Die Nacht naht, schwarz, voller Entsetzen
          Und Tage des Feuers, Bleihagels, der entblößten Schwerte.
          Dann werden aus Kisten und Koffern die Fetzen
          Ihre Verstecke in Häusern verlassen - die jüdischen Werte.
          Sie fliehen durch Fenster und wandern in Massen,
          Um sich zu versammeln in Straßen und Gassen
          Bei schwarzen Bahngleisen sich dann frei zu machen,
          Alle Koffer und Bündel, alle Tische und Hocker - die jüdischen 
          Sachen.
          (Aus "Die Sachen")
        Wladyslaw Szengel und die Geschichte eines Walzers
          von Dorota Szwarcman
        Es war reiner Zufall, dass die Gedichte Wladyslaw Szlengels 
          gefunden wurden. Die Manuskripte lagen in einem Tisch, dessen Geheimfach 
          erst viele Jahre nach Kriegsende entdeckt wurde. Ob dieser Tisch in 
          Jozefow bei Warschau dem berühmtesten Dichter des Warschauer Gettos 
          gehört hatte? Andere Gedichte von ihm, teilweise im Original, andere 
          in Kopie, waren bereits während des Krieges ins Ringelblum-Archiv 
          des Gettos gelangt und hatten den Krieg überdauert. Zum 35. Jahrestag 
          des Getto-Aufstandes wurden sie erstmals in der Anthologie "Was 
          ich den Toten vorlas" einer breiteren Öffentlichkeit bekannt 
          gemacht. Szlengel war der einzige in polnischer Sprache schreibende 
          Dichter des Warschauer Gettos, der bis zuletzt alles genau registrierte, 
          was sich im Getto ereignete. Vor dem Krieg gehörte er zu den Mitarbeitern 
          der führenden satirischen Zeitschrift "Szpilki" (Stecknadeln), 
          schrieb aber auch Texte fürs Cabaret. Seine Domäne war die 
          Satire. Auch wenn dies grausam klingen mag, doch erst der Krieg und 
          das Getto machten ihn zu einem echten Dichter. Ein Satiriker ist ein 
          Chronist der täglichen Ereignisse, ein Jäger von lästigen, 
          dummen und absurden Aspekten des Alltags. Im Getto wurde Szlengel zum 
          Chronisten der Vernichtung von Stadt und Volk, zum - wie er selbst sagte 
          - "Chronisten der Ertrinkenden".
          Zunächst versuchte Szlengel noch, sein gewohntes Genre zu pflegen 
          und wirkte im Kaffeehaus "Sztuka" (Kunst) am "Lebenden 
          Tagesanzeiger" mit, einer gesprochenen Zeitung, die die Tagesereignisse 
          kabarettistisch kommentierte. Sie war so beliebt bei den Gettobewohnern, 
          dass Szlengel auch dann noch weiter auftrat, als die Mehrzahl der Künstler 
          bereits bei Erschießungen und Straßenrazzien ums Leben gekommen 
          war.
          Er erzählte über den Tod des Kinderarztes Janusz Korczaks, 
          über die Deportationen, schilderte die wachsende Hoffnungslosigkeit. 
          Seine Verse wurden gelesen, wie Halina Birenbaum bemerkte, "mit 
          einem gierigen Heißhunger, als ob sie belebende Säfte wären, 
          die man mit unbeherrschbaren Durst in sich hineinschüttet, um nicht 
          zu krepieren".
          Heute sind seine Gedichte erschütternde Zeugnisse einer nicht mehr 
          existierenden Welt. Der ihnen eigene Pathos könnte unter anderen 
          Umständen stören, aber in diesen Zeiten und zu diesen Menschen 
          konnte man kaum anders reden. Diese Gedichte retteten die Menschenwürde 
          derer, die über Jahre hin wie seelenloses Fleisch behandelt wurden. 
          In einem seiner Gedichte, "Gegenangriff", schreibt Szlengel 
          nach dem ersten Aufstand im Januar 1943: "Das Fleisch spuckt durch 
          Fenster Granaten/ Das Fleisch faucht mit purpurroter Flamme/ Krampfhaft 
          an zitternden Resten des Lebens sich haltend..." Der genaue Todestag 
          des Dichters, dessen Verse anderen halfen weiterzuleben, ist nicht bekannt. 
