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      Wir sind alle Kinder Hitlers 
        Rafael Seligmann erinnert sich an seine Jugendzeit unter latentem Antisemitismus 
        Über die anhaltende Schockstarre der Angst unter Juden in Deutschland
       
        Deutschlands Juden, meint Rafael Seligmann, flößten ihren Kindern 
        "Antisemitismuspanik" ein; viele verleugneten ihre Identität, 
        die Religionszugehörigkeit. Und sie seien unfähig, Gefühle 
        des Schmerzes und der Verletzung preis zu geben, sich widerborstig zu 
        zeigen gegen billige Versöhnungswilligkeit und Anbiederei. Seligmann 
        hat diese Befunde verknüpft mit seiner persönlichen Kindheit 
        und Jugend; von seiner eigenen Geschichte hat er vor wenigen Tagen im 
        Rahmen der jüdischen Kulturwoche in Berlin erzählt. "Wir 
        alle sind Kinder Hitlers. Das gibt uns auf, uns gemeinsam aus seinem Bann 
        zu befreien". Wir dokumentieren den Vortrag unwesentlich gekürzt. 
        Seligmann, 1947 in Tel Aviv geboren und 1957 mit seinen Eltern nach Deutschland 
        gekommen, ist Journalist und Schriftsteller. 
       
        Was kann man schon von einem Juden erwarten, bei dessen Beschneidung Adolf 
        Hitler Pate stand? 
        Wie kam der Führer zu meiner Brith Mila? Trug er dabei eine Kippa? 
        War Hitler ein verkappter Judenfreund, der seinen Selbsthass auf unser 
        ausgewähltes Volk projizierte? Es ist bekannt, dass der Obdachlose 
        Adolf Hitler zur gleichen Zeit in Wien seine Postkarten malte wie Sigmund 
        Freud seine Psychoanalyse entwickelte. 
        Adolf Hitler war nicht persönlich auf meiner Brith Mila zugegen. 
        Er sah nicht, wie mir am achten Tag ins Fleisch geschnitten und ich damit 
        in den ewigen Bund der - vorhautlosen - Juden mit Gott aufgenommen wurde. 
        Und doch war der Führer selbstverständlich an dem milden Herbsttag 
        des 21. Oktober 1947 in der Tel Aviver Bëit-Jehuda-Synagoge zugegen. 
        Er war präsenter als Rabbiner Jonathan Rubinstein und Mohel Nachmann 
        Lewi, der mit ruhiger Hand den Zugriff gegen meinen Schmock vornahm, mein 
        aufgeregt-stolzer Vater Ludwig und zwei Dutzend Gäste, die diesen 
        kleinen Sieg unseres Volkes über seine deutschen Häscher feierten. 
        Trotz objektiver Abwesenheit durch vorzeitigen Tod war Adolf Hitler damals 
        wie heute allgegenwärtig auf jeder jüdischen Zeremonie, weil 
        er sich in die Seelen seiner Opfer, ihrer Kinder und Kindeskinder gebrannt 
        hat wie zuvor seine Henkersknechte die Todesnummern in die Unterarme ihrer 
        Opfer tätowieren ließen. Die blauen Judennummern werden sie 
        nie wieder freigeben. Und nicht nur sie alleine. 
        Adolf Hitler aber war auf meiner Brith Mila nicht allein als virtueller 
        Sandak aktiv. Der Führer hatte meine Eltern bereits vierzehn Jahre 
        vor meiner Geburt durch seine Machtübernahme auf den Pfad ihrer späteren 
        Ehe geschickt.  
        Mein Vater Ludwig, ein vom Glück verwöhnter Tor, suchte damals 
        im schwäbischen Städtchen Ichenhausen, nahe Günzburg, wo 
        zwei Jahre nach ihm der Fabrikantensohn Josef Mengele das Licht der Welt 
        erblickte, Arbeit als Kaufmannsgehilfe. Da erhielt Ludwig Nachricht von 
        seinem Schulfreund Karl Seiff, der soeben seine Karriere als Polizist 
        begann, dass er im folgenden Morgengrauen wegen Rassenschande, begangen 
        zulasten seiner Geliebten Therese P., in SA-Gewahrsam verbracht werden 
        sollte. Karl Seiff erläuterte meinem Vater, dass diese Verbringung 
        sein vorzeitiges Ende bedeuten könnte. Also begab sich Ludwig gemeinsam 
        mit seinem Bruder Heinrich, dem ein ähnliches Schicksal angedroht 
        wurde, auf die Reise nach Jerusalem. Doch von diesem Ziel ahnten die Brüder 
        Seligmann damals noch nichts. Sie mochten und fuhren vielmehr nach Paris. 
