Die Palästinenser, Israel und der Holocaust
          von Gisela Dachs
        Gisela Dachs, seit vielen Jahren in Israel, ist Korrespondentin 
          der Wochenzeitung DIE ZEIT. Das Thema "Der Holocaust in arabischer 
          Sicht" hat sie seit langem beschäftigt. 1999 erschien ihr 
          grundlegender Artikel zu dem Thema "Wer sich nicht erinnert, hat 
          keine Geschichte. Die Palästinenser, Israel und der Holocaust" 
          in dem von ihr herausgegebenen Sammelband "Deutsche, Israelis und 
          Palästinenser, ein schwieriges Verhältinis" im Palmyra 
          Verlag, Heidelberg. Ihr einleitendes Referat ist eine verkürzte 
          Wiedergabe des damals erschienenen Artikels.
          Nach einem langen und hoch interessanten Gespräch über seine 
          Forschungen als Biologe nahm mich ein palästinensischer Wissenschaftler 
          beiseite, um mich etwas Persönliches zu fragen. Was dann kam, war 
          kein überstürzter Heiratsantrag, sondern eine respektvolle 
          Prüfung meiner Geschichtskenntnisse. "Sagen Sie mir, das mit 
          den sechs Millionen ermordeten Juden, das stimmt doch gar nicht. Es 
          waren doch viel weniger gewesen, als die Israelis immer behaupten, oder?" 
          Ich ließ mich auf einen Austausch ein, der mein Gegenüber 
          sichtlich ins Grübeln brachte. Er blieb nicht der einzige Palästinenser, 
          der mit mir eine ernsthafte Diskussion über den Holocaust führen 
          wollte und zum Zuhören bereit war. Durch diese - neue - Aufgeschlossenheit 
          gegenüber dem Leid des jüdischen Volkes unterscheiden sich 
          heute immer inchl Palästinenser von ihren arabischen Brüdern, 
          die meist weiterhin in alten Denkmustern verharren.
          Jeder deutsche Journalist, der den Nahen Osten bereist hat, kennt die 
          dort gehegten Sympathien für Deutschland, weil es "Bayern 
          München, Mercedes und Hitler" hervorgebracht habe. Und wenn 
          über den Völkermord an den Juden geredet wird, dann geht es 
          selten um Fakten. Das Thema gilt vielmehr als eine schlagkräftige 
          Waffe in der Hand Israels, um seine Stärke zu beweisen und mit 
          westlicher Hilfe der gesamten Region seinen Willen aufzuzwingen. Politische 
          Frustrationen und das Gefühl, zu ewig Unterlegenen zu gehören, 
          verstellen den Blick auf die Vergangenheit. Aus diesem Grund hatte sich 
          vor Jahren der ägyptische Außenminister während eines 
          Israelbesuchs geweigert, dort die nationale Holocaustgedenkstätte 
          Yad Vashem in Jerusalem aufzusuchen. Dorthin zu gehen, wäre von 
          der Kairoer Regierung als Kapitulation vor dem Zionismus empfunden worden.
          Hitlers Vernichtung der Juden sei ein Mythos, lautet ein gängiges 
          Argument, den die Israelis erfunden hätten, um den Zugriff auf 
          arabisches Land in Palästina zu rechtfertigen. Die Leugnung des 
          Holocaust führte dazu, dass sich einige arabische Länder weigerten, 
          Steven Spielbergs Film Schindlers Liste zu zeigen. So hatte die Regierung 
          in Kairo den Film verboten, weil dort "zu viele Morde" zu 
          sehen seien. dass es aber auch in Ägypten neuerdings Zeichen der 
          Umorientierung gibt, zeigt das im Frühjahr 1999 erschienene Buch 
          "Der israelisch-arabische Konflikt - Die Krise der Demokratie und 
          der Frieden". Darin plädiert der Publizist und Verleger Amin 
          al-Mahdi unter anderem für die Gründung eines gemeinsamen 
          arabisch-israelischen "Friedensparlaments", in dessen Gründungscharta 
          er der Erinnerung an die Shoa als unmissverständliches Signal an 
          arabische Holocaustleugner einen zentralen Platz einräumen möchte.
