontation
bis hin zu ihrer schlimmsten Form, nämlich des Krieges zwischen den
Kulturen und Religionen, wieder auf bedrückende Art und Weise aktuell
geworden ist. Der verbrecherische Terrorismus des 11. September 2001 hat
uns diese drohende Konfrontation ebenso vor Augen geführt wie die
uns fast täglich erreichenden furchtbaren Nachrichten über Terror
und Gewalt in Israel und den palästinensischen Gebieten. Angesichts
dieser aktuellen Drohung eines neuen, mit terroristischen Mitteln geführten
Religionskrieges, angesichts auch der Gefahr des islamistischen Totalitarismus
eines Osama bin Laden und anderer Gruppen, gewinnt die Idee einer interreligiösen
Zusammenarbeit eine bedrückende und doch auch zugleich Hoffnung stiftende
Aktualität.
Die Idee der "christlich jüdischen Zusammenarbeit" bekommt
durch die aktuellen Krisen seit dem 11. September etwas überaus Paradigmatisches
und zugleich aktuell Politisches. Diese Idee gründet auf dem Dialog
und ist deshalb schon von ihrem Wesen her antitotalitär. Sie gründet
auf dem gegenseitigen Verständnis, auf dem Wissen nicht nur um die
jeweils eigene Religion und Kultur, sondern auch um die des Anderen, des
Gegenüber. Sie achtet im Dialog und Verständnis die Unterschiede
in Glauben und Tradition, und gerade deshalb verachtet sie zutiefst Gewalt,
Unrecht und Unterdrückung im Namen des jeweils Einen Gottes.
Martin Buber und Franz Rosenzweig versinnbildlichen in ihren Personen
und in ihrem Werk diese großartige Idee des religiösen Dialogs
und der Toleranz im Deutschland der Vorkriegszeit. Und zumindest Buber
musste das Scheitern dieser Idee der christlich-jüdischen Zusammenarbeit,
des Neben- und Miteinander von jüdischer und christlicher Kultur
in Deutschland mit der Machtergreifung der Nazis und ihres massenmörderischen
Antisemitismus auf furchtbare Weise selbst miterleben.
Judentum, Christentum und Islam - all diese großen Weltreligionen
sind monothestische Religionen, glauben also an den Einen Gott. Und ihr
Glauben gründet auf Sein Wort, auf das Buch also. Das Judentum ist
die älteste dieser drei monotheistischen Buchreligionen. Judentum
und Christentum, das sind auch Altes und Neues Testament, Altes und Neues
Buch. Buber und Rosenzweig haben ihr Leben als Gelehrte den Büchern
und ihrem Verständnis und ihrer immer wieder neu zu erschließenden
Auslegung gewidmet. Sie wussten um das Besondere in den Beziehungen zwischen
dem Judentum und dem Christentum in der deutschen Kultur. Und auch der
mörderische Antisemitismus der Nazis wusste dies. Es sollte entsetzliche
Folgen haben.
"Dort, wo man Bücher verbrennt, verbrennt man auch am Ende Menschen,"
wusste bereits Heinrich Heine in seiner Tragödie Almansor, auch wenn
er dabei an die Schrecken der spanischen Reconquista dachte, und nicht
an den tödlichen Antisemitismus der Nazis. 1933 geschah es gewiss
nicht von ungefähr, dass die nationalsozialistische Barbarei mit
der Bücherverbrennung begann. Der Antisemitismus Hitlers und der
Nazis führte seine Blutspur über die schändlichen Nürnberger
Rassegesetze, über die Pogrome des 9./10. November 1938 hin zur Shoah,
dem Völkermord an den deutschen und europäischen Juden.
Dies alles geschah in Deutschland und durch Deutsche. Dies alles ereignete
sich in der Mitte Europas, in aller Öffentlichkeit. Und dies geschah
nur wenige Jahre nachdem Buber und Rosenzweig ihre Gedanken über
das Verbindende zwischen Neuem und Altem Buch veröffentlicht hatten.