         
        Anders als Papa Hemingway feierten die Seligmann-Brüder an der Seine 
        kein Fest fürs Leben. Die Behörden in der französischen 
        Hauptstadt mochten den Judenbengeln aus Deutschland kein Asyl gewähren. 
        Ebenso wenig wie später die Flics in den elsässischen Dörfern, 
        wo Heinrich und Ludwig sich bei Bauern als Knechte verdingten. Also blieb 
        den Brüdern keine andere Wahl, als sich nach Palästina abzusetzen. 
        Die Nazis und die französischen Behörden machten sie zu praktizierenden 
        Zionisten.  
        In Palästina begegnete Ludwig Seligmann ein halbes Dutzend Jahre 
        nach seiner Anlandung in der arabischen Hafenstadt Japho Hannah Schechter. 
        Die Berlinerin lebte ebenfalls seit 1934 im zukünftigen Judenstaat. 
        Hannahs Lebensweg glich seit ihrer Kindheit einer Halskette, deren Naturperlen 
        Katastrophen waren. 
        Das Mädchen wurde 1905 im galizischen Flecken Njisco am Fluss San, 
        einem Seitenarm der Weichsel, geboren. Als Hannah vier Jahre alt war, 
        starb ihr Vater Meir. Seine Witwe Malka führte die gepachtete Gaststube 
        weiter; ihre älteren Kinder hatten sich längst in alle Himmelsrichtungen 
        und Länder zerstreut. Im Herbst 1914 griff die zaristische Armee 
        das k.u.k.-Land an. Eine russische Granate verirrte sich in den Keller 
        des Gasthauses, wo Malka Schechter mit ihrer Familie Schutz gesucht hatte. 
        Ihr Sohn Saul, seine Frau Isa sowie ihre Kinder Nathan, Rosa und Rachel 
        waren auf der Stelle tot. Malka hatte keine Zeit, sie zu beweinen. Stattdessen 
        erstickte sie die Flammen, die Hannahs Haare und Kleider zu verbrennen 
        begannen. Nachdem ihre galizische Existenz so vernichtet worden war, zog 
        Malka Schechter mit Hannah zu ihrer älteren Tochter Sima. Diese lebte 
        mit ihrem Mann Awraham und sechs Kindern im Scheunenviertel Berlins. Malka 
        und ihr jüngstes Kind wurden in eine Ecke der Zweizimmerwohnung gequetscht. 
        Hannah musste in der Schule Deutsch lernen, was ihr nicht schwer fiel, 
        da sie in Polen vor allem Jiddisch gesprochen hatte. Bereits nach wenigen 
        Monaten war Hannah wie zuvor in Njisco Klassenbeste. Ihr Lehrer verwarnte 
        sie nur halb im Scherz: "Ihr Juden seid einfach zu schlau für 
        uns Deutsche." 
        Doch alle Schläue blieb vergebens. Hannah musste nach der achten 
        Klasse die Schule verlassen. Während die Kinder von Awraham und Sima 
        Goldmann aufs Gymnasium geschickt wurden, hatte Hannah eine Schneiderlehre 
        zu absolvieren. Ihre Mutter tröstete sie: "Sei froh, dass du 
        in dieser furchtbaren Zeit, in der das Geld des Morgens abends nichts 
        mehr wert ist, Arbeit hast, ein Dach über dem Kopf und einigermaßen 
        satt wirst." Malka nahm ihr Töchterchen in den Arm: "Wenn 
        über kurz oder lang mit der Hilfe des Ewigen die Inflation vorbei 
        sein wird, will dein Bruder aus Polen nach Berlin ziehen. Aaron ist ein 
        guter Sohn und ein tüchtiger Kaufmann. Wenn er bei uns ist, wird 
        es uns bald besser gehen. Dann werden wir uns eine eigene Bleibe leisten 
        können." 