          Amin al-Mahdi reagierte damit auch auf die Unterstützung arabischer 
          Intellektueller des französischen Denkers Roger Garaudy, der 1998 
          wegen Leugnung des Holocaust in Frankreich verurteilt worden war. In 
          dessen zwei Jahre zuvor erschienenem Buch "Die Gründungsmythen 
          der israelischen Politik" erhob er unter anderem Zweifel an der 
          Existenz der Gaskammern und deutete an, dass der israelische Staat den 
          Holocaust seit seiner Existenz als moralisches Druckmittel seiner Politik 
          einsetze. Die Angaben über den Massenmord hätten nur dazu 
          gedient, die Gründung des Staates zu rechtfertigen. Der 85jährige 
          Garaudy, der in seinem Leben gleich mehrere persönliche Wenden 
          - vom Protestantismus über den Katholizismus und Marxismus zum 
          Islam - vollzogen hatte, war daraufhin zum politischen Symbol im Nahen 
          Osten geworden. Seine Vortragsreisen in der Region von Kairo bis Dubai 
          verwandelten sich in regelrechte Triumphzüge, "weil Garaudy 
          die israelische Politik kritisiert und damit die arabischen Interessen, 
          also die Rechte der Palästinenser, vertritt", wie es die jordanische 
          Schrifstellerin Nadia Aloul formulierte. Zahlreiche Berufsorganisationen 
          in der arabischen Welt, unter anderem auch der palästinensische 
          Schriftstellerverband in Ostjerusalem, veröffentlichten Erklärungen, 
          in denen sie den Prozess gegen Garaudy kritisierten und zur Unterstützung 
          des Kampfes gegen die Zionisten aufriefen. Statt Fakten zählte 
          das Motto: Der Feind meines Feindes ist mein Freund. Manche Kommentatoren 
          verglichen die Gerichtsverhandlung gegen den Franzosen mit dem Schicksal 
          Salman Rushdies. Sie verwiesen auf die Empörung, mit der die westliche 
          Welt auf das Todesurteil gegen den Autor der Satanischen Verse reagiert 
          hatte, und warfen ihr vor, die Meinungsfreiheit von Schriftstellern 
          nur dann zu verteidigen, wenn ein Buch dem eigenen Denken entspräche.
          Es gab aber auch Ausnahmen. So verfasste der libanesische Autor Elias 
          Khoury zur Debatte über Roger Garaudy einen mutigen Artikel, in 
          dem er sich darüber beklagte, dass sich die arabische Kultur nicht 
          ernsthaft mit der erschreckenden Bedeutung des Gedankens der 'Endlösung' 
          auseinandergesetzt habe. "Wir Narren ignorieren die ganze Frage 
          und loben jeden, der die Vernichtungslager der Nazis leichthin abtut 
          und ihre Bedeutung herabsetzt. Trägt der Plan zur Vernichtung der 
          Juden etwa nicht den Samen der Vernichtung jeder anderen Rasse, jedes 
          anderen Volkes in sich?" Ähnlich kritisch argumentierte der 
          libanesische Journalist Hazem Saghiyeh in der in London erscheinenden 
          arabischen Zeitung Al-Hayat: "Unter dem Eindruck unserer eigenen 
          Katastrophe haben wir die Fähigkeit verloren, die Ursachen und 
          Beweggründe für das zu identifizieren und zu verstehen, was 
          uns widerfahren ist. Unsere Elite (und nicht nur das einfache Volk) 
          versteigt sich sogar dazu, sich mit jedem zu verbünden, der die 
          Geschichte leugnet und das Einwirken des einen Faktors auf den anderen 
          verneint. Und so hindern sie uns daran, unser eigenes Schicksal zu verstehen 
          und ein erhabenes menschliches Empfinden zu entwickeln, wie es auch 
          für die Bewältigung des Palästinenserproblems unabdingbar 
          wäre."
          Der Wirbel um Garaudy, dessen Schriften in arabischer Übersetzung 
          breiten Absatz gefunden hatten, veranlasste auch den Palästinenser 
          Edward Said zu einem erneuten Appell an die arabische Welt, die Haltung 
          zum Holocaust zu revidieren. Said, der in New York lebt und an der Columbia-Universität 
          unterrichtet, gehörte zu den ersten arabischen Intellektuellen, 
          die von der Notwendigkeit sprachen, das jüdische Leid anzuerkennen. 
