Wunder reichen nicht
Warum für Juden Jesus Christus nicht der Erlöser ist
von Rabbiner Shraga Simmons
Vor dem Hintergrund des enorm erfolgreichen Films von
Mel Gibson Die Passion Christi und der ehrgeizigen weltweiten Vermarktungspläne
der Produktionsfirma, die diesen Film als den vielleicht "besten
Botschaftsträger seit zweitausend Jahren" an "die Ungläubigen"
betrachtet, sollten wir Juden uns noch einmal genau klar machen, weshalb
wir nicht an Jesus glauben. Es geht hier nicht, und das muß betont
werden, um die Herabsetzung anderer Religionen, sondern nur um die Klärung
der jüdischen Position.
Die Juden anerkennen Jesus nicht als den Messias, weil
Jesus nicht die messianischen Prophezeiungen erfüllt hat. Jesus verkörperte
in sich nicht die persönlichen Eigenschaften des Messias. Die Bibelverse,
die sich in dieser Hinsicht auf Jesus "beziehen", sind falsch
übersetzt. Der jüdische Glaube gründet in einer Offenbarung
an das Volk Israel.
Verdeutlichen wir uns zunächst noch einmal den Hintergrund
der ganzen Frage. Was genau ist eigentlich der Messias? Das Wort "Messias"
ist eine Übersetzung des hebräischen Wortes "Maschiach"
(Gesalbter). In der Regel bezieht sich dieser Ausdruck auf Personen, die
durch die Salbung mit Öl zum Dienst an Gott geweiht werden (2. Moses
29,7). Da Hohepriester und Könige gesalbt wurden, kann jeder von
ihnen als "Gesalbter" (als Messias oder Maschiach) angesprochen
werden. So heißt es beispielsweise: "Schmach sei es mir (David)
vom Ewigen, meine Hand zu legen an den Messias des Ewigen (Samuel)."
(1. Samuel 26,11).
Woher kommt der jüdische Begriff des Messias? Zu
den zentralen Themen der biblischen Prophetie gehört das Versprechen
einer künftigen Zeit der Vollendung im weltweiten Frieden und in
der Anerkennung Gottes. In vielen dieser prophetischen Textpassagen ist
die Rede von einem Abkömmling König Davids, der Israel in der
Zeit der Vollendung regieren wird. Da jeder König dem Brauch nach
ein Messias ist, nennen wir diesen künftigen gesalbten König
"Den Messias". Das ist alles, was die Bibel über den König
aus dem Hause David sagt, der einst kommen soll. Erkennen werden wir den
Messias, wenn wir sehen, wer Israel im Zeitalter der weltweiten Vollkommenheit
regieren wird.
Was soll der Messias vollbringen? Die Bibel spricht von
folgenden Aufgaben, die er erfüllen wird: Er wird den Dritten Tempel
erbauen (Ezechiel 37,26-28). Er wird alle Juden im Land Israel versammeln
(Jesaja 43,5-6). Er wird eine Zeit des weltweiten Friedens einleiten und
allem Haß, aller Unterdrückung, allem Leid und aller Krankheit
ein Ende machen ("nicht hebt Volk wider Volk ein Schwert, sie lernen
nicht mehr Krieg", Jesaja 2,4).
Er wird die Welt mit dem Wissen um den Gott Israels erfüllen,
der die ganze Menschheit vereinen wird. Wie es heißt: "Und
der Ewige wird König werden über die ganze Erde. An jenem Tag
wird der Ewige einzig sein und sein Name einzig" (Secharja 14,9).
Wer auch nur eine dieser Bedingungen nicht erfüllt,
kann nicht "Der Messias" sein. Weil aber keiner jemals dieser
biblischen Beschreibung des kommenden Königs entsprochen hat, warten
die Juden noch immer auf das Kommen des Messias. Alle vergangenen Anwärter,
unter ihnen auch Jesus von Nazareth, Bar Kochba und Sabbatai Zvi, wurden
verworfen. Dagegen wenden die Christen ein, daß Jesus diese Prophezeiungen
nach seiner Wiederkehr erfüllen wird. Die jüdischen Quellen
sagen indes, daß der Messias die Weissagungen sofort erfüllen
wird. Die Bibel kennt die Vorstellung einer Wiederkehr nicht.
Außerdem verkörperte Jesus nicht die persönlichen
Merkmale des Messias. Der Messias wird der größte Prophet der
Geschichte sein und im Rang gleich nach Moses stehen. Weissagungen kann
es in Israel erst geben, wenn die Mehrheit der Juden der Welt in Israel
wohnt, was jedoch seit etwa 300 vor der christlichen Zeitrechnung nicht
mehr der Fall war. Zur Zeit Esra, als sich die Mehrheit der Juden weigerte,
von Babylon nach Israel umzusiedeln, endeten die Weissagungen mit dem
Tod der letzten Propheten Haggai, Sacharja und Maleachi. Jesus war kein
Prophet. Er trat etwa dreihundertfünfzig Jahre nach dem Ende der
Zeit der Propheten auf.
Zudem wird der Messias nach jüdischen Quellen menschliche
Eltern haben und körperlich ganz normal ausgestattet sein, wie alle
anderen Menschen auch. Er wird kein Halbgott sein, und er wird keine übernatürlichen
Kräfte besitzen. Der Messias muß väterlicherseits aus
dem Hause König Davids stammen (Jesaja 11,1, Jeremia 23,5, 33,17).
Der christlichen Behauptung zufolge, nach der Jesus von einer Jungfrau
geboren wurde, besaß er keinen Vater und kann daher das messianische
Erfordernis nicht erfüllt haben, väterlicherseits ein Abkömmling
von König David zu sein.