        Der Herr der Welten vernahm Malka Schechters Gebet, doch ehe er es erhörte, 
        ließ er sie sterben. Die 17-jährige Hannah war nun auf Gedeih 
        und Verderb ihrer Schwester Sima ausgeliefert. Diese ließ nun ungehemmt 
        ihren Groll an dem verwöhnten Nesthäkchen aus. Simas Missmut 
        schlug in Hass um, als sie erkennen musste, dass ihr Gemahl Awraham zunehmend 
        Gefallen an ihrer grazilen, fünfzehn Jahre jüngeren Schwester 
        fand. Das Geflecht aus Eifersucht, Begehren, Angst und Hass schaukelte 
        sich rasch hoch. Es überschlug sich in Hannahs Vergewaltigung durch 
        ihren Schwager. Die Tat blieb ungeahndet, da ihre Anzeige das Opfer mehr 
        noch als den Täter aus dem Getto der ostjüdischen Gemeinde Berlins 
        verbannt hätte. Das gab Awraham die Möglichkeit, der körperlichen 
        Vergewaltigung die psychische folgen zu lassen. Hannah wurde die heimliche 
        Geliebte ihres Schwagers. Das Verhältnis hatte erst ein Ende, als 
        Hannah schwanger wurde.  
        Eine Hebamme nahm eine rabiate Abtreibung vor. Danach wagte es Hannah, 
        sich ihrem nach Berlin zugezogenen Bruder anzuvertrauen. Aaron drohte, 
        den Schwager umzubringen. Hannah hatte Mühe, den rasenden Bruder 
        von einer Gewalttat abzuhalten. Dessen versöhnliches Naturell, vor 
        allem aber Aarons wirtschaftliche Abhängigkeit taten ein Übriges: 
        Awraham stellte den Schwager als Lagerverwalter seiner reüssierenden 
        Kartonagenfabrik ein. 
        Die Goldenen Zwanziger hoben an. Ein Abglanz ihres Leuchtens erhellte 
        auch Hannahs Dasein. Sie beendete ihre Lehre, fand als Schneidergehilfin 
        ein bescheidenes Auskommen. Bruder Aaron wurde Textilvertreter und verdiente 
        dank seines Verkaufstalentes bald gut. Die Geschwister mieteten sich eine 
        Dreizimmerwohnung im bayerisch-jüdischen Viertel Schönebergs. 
        Aaron verliebte sich in die Directrice Ottilie Klein. Das attraktive Paar 
        amüsierte sich bei Tanzturnieren und anderswo. Hannah dagegen suchte 
        Anschluss im Zionistischen Jugendverband. Doch bald verschlang die Depression 
        der Dreißiger das Licht der kurzen guten Vorjahre. SA-Stiefel stampften 
        mit unruhigem Tritt über die Alleen der Hauptstadt. Gauleiter Josef 
        Goebbels und sein Meister Hitler brüllten ihren Hass hinaus: "Die 
        Juden sind unser Unglück!" Immer mehr Deutsche glaubten ihnen. 
        Die anschwellenden braunen Kolonnen geiferten: "Wenn's Judenblut 
        vom Messer spritzt!" 
        Hannah verlor ihre Stelle. Ihr Bruder sein Einkommen. Die Geschwister 
        berieten über ihre Zukunft. Hannah wollte unbedingt nach Palästina. 
        Aaron mochte Europa nicht verlassen. Die von ihm geschwängerte Ottilie 
        drängte ihn zur Heirat. Weigere Aaron sich, warnte sie ihn, ihn bei 
        der SA zu denunzieren. Sie beließ es nicht bei der Drohung. Aaron 
        wurde von einem braunen Trupp krankenhausreif geschlagen. Unmittelbar 
        nach seiner Entlassung aus der Klinik packte er seine Habseligkeiten und 
        floh zurück nach Polen. Hannah, die den polnischen Antisemiten noch 
        mehr misstraute als den Deutschen, sah keinen Ausweg, als ihren zionistischen 
        Traum zu verwirklichen, und reiste nach Palästina. Da die Engländer 
        ihr die legale Einwanderung ins Judenparadies verwehrten, verbrannte sie 
        ihre deutschen Papiere. Die Zionisten versorgten Hannah mit gefälschten 
        Dokumenten. Dabei erfüllten sie die Bitte der jungen Einwanderin, 
        sie acht Jahre jünger zu schreiben und damit ihre Aussichten als 
        Heiratskandidatin aufzubessern. Die List half. 