Die nach 1945 wieder aufgenommene Idee der christlich-jüdischen Zusammenarbeit
musste völlig neu beginnen. Ein Wiederanknüpfen war nicht mehr
möglich, denn das mörderische Zerstörungswerk der Nazis
hatte zu gründlich gewirkt. Das deutsche Judentum war bis auf wenige
Ausnahmen - Überlebende aus den Ghettos und Lagern oder aus dem Untergrund
und zurückkehrende Emigranten - vertrieben oder ermordet worden und
mit ihm auch jene lebendige und reiche Kultur Deutschlands, die ohne ihre
jüdischen Wurzeln und Beiträge bis 1933 einfach nicht vorstellbar
war.
Dennoch! Ein ganz entschiedenes DENNOCH stand an jenem Neubeginn! Denn
die Mörder, die Nazis und Antisemiten durften auch in ihrer totalen
Niederlage den Sieg nicht davontragen. Und genau dieses wäre geschehen,
wenn nach der Katastrophe 1945 jüdisches Leben in Deutschland völlig
erloschen wäre. Genau diese Erkenntnis hat einen Mann wie Heinz Galinski,
Jude, Deutscher, Berliner und ein Überlebender der Hölle von
Auschwitz dazu gebracht, die jüdische Gemeinde zu Berlin und den
Zentralrat der Juden in Deutschland erneut zu gründen. Der Neubeginn
jüdischen Lebens in Deutschland, so schwer das den wenigen Überlebenden
und Rückkehrer und ihren Familien zu Beginn auch gefallen ist, war
der Sieg über den nationalsozialistischen Antisemitismus.
Und bis auf den heutigen Tag gilt, dass die Frage, wie sicher und, ja,
vielleicht auch wie zuhause sich deutsche Juden und ihre Gemeinden in
unserem Land fühlen, die entscheidende Frage für die Stärke
und die Stabilität unserer Demokratie ist und bleibt.
Wir können uns das unfassbare Verbrechen der Ermordung und Vertreibung
der deutschen Juden durch die Nazis nicht oft genug in Erinnerung rufen.
Und dies nicht nur, wegen der moralischen und historischen Verantwortung
unseres Landes für dieses Menschheitsverbrechen, sondern auch und
gerade, weil es die Erinnerung an uns selbst ist. An unser kollektives
Wir, das durch Hitler und seine Verbrechen nachhaltig verstümmelt
wurde.
Es waren Deutsche, Landsleute, die durch den deutschen Staat und die damalige
Mehrheit, ausgegrenzt, entrechtet, gedemütigt, enteignet, vertrieben
und schließlich ermordet wurden. Martin Buber war einer von ihnen.
Mit der Vertreibung und Ermordung der deutschen Juden hat Deutschland
einen wesentlichen Teil seiner kulturellen Identität dauerhaft zerstört,
und diese Wunde schmerzt bis in die Gegenwart.
Gewiss, die deutsche Demokratie blickt auf mehr als fünf Jahrzehnte
beeindruckender Leistungen und einer nachhaltigen Stabilität zurück.
Deutschland ist heute, trotz aller Mängel, die es zu überwinden
gilt, ein offenes Land, eine europäisch integrierte Demokratie, ein
unerschütterlicher Rechtsstaat mit einer starken Zivilgesellschaft.
Und dennoch: Was wäre unser Deutschland für ein wunderbares
Land, um wie viel reicher wäre es, um wie viel beeindruckender, wenn
Albert Einstein und Martin Buber geachtet und respektiert an deutschen
Universitäten weiterforschen hätten können! Wenn Alfred
Kerr und Lion Feuchtwanger in Berlin oder München weiterschreiben
hätten können! Wenn Ernst Lubitsch, Fritz Lang oder Joseph von
Sternberg nicht nach Amerika hätten emigrieren müssen! Wenn
all die vielen anderen unserer jüdischen Landsleute, die Bekannten
und Unbekannten und ihre Kinder und Enkelkinder nicht vertrieben oder
ermordet worden wären!
Gerade in Berlin, dem einstigen Zentrum jüdischen Lebens in Europa,
wird mir dieser Verlust in und für Deutschland immer wieder bewusst.
Die geistige und kulturelle Blüte der Stadt seit der Aufklärung
wurde hier ganz wesentlich von deutschen Juden mitbegründet und gestaltet.