          Im August 1998 antwortete er den Anhängern Garaudys in "Le 
          Monde diplomatique": "Warum erwarten wir von der ganzen Welt, 
          unserem Leid als Araber gegenüber aufgeschlossen zu sein, wenn 
          wir unfähig sind, uns dem Leiden anderer gegenüber aufzuschließen, 
          auch wenn diese anderen uns unterdrücken? Im Gegenteil, die Realität 
          des Holocaust und den Wahn des Völkermords am jüdischen Volk 
          anzuerkennen, verleiht uns Glaubwürdigkeit hinsichtlich unserer 
          eigenen Geschichte; das gibt uns die Möglichkeit, die Israelis 
          und Juden zu bitten, eine Verbindung herzustellen zwischen dem Holocaust 
          und den zionistischen Ungerechtigkeiten, die an den Palästinensern 
          begangen wurden." Ähnlich argumentiert längst auch der 
          palästinensische Dichter Mahmoud Darwisch, der mir im Sommer 1998 
          im Gespräch wie selbstverständlich auf meine Frage zu diesem 
          Thema antwortete, dass "wir Palästinenser die jüdische 
          Version des Holocaust akzeptieren müssen". Denn dieser Schritt 
          gehöre zur Aussöhnung mit Israel.
          In seiner "Erklärung zu Palästina" anlässlich 
          des 50. Jahrestages der Al-Nakba, der palästinensischen Katastrophe 
          von 1948, rief Darwisch sein Volk offiziell dazu auf, den Holocaust 
          nicht länger zu ignorieren.
          Wenige Monate zuvor hatte sich PLO-Chef Yassir Arafat bereit erklärt, 
          das Holocaustmuseum in Washington zu besuchen. Das führte zu einer 
          heftigen Kontroverse in den amerikanischen jüdischen Gemeinden: 
          Die einen hofften, dass Arafat bei seiner Tour durch die Gedenkstätte 
          endlich angemessen über das jüdische Leid informiert würde, 
          während die anderen in Arafat weiterhin bloß den alten Terroristen 
          sahen, der diesen Besuch allein aus politischem Kalkül heraus hätte 
          machen wollen. Seine bloße Anwesenheit an diesem Ort wäre 
          eine Farce. Um die Sache nicht noch komplizierter zu machen als sie 
          schon war, sagte der PLO-Chef diesen Programmpunkt aus Zeitgründen 
          ab. Ein Jahr später ließ er sich dann aber während eines 
          Aufenthalts in Amsterdam in das Anne-Frank-Museum führen. Hinter 
          solchen palästinensischen Annäherungen an die jüdische 
          Geschichte mögen politische Motive stehen - in jedem Fall finden 
          sie statt und haben allein deshalb schon Symbolcharakter.
          Etwa zur gleichen Zeit wie Garaudys Pamphlet erschien im Libanon eine 
          neue arabische Ausgabe von Mein Kampf. Den Umschlag ziert ein Hakenkreuz 
          und ein Foto des jungen Hitler. Im Vorwort wird den Lesern erklärt, 
          dass Hitlers Theorien von Nationalismus, Regierung und Rasse "ewige 
          Fragen" seien. Hitler sei "einer der wenigen großen 
          Männer, die fast den Lauf der Geschichte aufgehalten hätten", 
          und habe ein "intellektuelles Erbe" hinterlassen. Erst dann 
          räumt der Verfasser ein, dass die Nazis eine "Einparteien-Diktatur 
          auf Gewalt und Brutalität und Machiavellismus" gegründet 
          hätten. Vom Hass auf die Juden ist in der Einleitung nicht die 
          Rede. Fragt man seine arabischen Anhänger, warum sie denn Hitler 
          so sehr verehren, lautet die Antwort meist: "Weil er ein starker 
          Mann war."
          Dabei beruht die arabische Liebe zu Hitler auf einem Missverständnis. 