Und nicht zuletzt wird der Messias das jüdische Volk
zur vollständigen Befolgung der Tora führen. Die Tora sagt,
daß alle Mizwot für alle Zeiten bindend bleiben und daß,
wer auch immer kommt, um die Tora zu ändern, sofort als falscher
Prophet erkannt werden wird (5. Moses 13,1-4). Im ganzen Neuen Testament
widerspricht jedoch Jesus der Tora und behauptet, ihre Gebote gälten
nicht länger (Joh. 1,45 und 9,16; Apostel 3,22 und 7,37).
Wichtig ist auch der Hinweis darauf, daß sich der
biblische Text nur im Studium des hebräischen Originals verstehen
läßt, das in vielerlei Hinsicht der christlichen Übersetzung
widerspricht. Zum Beispiel wird die christliche Idee der Jungfrauengeburt
von einem Vers in Jesaja 7,14
hergeleitet, in dem es heißt, daß eine "Alma"
schwanger werden wird. Das Wort "Alma" hat nie etwas anderes
als "junge Frau" bedeutet, was christliche Theologen indes Jahrhunderte
später mit "Jungfrau" übersetzten. Damit wird die
Geburt Jesu mit der heidnischem Vorstellung der Schwängerung von
Menschen durch Götter in Verbindung gebracht.
In der Geschichte gingen Tausende Religionsgründungen
von einzelnen aus, die die Menschen zu überzeugen versuchten, daß
gerade sie die wahren Propheten Gottes waren. Die persönliche Offenbarung
ist jedoch eine außerordentlich schwache Grundlage für eine
Religion, da man niemals wissen kann, ob sie auch wirklich wahr ist. Da
andere nicht gehört haben, wie Gott zu dieser betreffenden Person
gesprochen hat, müssen sie seinem Wort vertrauen. Selbst wenn derjenige,
der sich auf eine Offenbarung beruft, Wunder vollbringt, liegt kein Beweis
dafür vor, daß er ein echter Prophet ist. Wunder beweisen nichts.
Angenommen, sie sind echt, so zeigen sie lediglich, daß der Betreffende
über bestimmte Kräfte verfügt. Mit dem Anspruch, ein Prophet
zu sein, haben sie nichts zu tun.
Unter allen Religionen der Welt beruft sich einzig das
Judentum nicht auf "Wunderbehauptungen" als Grundlage seiner
Religion. In der Bibel heißt es in der Tat
sogar, daß Gott hier und da Scharlatanen die Macht
zur Vollbringung von "Wundern" verleiht, um die jüdische
Treue zur Tora auf die Probe zu stellen (5. Moses 13,4). Unter den Tausenden
Religionen der Welt begründet einzig das Judentum seine Religion
auf eine nationale Offenbarung, das heißt darauf, daß Gott
zum gesamten Volk gesprochen hat. Wenn Gott eine Religion begründen
will, ist es auch durchaus sinnvoll, daß er nicht zu einem einzelnen,
sondern zu jedermann spricht.
Maimonides sagt (Grundlagen der Tora, Kap. 8): Die Juden
haben nicht wegen seiner Wunder an Moses, unseren Lehrer, geglaubt. Wo
ein Glaube darauf beruht, daß jemand Zeuge von Wundern geworden
ist, lauern weiter Zweifel, denn es ist immer noch möglich, daß
die Wunder durch Magie oder Zauberei vollbracht wurden. Sämtliche
von Moses in der Wüste vollbrachten Wunder wurden getan, weil sie
notwendig waren und nicht, weil sie seine Stellung als Prophet unter Beweis
stellen sollten.
Worin also lag die Grundlage des jüdischen Glaubens?
In der Offenbarung am Berg Sinai, die wir mit eigenen Augen gesehen und
mit eigenen Ohren gehört haben und die wir nicht nur durch das Zeugnis
anderer kennen. Wie es in der Tora heißt: "Angesicht zu Angesicht
hat der Ewige mit euch gesprochen." Und weiter: "Nicht mit unsern
Vätern hat der Ewige diesen Bund geschlossen, sondern mit uns selbst,
die wir alle heute hier am Leben sind" (5. Moses 5,3). Das Judentum
gründet nicht auf Wunder, sondern auf persönliche Zeugenschaft
jedes Mannes, jeder Frau und jedes Kindes, die vor dreitausenddreihundert
Jahren am Berg Sinai standen.
Die Welt braucht verzweifelt die messianische Erlösung.
Und genau in dem Maße, in dem uns die Probleme der Gesellschaft
bewußt sind, wird uns auch das Maß unserer Sehnsucht nach
Erlösung bewußt. Wie der Talmud sagt, wird eine der ersten
Fragen, die einem Juden am Jüngsten Tag gestellt werden, lauten:
"Hast du dich nach dem Kommen des Messias gesehnt?" Wie können
wir seine Ankunft beschleunigen? Der beste Weg dazu ist die großzügige
Liebe zur ganzen Menschheit, die Befolgung der Mizwot der Tora (nach unseren
besten Kräften) und die Ermunterung anderer, das Gleiche zu tun.
Trotz aller Düsternis scheint die Welt doch auf die
Erlösung zuzugehen. Eines der offensichtlichen Zeichen dafür
ist, daß das jüdische Volk in das Land Israel zurückgekehrt
ist und es wieder zum Blühen gebracht hat. Zudem hat sich eine wichtige
Bewegung unter jungen Juden gebildet, die zur Überlieferung der Tora
zurückkehren. Der Messias kann jeden Tag kommen, und alles hängt
von unserem Tun ab. Gott ist bereit, wenn wir bereit sind. Denn wie König
David sagt: "Die Erlösung wird noch heute kommen - wenn ihr
auf Seine Stimme hört."
Jüdische Allgemeine Wochenzeitung, 25.3.2004
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