        Wenige Monate nach Beginn des Weltkrieges lernen sich Ludwig und Hannah 
        im Café Mougrabi in Tel Aviv kennen. Bald waren sie ein Paar und 
        priesen den Zufall ihrer Bekanntschaft. Sie wagten sich nicht einzugestehen, 
        dass der Zufall den südostdeutschen Namen Hitler trug. Ohne den Zusammen-Führer 
        wäre Hannah in Berlin geblieben und Ludwig höchstens bis nach 
        Ulm gelangt, wo er seine Kaufmannslehre absolviert hatte. 
        Als Hannah und Ludwig im Juni 1940 in Jerusalem heirateten, sprach die 
        Hochzeitsgesellschaft vorwiegend vom deutschen Blitzsieg über Frankreich. 
        (. . .) 
        Manche Deutsche hatten derweil Schlechteres zu tun. Beispielsweise Hans 
        Ruzweit. Ottilies Mann machte nach 1934 Karriere in der SS. Nach der Eroberung 
        Polens begab sich der Sturmbannführer nach Lodz, wo er Aaron Schechter 
        vor den Augen seiner Frau Esther erschoss. Neben Eifersucht und Judenhass 
        leitete ihn kalte Berechnung. Durch die Ermordung Aarons beseitigte er 
        den Vater seines Adoptivsohnes Erich und damit den Beweis seiner jüdischen 
        "Versippung". Doch von diesem Geschehen ahnte damals noch niemand 
        in Palästina - und so verdunkelte kein Entsetzen die Hochzeit Hannahs 
        und Ludwigs.  
        Sieben Jahre später wurde ich geboren. Mein Pate war da bereits mitsamt 
        seinem Tausendjährigen Reich in Rauch aufgegangen ebenso wie Millionen 
        seiner Opfer. Doch die Angst vor dem Mörder wirkte so stark nach, 
        dass meine Eltern nicht wagten, mich gemäß der Sitte nach meinem 
        dahingegangenen Großvater Isaak zu nennen. Isaak heißt hebräisch 
        Jitzchak, was bedeutet, er wird lachen. Doch Ludwig und Hannah Seligmann 
        war das Lachen vergangen. Sie befürchteten, dass man mich eines Tages, 
        wenn Deutschland und dessen Judenfeinde wieder erstarkten, als Jude Itzig 
        verspotten könnte. Man würde wieder wie einst den alten Vers 
        brüllen: "Jude Itzig, Nase spitzig, Beine heckig, Arschloch 
        dreckig!" 
        Also wurde ich Rafael geheißen. Der Name Jitzchak wurde schamvoll 
        auf den zweiten Rang verwiesen. Doch der britische Kolonialbeamte vergaß 
        nicht, in meiner Geburtsurkunde die Nationalität meiner Eltern hervorzuheben: 
        "Germans". 
        Ein halbes Jahr nach meiner Geburt wurde der Judenstaat proklamiert. Er 
        verdankt ebenso wie ich seine Existenz Hitler und seinen allzu willigen 
        Helfern in Deutschland, Europa und Arabien. Denn ohne das große 
        Judenschlachten der Nazis hätte sich, ebenso wie meine Eltern aus 
        Berlin und Ichenhausen, auch kaum ein vernünftiger Jude aus seinem 
        arabischen Heimatland ins unwirtliche Palästina aufgemacht. 
        Nach wenigen Aufbaujahren geriet Israel wieder einmal in eine Existenzkrise. 
        Die Ökonomie war kaum in der Lage, die überlebenden Juden und 
        die vertriebenen Hebräer aus Arabien und Europa aufzunehmen und zu 
        integrieren. So gerieten zwangsläufig auch meine Eltern in Bedrängnis. 