          Als Gegner der Mandatsmächte Frankreich und England betrachtete 
          man Deutschland in den dreißiger Jahren als einen natürlichen 
          Verbündeten. dass es damals zu keinem stärkeren Eingreifen 
          Deutschlands im Nahen Osten kam und die Araber das wahre Gesicht der 
          Nationalsozialisten nicht zu sehen bekamen, trug zur Bildung eines "Mythos 
          Hitler" bei, ebenso wie die Tatsache, dass das Ausmaß der 
          Judenverfolgung nicht wirklich wahrgenommen wurde. Vielmehr betrachtete 
          man das Dritte Reich als Verbündeten in der Abwehr eines jüdischen 
          Staates. Dahinter jedoch eine konsequent rassistisch-ideologische Anlehnung 
          an die Nazis vermuten zu wollen, wäre absurd. In diesem Zusammenhang 
          wies der deutsche Forscher Peter Wien in dem Berliner "Palästina 
          Journal" (Mai 1999) auf den Vorschlag eines der aktivsten Vertreter 
          deutscher "Araberpolitik" hin, des deutschen Gesandten in 
          Bagdad Friedrich Grobba. Denn schon als es 1934 darum ging, eine offizielle 
          arabische Übersetzung von Mein Kampf anzufertigen, um nicht autorisierten 
          Versuchen von arabischer Seite zuvorzukommen, wollte Grobba den Begriff 
          "antisemitisch" durch "antijüdisch" ersetzen 
          lassen, um Irritationen vorzubeugen. Man kann davon ausgehen, dass der 
          deutsche Führer, wäre er noch dazu gekommen, alle semitischen 
          Völker mit der gleichen Grausamkeit behandelt hätte wie die 
          Juden.
          Auf diesen doppelten Hass ging der bekannte marokkanische Schriftsteller 
          Taher Ben Jelloun ein, als er im Frühjahr 1999 erstmals nach Israel 
          kam und dort sein neuestes Buch "Papa, was ist ein Fremder?" 
          vorstellte. Als man ihn nach seiner Meinung zu dem arabischen Umgang 
          mit dem Holocaust fragte, betonte der in Paris lebende Autor, wie nahe 
          Antisemitismus und Antiarabismus beieinanderlägen. "Wer in 
          Frankreich keine Juden leiden kann, der mag in der Regel auch keine 
          Araber." Deshalb gäbe es genug Grund für einen gemeinsamen 
          Kampf. Diese Logik liegt für alle Europäer auf der Hand, die 
          vor den Gefahren der eigenen rechtsradikalen Bewegungen warnen; aber 
          im Nahen Osten muss auf diese Schattenseite des Alten Kontinents oft 
          erst noch hingewiesen werden.
          Als mich ein 19jähriger libanesischer Druse im Choufgebirge einmal 
          beiseite nahm und fragte, ob es denn stimmen würde, dass die Deutschen 
          heute Hitler nicht mehr leiden könnten, bejahte ich. Er zeigte 
          sich enttäuscht von meiner Antwort. Dann erzählte er, wie 
          gerne er nach Deutschland kommen würde, um dort zu arbeiten. Denn 
          das Leben sei dort gut und das Geld viel wert. An dieser Stelle erinnerte 
          ich ihn daran, dass es in meiner Heimat durchaus noch Menschen gebe, 
          die Hitler toll fänden. Allerdings könnten diese Kreise für 
          ihn, den dunkelhäutigen Libanesen, höchst gefährlich 
          werden, sollte er es tatsächlich bis nach Deutschland schaffen. 
          Der junge Mann wies verwirrt darauf hin, dass sein Gesicht nach libanesischen 
          Normen "doch eigentlich sehr hell" sei. Dann verstummte er. 
          Auf eine solche Logik war er nicht vorbereitet gewesen. In der Schule 
          hatte er weder etwas über die früheren noch über die 
          heutigen Nazis erfahren. Solche Themen lässt der Lehrplan im Hinblick 
          auf den Noch-Erzfeind Israel nicht zu.
          Vielleicht entspreche es dem Wesen des Krieges, dass bis zur Beendigung 
          eines Konflikts seine Geschichte nicht korrigiert werden könne, 
          schrieb 1996 der in Beirut ansässige Nahostkorrespondent Robert 
          Fisk in der britischen Tageszeitung "Independent". "Die 
          Tücke des Holocaust - seine Einzigartigkeit, sein absichtlicher 
          Völkermord - hat die Araber auf eine Probe gestellt, bei deren 
          Bewältigung sie gescheitert sind. Kein Muslim im Nahen Osten hat 
          Probleme, anzuerkennen, dass die Türken 1915 einen Völkermord 
          an den Armeniern begangen haben, obwohl diese Grausamkeiten von Muslimen 
          begangen wurden. Aber der Holocaust verlangt ein Mitgefühl, das 
          die gedemütigte arabische Welt nur schwer aufzubringen vermag." 