Namen wie Moses Mendelsohn, Rahel Varnhagen, Henriette Hertz bis hin zu
Max Liebermann prägten über Generationen hinweg ihre intellektuelle
und kulturelle Vielfalt. Aber selbstverständlich sei auch mein geliebtes
Frankfurt am Main dabei nicht vergessen, der Stadt von Martin Buber.
Aber auch bei dieser Erinnerung lässt uns die Abgründigkeit
unserer Geschichte nicht los. Berlin ist die Stadt, in der der Holocaust
geplant, organisiert und befohlen wurde. Hier war das Machtzentrum von
Hitlers rassistischem Größenwahn, der den Tod von sechs Millionen
deutscher und europäischer Juden planvoll und rücksichtslos
ins Werk setzte.
Und bis heute ist diese Kernfrage unserer Geschichte nicht wirklich beantwortet
- trotz vieler kluger und umfänglicher Analysen und Bücher zu
diesem Thema: Wie konnte es geschehen? Warum? Und weshalb gerade hier,
in Deutschland? Bei uns?
Seit der Aufklärung und spätestens seit der französischen
Revolution gab es Anlas zur Hoffnung, dass die Juden Europas als gleichberechtigter
Teil der Bevölkerung aufgenommen würden. Die mühsam erreichte
Emanzipation führte gerade in Deutschland zu einer großen Assimilationsbewegung.
Im Gefolge der Großen Französischen Revolution und des Völkerfrühlings
der Freiheit waren die Mauern der Ghettos nahezu überall niedergelegt
worden. Fortan nahmen die Juden gleichberechtigt am öffentlichen
Leben teil und setzen auf die volle Integration in die sich überall
in Europa herausbildenden Nationalstaaten, als Staatsbürger mit allen
Rechten und Pflichten.
Vor sechzig Jahren wurde diese Hoffnung auf ein gleichberechtigtes Miteinander
auf brutale Weise zerstört. Deutschland beantwortete die Zuneigung,
ja - es ist ein großes Wort, aber Ralph Giordano hat es in seiner
bewegenden Rede am letzten 9. November in Berlin zurecht ausgesprochen
- die Liebe seiner jüdischen Bürger mit einem beispiellosen
Verbrechen, mit dem größten Völkermord in der jüdischen
Geschichte.
Die Gründung des Staates Israel ist auch eine Antwort auf den Judenhass
und den Völkermord des Nationalsozialismus. Aber sie ist auch die
Folge eines allgemeinen europäischen Versagens seit der zweiten Hälfte
des 19. Jahrhunderts. Der Zionismus Theodor Herzls, die Idee von einem
eigenen Staat für die Juden in Palästina, die jüdische
Nationalbewegung also, war eine Reaktion auf den in der zweiten Hälfte
des 19. Jahrhunderts immer gefährlicher aufkommenden Antisemitismus
gewesen. Diese jüdische Nationalbewegung war auch ein Ergebnis des
Scheiterns der Emanzipation und Integration der jüdischen Minderheiten
in vielen europäischen Nationalstaaten.
Europa und vor allen Dingen Deutschland muss sich der Verantwortung für
seine Geschichte stellen, und d.h. dass wir immer ein aus historischer
und moralischer Verantwortung begründetes Sonderverhältnis zum
Staat Israel haben müssen und haben werden. Dies bedeutet ein klares
Bekenntnis zu dem Existenzrecht Israels als jüdischem Staat und zu
dem Recht seiner Bürgerinnen und Bürger, in Frieden und Sicherheit
und ohne Angst vor Terror leben zu können.
Dieses Sonderverhältnis zwischen Deutschland und Israel ist ein Fundament
deutscher Außenpolitik und damit unabhängig von tagesaktuellen
politischen Konstellationen. Es fordert gerade in schwierigen Zeiten unsere
Solidarität. Israel kann sich auf Deutschland als Partner verlassen,
das gilt heute ebenso wie in Zukunft.
Nach wie vor wird das Existenzrecht Israels in Frage gestellt. Nach wie
vor herrschen Terror und Gewalt im Nahen Osten. Ich selbst habe auf vielen
Reisen in die Region erfahren, welchen Schrecken und welches Leid der
Terrorismus in Israel anrichtet. Terror und Gewalt dürfen sich nicht
durchsetzen, niemals. Kämpfen müssen wir um einen wirklichen
Frieden, der beiden Völkern endlich ein Nebeneinander ohne Gewalt
in einer stabilen Region sichert.
