Ende eines fragwürdigen Monopols?
Es kracht zwischen dem Zentralrat der Juden in Deutschland und den liberalen jüdischen Gemeinden: Der Konflikt erreicht die Politik

von Günther B. Ginzel

Sie hatte es gut gemeint, die Bundesregierung, als sie mit dem Zentralrat der Juden in Deutschland einen Staatsvertrag schloss: Dabei ging es weniger um Geld, wie jetzt immer wieder zu lesen ist, sondern um die Anerkennung etwa des jüdischen Aufbauwerks im Nachkriegsdeutschland. Doch der Vertrag war, wie jetzt eingeräumt werden musste, schlampig erarbeitet: Die im Prinzip nur zu lobende Aktion der Bundesregierung geriet zum Anlass eines bitteren innerjüdischen Streites. Denn der Zentralrat der Juden, so Kritiker, interpretiere diesen Vertrag als staatliche Anerkennung seines Monopol- und Machtanspruchs, allein und für alle Juden zu sprechen. So werden zwar zur Förderung der Integration der so genannten russischen Juden orthodoxe Rabbis aus aller Welt nach Deutschland geholt - doch die liberalen Juden und ihre Gemeinden sollen vor der Tür bleiben: ausgeschlossen vor allem von den staatlichen Fördermitteln, etwa für Erziehung und Bildung.

Wieso sieht der Zentralrat - der Gemeinden mit etwa 100 000 Mitgliedern vertritt - in den kleinen liberalen Gemeinden - die es auf gerade mal 3000 Mitglieder bringen - solch eine Herausforderung? Versuchen wir eine Klärung in drei Schritten.

Der erste: die theologische Grundlage. Die jüdische Religion kennt keine Mittler zwischen Gott und dem Menschen - und vor allem das nachbiblische Judentum hat keine Hierarchie akzeptiert. Partner des Ewigen, biblisch: "Kinder des Bundes mit Gott", ist ganz Israel, sind Mann und Frau, Alt und Jung, Arm und Reich.

Zweiter Schritt: Diesem Ideal eines "Priestertums des ganzen Volkes" folgten vor allem die Pharisäer zur Zeit Jesu und schufen eine Handwerkerreligion, die Arbeit und Glauben als Einheit ansah. Heiligung des Alltags war wichtiger als Opfer und Kult im Tempel: Ideal war und ist: Lernen und Beten. Eine einzigartige Demokratisierung einer Religion. Angesehen ist nicht, wer einen Posten, ein Amt hat, wer sich Priester oder Rabbiner nennt, sondern wer Wissen besitzt.

Die Konsequenz - und damit der dritte Schritt - ist die Herausformung einer Streitkultur. Denn was heißt es, in einer bestimmten Zeit Jude zu sein? Das muss immer wieder neu diskutiert werden.

Das galt vor allem für die Zeit der Aufklärung in Deutschland. Nirgends sonst sind so viele innerjüdische Strömungen entstanden, die bis heute die jüdische Welt mitprägen, wie damals in Deutschland. Von der modernen Orthodoxie bis eben zu den Liberalen und den Reformern. Worin unterscheiden sich nun Liberale von Orthodoxen? Zum einen in der Lebenspraxis. In der Gewichtung biblischer Gebote, in dem Bemühen um eine Aktualisierung alter Traditionen. Da ist es völlig legitim, unterschiedlicher Meinung zu sein. Die Reform reklamiert für sich, weniger orthopraktisch, mehr ethisch ausgerichtet zu sein. Sie betrachtet das Zeremonialgesetz als weniger verpflichtend und die Traditionen als weniger bindend. Knackpunkt war und ist die Stellung der Frau: Bei den Liberalen gilt das Ideal der Gleichheit - bis dahin, dass heute zahlreiche Rabbinerinnen weltweit amtieren. Bei den Orthodoxen herrscht die klassische Trennung, die Ausschließung der Frauen von der aktiven Teilhabe, wie in der katholischen Kirche, wie in den meisten Moscheen. Anders im modernen Judentum: Hier existieren seit etwa hundert Jahren nebeneinander orthodoxe und liberale Gemeinden, die sich im Deutschland des vergangenen Jahrhunderts zu Großgemeinden zusammenschlossen, um das, was sie gemeinsam hatten, auch gemeinsam durchzuführen - bei Wahrung ihrer jeweiligen Eigenständigkeit. Vergleichbares gab es nirgends auf der Welt. Das war so bis in die Nazizeit. Jeder Jude und jede Jüdin war frei, sich für eine Gemeinde zu entscheiden, die der eigenen Auffassung entsprach - unter dem Dach der Großgemeinde.

Zur Situation heute: Nach der Schoah war in Deutschland das einst dominierende liberale Judentum weit gehend dezimiert. In den Gemeinden nach 1945 sammelten sich überwiegend Juden aus Osteuropa, Überlebende, die einzig in der Synagoge und ihrem Kult, so wie sie ihn aus ihrer Kindheit kannten, ein Stück Heimat fanden - und die war meist orthodox geprägt. Und so richteten sich - mit Ausnahme von Berlin - die Einheitsgemeinden mehr oder minder orthodox aus.

Diese Gemeinden werden vom Zentralrat vertreten. Doch seit einigen Jahren entdecken mehr und mehr Juden auch die Ideale des deutschen liberalen Judentums. Sie bilden wieder basisdemokratische Gemeinschaften, die sich selbst regieren und die dennoch Teil eines größeren Ganzen sein möchten. Seit Jahren versuchen sie - wie einst üblich - Mitglied in der Einheitsgemeinde zu werden, bitten um Räumlichkeiten und Schulungsmöglichkeiten. Verwirklicht wurde das nur in Berlin. Doch andernorts, wie etwa in Köln, hat die Einheitsgemeinde zwar das gesamte Erbe des liberalen Judentums angetreten, residiert in der prächtigen, einst liberalen Synagoge. Doch den 80 liberalen Juden von heute verweigert sie bislang selbst den Raum zum Gebet.

So ist liberales jüdisches Leben in der Domstadt nur Dank der Hilfsbereitschaft der evangelischen Kirche möglich. Dagegen - und gegen die Tatsache, dass diese groteske Situation ausgerechnet durch einen Staatsvertrag zementiert werden könnte - laufen die Liberalen nun Sturm.

Publik-Forum, 9/2004

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