        Wir hatten kaum zu essen. In ihrer Not besannen sich Ludwig und Hannah 
        ihrer einstigen Heimat. In Deutschland würde man, anders als in Israel, 
        über die Runden kommen. Aber durften sie ins Naziland zurückkehren, 
        dessen Krematorien kaum abgekühlt waren und dessen Erde von den Schreien 
        der jüdischen Opfer nachhallte? Meine Eltern wagten es nicht.  
        Doch ihre zionistischen Anverwandten, allen voraus Awraham Goldmann, der 
        einstige Galan meiner Mutter, und seine mittlerweile erwachsenen Kinder 
        rieten den Seligmanns, ihr "Glück" wieder in Deutschland 
        zu suchen. Als mein Vater Awrahams Erstgeborenen Max bat, ihn in dessen 
        Baufirma notfalls als Nachtwächter anzustellen - alles wäre 
        besser, als zu den Mördern zurückzukehren -, entgegnete der 
        Unternehmer, der viel auf seinen israelischen Patriotismus hielt, mit 
        weicher Stimme, aber hartem Blick: "Ludwig, du bist ein Jecke. Kehre 
        dahin zurück, woher du kommst. In Deutschland wirst du deine Familie 
        ernähren können. Das wird dich stolz machen." (...) 
        Ludwig Seligmann kehrte Israel für immer den Rücken. Selbst 
        im Urlaub mied er das allzu Heilige Land. So wanderte unsere Familie 1957 
        wieder in Deutschlands Arme. Mutter Germania drückte mich sehnsüchtig 
        an ihren kalten Busen. Die Begrüßung war kurz, knapp, sachlich 
        und humorlos. Doch aufrichtig. (. . .)  
        Mein erster Schultag unterstrich die Beteuerung meiner Eltern, Deutschland 
        sei jetzt ein freies Land. Juden würden nunmehr besonders geachtet. 
        Lehrer Walk verdrosch uns Schüler nach Herzenslust. Daraufhin nahm 
        sich der Pädagoge seines besonderen Lieblings Erwin Honigwein an. 
        Der pummelige Erwin sollte an der Tafel seine mangelnden mathematischen 
        Fähigkeiten demonstrieren. Als der Junge heulend sein Scheitern kundtun 
        musste, hatte Lehrer Walk ein Einsehen: "Du beherrschst nicht mal 
        die Rechenkünste deiner Väter, Honigwein. Wie willst du da in 
        unserem Land Geld verdienen? Mit deiner Hände Arbeit wohl kaum . 
        . . Das ist ja eure Sache nicht!" 
        Unter dem Hohngelächter der Klasse schlurfte Erwin an seinen Platz. 
        Nach Unterrichtsende gefiel es den Mitschülern, Honigweins Demütigung 
        fortzusetzen. Sie kreisten den Dicken ein und wollten ihn verdreschen. 
        Da wurde bei mir erstmals ein sozialer Dressurakt wirksam, der mir in 
        Zukunft noch viele Prügel eintragen sollte. Meine Eltern hatten mir 
        neben dem Vertrauen in das neue Deutschland auch hebräische Solidarität 
        eingeimpft: "Du bist Jude, Rafi. Deshalb musst du immer jedem Juden 
        beistehen." Ludwig und Hannah hatten im eigenen Leben die Unwirksamkeit 
        jüdischen Beistandes erfahren müssen. Dass sie mir dennoch diese 
        vermeintliche Tugend predigten und ich darauf hörte, spricht für 
        die Naivität unserer Familie. Ob sie sozialpsychologische Ursachen 
        hat oder einem genetischen Defekt entspringt, mögen andere erforschen. 