          Allerdings lässt sich hier anfügen, dass sich die israelischen 
          Regierungen ihrerseits bisher eher ambivalent gegenüber dem Massaker 
          an den 1,5 Millionen Armeniern durch die Türken im Jahre 1915 verhalten 
          haben. Dass Israel diesen Völkermord nie so laut verurteilt hat, 
          wie es sich die Armenier gerade vom jüdischen Volk gewünscht 
          hätten, hat emotionale und politische Gründe. Da gibt es zum 
          einen die Befürchtung, dass dadurch die Einzigartigkeit des Holocaust 
          in Frage gestellt werden könnte; zum anderen will man den guten 
          Beziehungen mit dem militärischen und politischen Bündnispartner 
          Türkei nicht schaden.
          Weil die Interpretation von Geschichte immer auch ein Vehikel der Politik 
          sein kann, hält der prominente Intellektuelle Azmi Bishara jeden 
          Versuch, die Palästinenser mit dem Holocaust in Verbindung zu setzen 
          - und sei es nur durch das Bindewörtchen "und" -, zunächst 
          einmal für verdächtig. Denn für den palästinensischen 
          Philosophen mit israelischem Pass, der an der Berliner Humboldt-Universität 
          studiert hat und seit 1996 als Abgeordneter in der Knesset sitzt, sind 
          die Palästinenser nur mittelbar mit der Geschichte des Holocaust 
          oder vielmehr mit der "Geschichte des Post-Holocaust" verbunden. 
          Die Palästinenser seien allenfalls seine "indirekten Opfer, 
          insofern als sie von seinen direkten Opfern ihrer Heimat beraubt wurden", 
          schreibt er in "Die Araber und der Holocaust - Die Problematisierung 
          einer Konjunktion" (erschienen in: "Der Umgang mit dem Holocaust", 
          Schriften des Instituts für Zeitgeschichte der Universität 
          Innsbruck und des Jüdischen Museums Hohenems). Bishara erinnert 
          daran, dass sich die Araber damals "in eine Krise der europäischen 
          Zivilisation verstrickt sahen, die sie weder verursacht hatten noch 
          verhindern oder begrenzen konnten, aber an deren Folgen sie leiden mussten". 
          Ihre Reaktion habe deshalb zwischen zwei Polen gependelt: der Verleugnung 
          des Leidens der Juden einerseits und der Gleichsetzung des Zionismus 
          mit dem Nazismus andererseits. Für Azmi Bishara ist beides unhaltbar. 
          So lehnt er auch die exisistierende Tendenz ab, das Leiden der Palästinenser 
          mit dem der Juden zu vergleichen. Denn dazu wäre es notwendig, 
          in der Darstellung des palästinensischen Leidens zu übertreiben 
          und das Ausmaß des Holocaust zu vermindern. "Eine reife Position, 
          die den Holocaust in seinem ganzen Ausmaß begreift, ohne dabei 
          die palästinensische Tragödie zu bagatellisieren - und zwar 
          auf Grund der einfachen Erkenntnis, dass zwischen diesen beiden Ereignissen 
          kein Zusammenhang besteht - ist sehr selten anzutreffen", bedauert 
          Bishara.
          Seine Kritik richtet sich aber auch an Israel, wo das Verhältnis 
          der Araber zum Holocaust und zum Nazismus meist im Spiegel des Konflikts 
          mit der arabischen Welt erforscht und bewertet wurde. Dabei geriet meistens 
          in den Hintergrund, dass die arabische Welt nie jenes Ausmaß an 
          Gewalt erreicht hatte, wie sie in diesem Jahrhundert in Europa zutage 
          trat. Ebenso sei ja der arabische Judenhass auch nicht der Grund, sondern 
          vielmehr eine Folge des israelisch-arabischen Konflikt gewesen - eine 
          Tatsache, die in Israel von rechten Politikern gerne heruntergespielt 
          wird, um nicht am alten Feindbild zu rütteln.