Auf beiden Seiten in diesem tragischen Konflikt sterben unschuldige Menschen
oder werden schwer verstümmelt und verletzt. Das Leid der betroffenen
Familien findet sich auf beiden Seiten. Zudem erfüllt mich die humanitäre
Lage in den palästinensischen Gebieten mit tiefer und wachsender
Sorge.
Der Friede im Nahen Osten ist für uns alle von entscheidender Bedeutung,
auch und gerade wenn wir von unserer Sicherheit sprechen Ich bin überzeugt,
dass man diese Krise nicht mit militärischen Mitteln, sondern nur
mit einem politischen Kompromiss wird lösen können. Freilich
muss dieser Frieden auf Sicherheit gründen, sonst wird es ihn niemals
geben.
Frieden ist nur dann erreichbar, wenn die Menschen nachbarschaftlich und
im gegenseitigen Respekt voreinander zusammenleben. Wir müssen alle
Anstrengungen unternehmen, die dem Staat Israel und seiner Bevölkerung
ein sicheres Leben garantiert und gleichzeitig den Palästinensern
eine wirkliche Perspektive eröffnet. Die dauerhafte Lösung des
Konflikts liegt in zwei unabhängigen, demokratischen Staaten, die
nachbarschaftliche Beziehungen unterhalten und in gemeinsamer Sicherheit
verbunden sind.
Die internationale Gemeinschaft muss jetzt alles daran setzen, damit der
Weg hin zu dieser Zwei-Staaten-Lösung beschritten werden kann. Die
Vorschläge dazu liegen in Gestalt einer "road map" auf
dem Tisch. Die USA aber auch Europa sind dabei besonders gefordert. Denn
dieser Ansatz verspricht positive Auswirkungen auf die gesamte Region
des Nahen und Mittleren Osten. Ohne internationale Hilfe wird sich ein
Fortschritt oder gar ein Durchbruch im Nahostkonflikt jedoch nicht verwirklichen
lassen.
Aus all diesen Gründen werde ich mich weiterhin mit aller Kraft dafür
einsetzen, dass Terror und Gewalt sich nicht durchsetzen werden, dass
Israels Sicherheit dauerhaft gesichert wird, dass auch das Leid der Palästinenser
ein Ende findet und sie ihre legitime Forderung nach einem eigenen Staat,
der friedlich an der Seite Israels lebt, umsetzen können, und dass
deshalb der Friedensprozess zwischen Israel und den Palästinensern
wieder in Gang kommt.
Dies ist mir ein ganz persönliches Anliegen und es bleibt ein zentraler
Bestandteil unserer Außenpolitik. Dass Sie mir heute die Buber-Rosenzweig-Medaille
verleihen, betrachte ich auch als einen Auftrag, mich weiter mit aller
Kraft für diesen Frieden zwischen Israel und den Palästinensern
zu engagieren.
Meine Damen und Herren,
Schließlich hat sich kein anderer als Martin Buber selbst für
die Notwendigkeit zu einer Verständigung und friedlichen Koexistenz
zwischen Juden und Arabern eingesetzt. Auch wenn uns heute seine Vision
eines konföderativen Staates Israel-Palästina sehr fern scheint
- die politischen Notwendigkeiten hat er mit großer Klarheit gesehen.
Franz Rosenzweig starb 1929 im Alter von 43 Jahren. Sein früher Tod
bewahrte ihn vor der schrecklichen Zeit, in der das jüdische Geistesleben
in Deutschland unwiederbringlich vernichtet wurde. Martin Buber konnte
glücklicherweise 1938 nach Israel fliehen. Von Jerusalem aus musste
er aber mit ansehen, wie die Nazis den jüdischen Teil der deutschen
Bevölkerung und der anderer europäischer Staaten systematisch
ausrotteten. Er musste verfolgen, wie ein jahrtausendalter, wesentlicher
Pfeiler deutschen und europäischen Geisteslebens in wenigen Jahren
zerstört wurde.