        Ich mochte Erwin persönlich nicht leiden. Meine israelische Erziehung 
        hatte mich "Heulsusen" und "Fettsäcke" verachten 
        gelernt. Doch was zählt zionistische Schulpädagogik gegen die 
        Prägung durch jüdische Eltern? Mein Judeo-Solidaritätsreflex 
        funktionierte unverzüglich, und so sprang ich dem bedrohten Erwin 
        bei. Das half Erwin für den Augenblick, denn ich war damals in Israel 
        wie in Deutschland der Längste der Klasse und wurde hier wie dort 
        Rafi-Giraffi gerufen. Doch ehe es zum Schlagabtausch kommen konnte, erschien 
        wie Moses vor dem brennenden Dornbusch Honigweins Mutter. "Lasst 
        meinen Erwin in Frieden", herrschte sie die Möchtegernraufbolde 
        an, packte ihr bebendes Kind bei der Hand und zog dabei das Phantom der 
        jüdischen Solidarität mit sich fort. Der Verlust wurde umgehend 
        durch den Gewinn des deutschen Beistandes wettgemacht.  
        Die um ihren Spaß gebrachten Raufbolde stürzten sich nun auf 
        mich. Dass ich mich mit meinen bescheidenen Giraffenkräften zur Wehr 
        setzte, machte die Prügelei für mich umso langwieriger und schmerzhafter. 
        Doch des einen Leid ist des anderen Lust. Meine Kameraden hatten ihren 
        Spaß mit mir. Zunächst banden sie mich mit einem Schal an den 
        Schulzaun. Das lehrte mich den einzigen Nutzen dieses ansonsten vollkommen 
        überflüssigen Kleidungsstücks. Daraufhin ließen sie 
        fröhlich eine kleine Eisenkugel immer wieder auf meinen Kopf fahren 
        und verpassten mir dabei manchen Fausthieb. Um meine Schmerzensschreie, 
        die bald in ein Wutgeheul übergingen, zu dämpfen, wurde mir 
        ein benutztes Taschentuch in den Mund gestopft. Als ich zu würgen 
        begann, ließen die Kameraden von mir ab und banden mich los. Zu 
        Hause unterzog mich meine Mutter einem strengen Verhör. "Wer 
        hat dich so zugerichtet, Rafi?!", mochte sie wissen. Ich konnte so 
        wenig wie jeder andere meiner Mutter widerstehen. So schilderte ich zunächst 
        zögernd, dann zornig die Folgen meiner jüdischen Solidaritätsaktion. 
        Statt den Fehler ihrer moralisierenden Erziehung einzusehen und ihn umgehend 
        zu korrigieren, beharrte Mutter auf ihren falschen Werten und bestärkte 
        auch mich, daran festzuhalten. "Das war richtig, Rafi. Du hast dich 
        heldenhaft verhalten, mein Kind. Bleibe so!" (. . .) 
        Nach ihren ermutigenden Worten und dem Spülen meiner Platzwunde begab 
        sich Hannah (. . .) unverzüglich auf den Weg zum Schulleiter. Doch 
        Direktor Kupfernagl zeigte für ihre Klagen kein rechtes Verständnis: 
        "Wenn es Ihnen bei uns in Deutschland nicht passt, dann nehmen Sie 
        Ihren Zuckerknaben und gehen Sie wieder zurück nach Palästina!" 
        Damit kam er Hannah gerade recht. Schnurstracks marschierte Mamme ins 
        Stadtschulreferat. Sie bestand darauf, zum Leiter der Behörde vorgelassen 
        zu werden. Entsetzt lauschte Anton Fingerle dem Bericht meiner Mutter. 
        "Was dieser Mann Ihnen gesagt hat, ist Unsinn! Unsere jüdischen 
        Mitbürger sind uns selbstverständlich wieder willkommen, Frau 
        Seligmann. Auch Ihr Bub." 
        Der Stadtschulrat ließ es sich nicht nehmen, noch in Gegenwart Mutters 
        den Schulleiter anzurufen und ihm unverhohlen mit seinem fristlosen Rausschmiss 
        zu drohen, "wenn Sie nicht umgehend diese hässliche Angelegenheit 
        in Ordnung bringen". Anton Fingerle teilte mit Hannah Seligmann die 
        Überzeugung, "dass in unserem Lande im Guten wie im Schlechten 
        stets Ordnung zu herrschen" habe. Stolz auf den Triumph ihres Willens 
        und den Sieg ihrer Überzeugung, dass das Gute im Menschen stets die 
        Oberhand gewinne, verließ Mutter das Stadtschulreferat. Die Suppe 
        ihrer Überzeugung durfte ich gemeinsam mit meinen Klassenkameraden 
        auslöffeln. Damals schmeckte sie mir bitter. (. . .)  