          Diese These von der arabischen Bösartigkeit nach dem Ersten Weltkrieg 
          hat Israeli Gershoni in seinem 1999 erschienenen Buch "Licht im 
          Schatten - Ägypten und der Faschismus 1922-1937" widerlegt. 
          Der israelische Historiker zeigt, dass ein Großteil der ägyptischen 
          Gesellschaft zu dieser Zeit sogar gegen Faschismus und Nazismus eingestellt 
          war. Israel habe die arabische Welt als Kollaborateur mit diesen Mächten 
          sehen wollen, weil das den zionistischen Mythen diente. "Natürlich 
          gab es damals Leute in Ägypten, die auf der Seite der Nazis standen", 
          sagt Gershoni, "aber sie bildeten eine Minderheit. Es war vielmehr 
          Anwar el-Sadat, der im nachhinein für die Verankerung des Mythos 
          von ägyptischen Sympathien für die Nazis sorgte. Der antibritische 
          Sadat identifizierte sich mit dem deutschen General Rommel, der im Zweiten 
          Weltkrieg in der arabischen Wüste gegen die Briten gekämpft 
          hatte; und in den fünfziger Jahren erzählte Saddat von seinen 
          eigenen Heldentaten und rühmte sich damit, für Hitler zu sein."
          Weil Wahrheit und Wahrnehmung oftmals auseinanderklaffen, hält 
          es Gershoni für ein Problem, dass viele seiner akademischen Kollegen 
          in den israelischen Nahostforschungszentren lieber Politiker spielen 
          wollen, statt sich auf ihre Rolle als sachliche Wissenschaftler zu beschränken.
          Dass der Umgang mit dem Holocaust und der Nazizeit in Israel selbst 
          zum politischen Instrument umfunktionalisiert werden kann, zeigte schon 
          Menachim Begin. Er hatte einst seinen Erzfeind Yassir Arafat, dessen 
          Gefolgsleute 1982 aus Beirut vertrieben werden sollten, als "Hitler 
          im Bunker" bezeichnet. So mancher Likud-Vorsitzende hatte auch 
          schon die PLO mit der SS verglichen und Israels Grenzen von 1967 als 
          Auschwitzgrenzen definiert: Je böser die arabische Welt, um so 
          eher lässt sich gegenüber den Palästinensern eine harte 
          Linie rechtfertigen. Wer nach Beispielen für diese These sucht, 
          wird zudem leicht fündig, vor allem in der arabischen Presse. Die 
          Regierung von Ministerpräsident Benyamin Netanyahu schickte regelmäßig 
          an alle Auslandskorrespondenten Zitatesammlungen, vor allem aus ägyptischen 
          Zeitungen, in denen der Holocaust geleugnet wird oder die besonders 
          antijüdisch und antiisraelisch waren. So berichtete Al-Akhbar im 
          September 1998 von "der jüdischen Erfindung der Massenvernichtung" 
          mit dem Ziel, "die Juden zur Einwanderung nach Israel zu bewegen 
          und die Deutschen materiell zu erpressen sowie die Unterstützung 
          der Welt für die Juden zu bekommen". In einer anderen Zeitung 
          hieß es, dass der "israelische Charakter" streitsüchtig 
          sei, weil die Juden ihr Konfliktverhalten "mit der Muttermilch 
          aufsaugen" sowie "hinter allen Kriegen stehen und sich Zerstörung 
          zum Ziel gesetzt haben". Von normalen Beziehungen kann somit auch 
          20 Jahre nach dem Friedensabkommen von Camp David keine Rede sein.
          Die zeitliche Nähe zwischen dem Holocaust und der Staatsgründung 
          Israels mag dazu beigetragen haben, dass beide Ereignisse im arabischen 
          Bewusstsein gleichgesetzt werden. Wer den Holocaust angreift oder leugnet, 
          will im Grunde Israel treffen. Die Anerkennung des jüdischen Schicksals 
          während der Nazizeit ist zu einer Art politischer Konzession geworden. 
          Sich dem Leid des anderen gegenüber zu öffnen, fällt 
          besonders schwer, wenn man sich wie die Palästinenser selbst als 
          Opfer fühlt. Andererseits gibt es heute gerade unter ihnen immer 
          mehr, die zu verstehen bereit sind, dass die israelische kollektive 
          Psyche sehr tief von dieser Vergangenheit beeinflusst ist. Wer den ehemaligen 
          Feind besser verstehen will, sollte die Gründe seines Traumas kennen.