          Man weiß nur, dass er während des Aufstandes im April im 
          Bunker des Szymon Kac starb. Er wurde 32 Jahre alt.
          Für "Sztuka" schrieb Szlengel auch typisch kabarettistische 
          Texte, die vom täglichen Leben unabhängig waren. Sein berühmtestes 
          Werk dieses Genres war "Ihr erster Walzer", ein Lied, das 
          öfters in verschiedenen Getto-Memoiren erwähnt wird und dessen 
          Titel aus dem im Vorkriegs-Polen gezeigten französischen Film Julien 
          Duviviers "Un carnet de bal" stammte. Die Musik dazu schrieb, 
          in Form von Variationen zum Thema "Mein alter Bekannter" aus 
          der Oper "Casanova", der ebenfalls ständig und eng mit 
          "Sztuka" verbundene Wladyslaw Szpilman (der unlängst 
          in Warschau verstorbene Pianist und Titelfigur des jüngsten Films 
          von Roman Polanski "Pianist"). Der "Walzer" war 
          ein großer Schlager der Hauptdarstellerin und großen Stars 
          im "Sztuka", Wiera Gran, die heute noch in Paris lebt und 
          deren Nachkriegsschicksal vielfach literarisch dargestellt wurde - unter 
          anderen in ihrem eigenen Buch "Die Verleumderstaffel".
          Nach dem Krieg rekonstruierte Szpilman die Musik aus dem Gedächtnis, 
          der Text war aber nur der Sängerin bekannt. Nach ihrer Emigration 
          nach Frankreich war Wiera Gran, die in Polen wegen angeblicher Kollaboration 
          mit den Deutschen angeklagt worden war, die Prozesse aber gewonnen hatte, 
          so verbittert und unwillig, dass die Wiedererlangung des Originaltextes 
          aussichtslos erschien. Der Komponist bat daher den Librettisten Bronislaw 
          Brok, einen neuen Liedtext zu schreiben. Im Jahre 1965 machte Wiera 
          Gran eine kleine Tournee durch Polen, und Szpilman bat sie, das Chanson 
          auf Band aufzunehmen - allerdings in der neuen Version. Szlengels Originaltext 
          galt als endgültig verloren. Später fand sich im Rundfunkarchiv 
          doch noch eine Nachkriegsaufnahme von 1949 mit dem Originaltext.
          In seinem Buch "Die von Vernichtung gerettete Musik" verglich 
          Marian Fuks die Chansonnette Wiera Gran mit der berühmten polnischen 
          Sängerin Ewa Demarczyk, die wiederum häufig mit Edith Piaf 
          verglichen wird. Gemeinsam ist ihnen ein großes schauspielerisches 
          Talent, emotionale Expression sowie eine tadellose Diktion. Trotz der 
          schlechten Tonaufnahme 1949 gelang es mir, den Text vom Band zu notieren. 
          Es ist dies der einzige überlieferte Text des Autors, welcher die 
          Gegebenheiten des Warschauer Gettos nicht widerspiegelt. Obwohl inhaltlich 
          banal, bestätigt er doch die poetischen Qualitäten Szlengels 
          und seine Kunst, spielerisch mit Worten umzugehen. Szpilmans Musik ist 
          hingegen eine großartige Dokumentation seines wunderbaren Könnens, 
          sich den wechselnden Stimmungen der Strophen durch verschiedene Tanzrhythmen 
          anzupassen. Das Motiv aus Rolyckis Oper "Casanova" wird in 
          unmittelbarer rascher Folge zu Slow-Fox, Rumba, Tango, Tiroler Walzer 
          mit Jodeln und schließlich zu einer Mazurka im Stile Chopins. 
          Dieses einmalige Dokument, das sich fundamental von anderen im Getto 
          entstandenen Liedern unterscheidet, sagt viel über die menschliche 
          Ausdauer und den Lebenswillen aus.
          aus: Illustrierte Neue Welt, Wien, Februar/März 2003; übersetzt 
          von Richard Fagot
          Das Gedicht "Pässe" von Wladyslaw Szlengel finden Sie 
          in der Print-Ausgabe auf Seite 35