        Wenige Minuten nach Unterrichtsbeginn stürmte am folgenden Morgen 
        Direktor Kupfernagl ins Klassenzimmer. Unser Türöffner - ein 
        durchaus prestigeträchtiges Ehrenamt bei der Erziehung zum Untertan 
        -, Fritz Meinberger, bekam vom obersten Pädagogen des Hauses umgehend 
        eine kräftige Maulschelle verpasst. 
        Als Nächsten nahm sich der Schulleiter unseren Klassenlehrer vor. 
        "Walk, Sie Idiot! Immer ist in Ihrer Klasse der Teufel los. Wer hat 
        Ihnen erlaubt, die Judenbuben durchhauen zu lassen?!" Des Lehrers 
        Unschuldsbeteuerung brachte den Direktor ob dessen Uneinsichtigkeit noch 
        mehr in Harnisch: "Hören Sie auf zu lügen. Ich kenne Ihre 
        Ansichten und Methoden genau! Wenn das noch einmal vorkommt, lasse ich 
        Sie augenblicklich vom Schuldienst suspendieren. Und jetzt erwarte ich 
        eine gehörige Bestrafung Ihrer Prügelknaben!" (. . .) 
        Der Abgang seines Vorgesetzten brachte die binäre Sprengladung von 
        Walks Kränkung sowie dessen Angst um seine Beamtenstellung zur Explosion. 
        "Lumpenbande! Wer von euch hat die Judenknaben geschlagen?! Dem brech' 
        ich das Genick! Raus mit der Sprache", donnerte der Lehrer. Niemand 
        meldete sich. Keiner dachte daran, Walks Worte auf die Probe zu stellen. 
        Da die ungeschminkte germanische Drohung vergeblich blieb, setzte der 
        Pädagoge nunmehr auf den jüdischen Verrat. "Honigwein! 
        Seligmann! Wer hat euch geschlagen?" 
        Erwin war zwar ein schlechter Rechner, doch keineswegs dumm. Er begriff, 
        dass die Verratenen sich furchtbar an ihm rächen würden. Davon 
        abgesehen, hatte ihn seine Mutter vor ernsthaften Blessuren bewahrt. Erwins 
        Behauptung, er könne sich nicht erinnern, begegnete Walk mit den 
        Worten: "So jung und schon so vergesslich! Grad wie ein SS-Soldat 
        vor Gericht!" Ohne Hoffnung auf Offenbarung wandte sich der Lehrer 
        an mich: "Und du, Seligmann, du tapferer Hebräerkämpfer, 
        hast gewiss ebenfalls vergessen, wer dir die gehörige Abreibung verpasst 
        hat?"  
        "Nein, es waren der Girl, der Kreisig und der Aichner." "Du 
        hast Mut . . .", Walk schüttelte seinen Kopf, ". . . zum 
        Verrat." Der feinsinnige Pädagoge irrte. Mich trieben weder 
        Tapferkeit noch die Lust am Verrat an. Die Beweggründe waren simpler. 
        Meine Eltern hatten mich gelehrt, die Wahrheit zu sagen, und ich wollte, 
        dass meine Peiniger zumindest ebenso leiden sollten wie ich. Das Bedürfnis 
        nach Ehrlichkeit und die Lust an Rache überwog bei weitem die Angst, 
        dass meine Klassenkameraden sich ihrerseits an mir rächen würden. 
        Erst viele Jahre später begriff ich, dass in dieser Stunde die Voraussetzung 
        für meinen Beruf als Schriftsteller geschaffen wurde. Die Tollkühnheit 
        des Schreibers und sein spontanes Bedürfnis nach Wahrheit müssen 
        allemal größer sein als dessen Furcht vor den Konsequenzen 
        seiner Aussagen. 