          Ein konkreter Anstoß in diese Richtung kommt nun ausgerechnet 
          von einem Deutschen, der Palästinensern das Leid des jüdischen 
          Volkes im Holocaust durch einen Besuch in Yad Vashem näherbringen 
          möchte, dass er sich mit seiner Initiative auf ein vermintes Gebiet 
          begeben würde, war dem Vertreter der Konrad-Adenauer-Stiftung in 
          den palästinensischen Gebieten, Henning Niederhoff, von Anfang 
          an klar gewesen. Deshalb geht er so behutsam wie möglich vor, wenn 
          er immer wieder neue kleine Gruppen zusammenstellt, zu denen Palästinenser, 
          Israelis und Deutsche gehören.
          Dadurch sollen "keine Grenzen verwischt" werden, sondern es 
          geht darum, dass sich die Teilnehmer als "Individuen" dorthin 
          begeben und bereit sind, sich auf eine Betroffenheit einzulassen, die 
          verschiedene Ebenen hat. "Die Idee war entstanden", erklärt 
          Niederhoff, "nachdem ich gemerkt habe, wie wenig man auf palästinensischer 
          Seite von dieser Epoche der europäischen Geschichte weiß." 
          Weil leicht Missverständnisse entstehen könnten, wenn sich 
          Deutsche mit dem Holocaust beschäftigen, vor allem, wenn sie das 
          im Nahen Osten tun, finden diese mehrstündigen Besuche auf privater 
          Ebene und ohne Medienwirbel statt. Ohne diesen Schutz würden die 
          meisten diesen Schritt wohl gar nicht wagen.
          Die Palästinenser gehen mit ihren Augen durch die israelische Holocaustgedenkstätte, 
          deren Erklärungen auch nicht für sie konzipiert wurden. Sie 
          sind auf hebräisch und englisch verfasst - und nicht in der zweiten 
          offiziellen Landessprache, auf arabisch. Um so größer ist 
          der Schock, wenn sie dort an prominenter Stelle ausgerechnet auf ein 
          Foto von einem der Ihren stoßen: Es handelt sich um Haj Amin al-Husseini, 
          den Mufti von Jerusalem, der einen Teil des Zweiten Weltkrieges in Berlin 
          verbrachte und die Deutschen zu weiteren militärischen Siegen anspornte. 
          Für die Palästinenser gilt der Mufti als Held, weil er sich 
          niemals mit der jüdischen Einwanderung im Vorkriegspalästina 
          abfand und niemals einem demütigenden Frieden zustimmte. Vor dem 
          Teil der Ausstellung in Yad Vashem, wo die Vernichtungslager dokumentiert 
          werden, ist neben seinem Bild eine Rede abgedruckt, die er am 1. März 
          1944 im Radio Berlin gehalten hat: Darin ruft der Mufti die Araber auf, 
          die "Juden zu massakrieren, wo immer sie zu finden sind".
          Dieser Appell ist den meisten Palästinensern unbekannt. Dass ihr 
          Volk auf diese Weise quasi in eine Reihe mit den Naziverbrechern gestellt 
          wird, stößt auf große Bestürzung. Es taucht unwillkürlich 
          die Frage auf, wie denn die vielen Touristen und Neueinwanderer aus 
          der ehemaligen Sowjetunion auf diese "Kriminalisierung der palästinensischen 
          Opfer" reagieren würden. Das Gefühl, hier in Yad Vashem 
          plötzlich der Täterseite anzugehören, habe seine Trauer 
          mit den Juden überlappt, erinnert sich ein palästinensischer 
          Besucher. Er fragt, warum man an dieser Stelle nicht lieber auf die 
          Schergen des Vichy-Regimes verwiesen hat.
          In der Diskussionsrunde hinterher geht es dann allerdings nicht nur 
          um den Mufti, sondern um die verschiedenen Emotionen, die der ungewöhnliche 
          gemeinsame Besuch ausgelöst hat. Meist stehen die unterschiedlichen 
          Ängste im Zentrum, die es auf beiden Seiten gibt. Manche Bilder 
          von Flucht und Vertreibung vor Augen, fühlen sich die Palästinenser 
          unwillkürlich an das eigene Schicksal und die immer noch ungewisse 
          Zukunft erinnert. Und plötzlich sind auch die Israelis nicht mehr 
          nur die Überlegenen und Starken, wie sie meist im Alltag von den 
          Palästinensern wahrgenommen werden. Es treffen zwei unterschiedliche 
          Gedächtnisse aufeinander, die durch den immer noch ungelösten 
          Konflikt um das Land miteinander verbunden sind.