Vor diesem Hintergrund war es eine beeindruckende Geste, dass Buber schon
zu Beginn der fünfziger Jahre nach Deutschland reiste. Als einer
der ersten differenziert er zwischen individueller Schuld und kollektiver
Verantwortung. In seiner großen Rede anlässlich der Verleihung
des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels hat er dies überzeugend
dargelegt. Wie kein anderer in dieser Zeit hat er dem neuen, demokratischen
Deutschland die Hand zur Versöhnung gereicht. Es kann uns nicht erstaunen,
dass er sich deshalb in Israel harscher Kritik ausgesetzt sah.
Die Beschäftigung mit Martin Buber macht uns immer wieder schmerzhaft
bewusst, dass eine Folge des Holocausts auch der Verlust des Wissens um
den jüdischen Glauben und seine Traditionen in Deutschland war. Was
vor dem Krieg in fast jeder deutschen Stadt selbstverständlich war
und zur Erfahrungswelt buchstäblich eines jeden Kindes gehörte,
wurde schlagartig ausgelöscht. Früher gingen die Schüler
auf ihrem Schulweg an den Synagogen ihrer Städte vorbei. Ich fürchte,
heute ist den wenigsten Schülern in unserem Land geläufig, was
eine Synagoge ist.
Dass sich in den letzten Jahren in vielen deutschen Großstädten
jüdisches Leben wieder wächst, stimmt hoffnungsvoll. Die Gemeinden
werden größer und es öffnen jüdische Geschäfte,
Restaurants, und Bildungsstätten. Der Zuzug von Juden aus der ehemaligen
Sowjetunion spielt dabei eine wichtige Rolle. Ich weiß, dass diese
Entwicklungen die jüdischen Gemeinden mitunter auch vor Probleme
stellen. Und es wäre gewiss eine Illusion zu glauben, dass das jüdische
Leben im Deutschland der Vorkriegszeit wiedererstehen könnte.
Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang ein Wort zum Engagement der 79
Gesellschaften für christlich-jüdische Zusammenarbeit in Deutschland
und ihrer 20.000 Mitglieder und Freunde sagen. Seit Jahrzehnten arbeiten
sie ehrenamtlich für Verständigung und Versöhnung. Sie
haben durch ihre Arbeit mit den jüdischen Gemeinden, durch ihre Kontakte
mit Emigranten in der ganzen Welt und durch ihre Veranstaltungen wesentlich
zu einem Deutschlandbild beigetragen, dass von Offenheit, Hilfsbereitschaft,
Interesse und historischer Verantwortung geprägt ist. Ihre Mithilfe
war bei der Gründung und beim Aufbau vieler jüdischer Gemeinden
in Ostdeutschland nach der Vereinigung wesentlich. Auch ihre Unterstützung
bei der Integration der neuen Mitglieder aus der ehemaligen Sowjetunion
kam für viele jüdische Gemeinden sehr gelegen. Für die
christlich-jüdischen Verständigung leisten sie bis heute vieles,
was der Staat nicht leisten kann. Sie sind ein ganz wichtiger Teil der
deutschen Zivilgesellschaft. Vom Koordinierungsrat der Gesellschaften
heute ausgezeichnet zu werden, ist für mich daher eine besondere
Ehre.
In einem Brief an Theodor Heuss vom Februar 1963 schreibt Martin Buber
über die Herkunft des Wortes Dank. Etymologisch hänge das deutsche
Danken' mit Denken' zusammen. Wer danke, erkläre dem
Angesprochenen, er werde ihn im freundlichen Gedächtnis bewahren.
Das hebräische Wort für Danken, Hodoth, habe eine andere Wurzel:
In erster Linie bedeute es "sich zu etwas bekennen". Buber formuliert:
"Wer dankt, bekennt sich zum Bedankten, er will sich fortan zu ihm
bekennen.. Sich so zu jemand bekennen heißt aber: ihn in seiner
Existenz bestätigen."
So will ich es mit meinem Dank für die Buber-Rosenzweig-Medaille
halten: Ihren Auftrag im Gedächtnis behalten und mich zu dem bekennen,
für das die Auszeichnung steht: Für den Dialog, für die
Versöhnung zwischen Juden und Christen in Deutschland und in der
Welt und für unsere Solidarität und Freundschaft mit dem Staat
Israel.
Ich danke Ihnen.
Quelle: DKR
zur
Titelseite
zum Seitenanfang
|
|