        Dazu aber sind Deutschlands Nach-Auschwitz-Juden seelisch bislang weitgehend 
        unfähig. Ihnen ergeht es wie meinem späteren Klassenkameraden 
        Moische Weißbart, der mich bat, ihn in Gegenwart der Gojim "Manfred" 
        zu nennen. Sein Wunsch war absurd, denn jeder wusste, dass Moische Jude 
        war. Er fehlte im katholischen Religionsunterricht. Und im Klassenbuch 
        stand bei ihm wie bei mir in der Rubrik Bekenntnis: "isr.". 
        Angst hat nichts mit Logik zu tun. Deutschlands Juden flößen 
        ihren Kindern die Antisemitenpanik mit der Muttermilch ein. Deshalb sind 
        die hiesigen Juden unfähig, ihre Gefühle preiszugeben. Vor allem 
        jene, die Anstoß erregen könnten.  
        Wir gebieten in Deutschland wieder über eine ansehnliche Reihe von 
        Judenspezialisten. An ihrer Spitze steht der Literaturpapst Marcel Reich-Ranicki. 
        Er möchte kein Jude sein. Doch die Kritiker des Kritikers erinnern 
        ihn beständig daran. Den christlichen wie jüdischen Literaturexperten 
        Deutschlands will nicht aufgefallen sein, dass die hiesigen Hebräer 
        vierzig Jahre lang keine Gegenwartsliteratur hervorbrachten. Ihre Autoren 
        klagten vielmehr in steifer Prosa die Judenfeinde an und priesen die Helfer 
        der Hebräer. Doch ihre Gefühle mochten und konnten sie nicht 
        entdecken - was Voraussetzung jeder Literatur ist. Denn die Seelen der 
        Juden dieses Landes verharrten in der Schockstarre der Angst.  
        Jene Juden, die schließlich als Erste die Kraft fanden, ihre Empfindungen 
        preiszugeben, wuchsen im Ausland, fern der Nazifurcht auf, wie Irene Dische, 
        Maxim Biller, ich. Oder die Angst der Schreiber trocknete über Jahrzehnte 
        fern von Deutschland so weit, dass es ihnen möglich wurde, endlich 
        ihre Gefühle niederzuschreiben, wie dies Cordelia Edvardson, Ruth 
        Klüger und Laura Waco taten. Doch anders, als die Judenfreunde von 
        eigenen Gnaden erwartet hatten, barsten die Federn dieser neuen Poeten 
        nicht unter der Last der Versöhnungswilligkeit und der Anbiederei. 
        Wessen Eltern, Geschwister, Angehörige abgeschlachtet wurden, hat 
        Dringenderes zu erledigen, als Versöhnung zu predigen und um Verständnis 
        zu buhlen.  
        Zunächst gilt es, den eigenen Schmerz, die eigene Verletzung hinauszuschreien, 
        auf dass sie nicht die Seele ersticke. Diese Partituren sind nicht erbaulich. 
        Doch sie sind Teil des Deutschlandliedes, dessen Töne einst Wagner, 
        Hitler und ihre Adepten vorgaben.  
        Der erste deutsche Arbeiter-, Bauern-, und Kommunistenstaat ist untergegangen. 
        Unter anderem, weil er bei seiner Auferstehung aus Ruinen die Leichen 
        vergaß, die auch in seinem Keller vergraben waren. Doch wahr bleibt: 
        Wir dürfen nicht im braunen Modersumpf des Schreckens verharren, 
        das wäre der Endsieg des Führers. Wir müssen uns in der 
        Tat der Zukunft zuwenden.  
        Adolf Hitler stand nicht allein bei meiner Beschneidung Pate. Der Geist, 
        der ihn schuf, der Millionen seinen Namen brüllen ließ, die 
        vermeintlich für ihn, tatsächlich aber für sich, marschierten 
        und mordeten, holte das Volk der Täter ebenso ein wie jenes der Opfer. 
        So wurde schließlich die deutsch-jüdische Symbiose gebrannt, 
        die Gerschom Scholem einst als jüdisches Wunschdenken abgetan hatte. 
        Wir alle sind Kinder Hitlers. Das gibt uns auf, uns gemeinsam aus seinem 
        Bann zu befreien. 
        Frankfurter Rundschau, 16.11.2002 
       
      
      
      
       
      
       
       
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