          "Ich fühle mit den (jüdischen) Opfern, aber ich würde 
          es vorziehen, wenn die Museumsausstellung mit der Befreiung der Todeslager 
          1945 enden würde. Die Verbindung mit der Schaffung Israels ist 
          aus der Sichtweise meines Volkes, der Palästinenser, unlogisch", 
          schrieb ein palästinensischer Journalist nach dem Besuch. Für 
          andere wiederum liegt es auf der Hand, dass die palästinensische 
          Beschäftigung mit dem jüdischen Leid während des Holocaust 
          eine israelische Beschäftigung mit dem palästinensischen Leid 
          seit 1948 erfordere.
          Musste am Anfang noch an die Großzügigkeit der Palästinenser 
          appelliert werden, um sich nach Yad Vashem zu wagen, war dies nach dem 
          ersten Besuch nicht mehr nötig. Seither schlagen die Teilnehmer 
          selbst neue Kandidaten aus ihren Familien und ihrem Bekanntenkreis vor. 
          Mit dem Eintrag: "Es war soweit, die Barriere zu brechen", 
          bedankte sich ein Palästinenser bei den Organisatoren und ermutigte 
          zum Weitermachen. Er blieb nicht der einzige. Das Interesse an einem 
          Thema, das vor wenigen Jahren noch als Tabu behandelt wurde, scheint 
          auf palästinensischer Seite behutsam zu wachsen.
          Als sich Yitzhak Rabin und Yassir Arafat im Herbst 1993 vor dem Weißen 
          Haus die Hände reichten, hatten sie beschlossen, die Vergangenheit 
          hinter sich zu lassen, um nach vorne, in eine gemeinsame Zukunft, blicken 
          zu können. Sonst wäre der Weg wohl gleich am Anfang versperrt 
          gewesen. Seither hat aber trotz aller Hindernisse eine intellektuelle 
          Annäherung in beide Richtungen stattgefunden. So sind in Israel 
          die einst bahnbrechenden Recherchen des Historikers Benny Morris über 
          die Flucht und Vertreibung der Palästinenser nach der Staatsgründung 
          Israels inzwischen in die Schulbücher eingegangen; und Morris selbst 
          hat endlich eine gesicherte akademische Existenz an der Ben-Gurion-Universität 
          in Beersheva gefunden. Als man in Israel im Mai 1998 den 50. Unabhängigkeitstag 
          feierte, blickte man auch nach drüben in die Autonomiegebiete, 
          wo die Palästinenser erstmals offiziell der Al-Nakba, der Katastrophe 
          von 1948, gedachten. Manches erinnerte dabei an die israelische Erinnerungskultur. 
          Dazu gehörte zum Beispiel eine Sirene, wie sie jedes Jahr am Holocaustgedenktag 
          ertönt, aber auch der Versuch, die eigene - unter 400 zerstörten 
          Dörfern begrabene - Geschichte auf einer Landkarte zu rekonstruieren 
          und Berichte von Augenzeugen zu sammeln. Denn wer sich nicht erinnert, 
          hat keine Geschichte.
          Ein historischer Kompromiss zwischen Israelis und Palästinensern 
          wird beiden kollektiven Gedächtnissen Rechnung tragen müssen. 
          Dabei geht es nicht darum, das Leid des anderen mit dem eigenen zu vergleichen, 
          sondern es anzunehmen. Wenn das gelingen sollte, dann wäre der 
          Frieden im Nahen Osten sicherlich ein Stück näher gerückt.
        
          Referat, gehalten auf der Konferenz der Israel Interfaith Association 
          und der Konrad Adenauer Stiftung im Konrad-Adenauer-Kongresszentrum, 
          am 30.10.2003 in Jerusalem. Quelle: Religionen in Israel. Vierteljahresschrift 
          der Israel Interfaith Association, 1-2003. Deutsche Website www.israel-interfaith.co.il