Endzeitfieber und Pulverfass
Israel und der christliche Fundamentalismus in Deutschland1
von Martin Kloke
1. Die Stillen im Lande? Beobachtungen
Was sind das für Leute, die zu Tausenden ihre Solidarität
mit Israel bekunden, israelische Fahnen schwingend durch die Straßen
ziehen und lauthals "Gott segne Israel" ausrufen? Was meinen
deutsche Christen aus dem evangelikalen Spektrum, wenn sie davon reden,
sie wollten "über Gottes Heilsplan mit seinem auserwählten
Volk" aufklären? Was steckt dahinter, wenn fundamentalistische
Organisationen Spenden für allerlei Projekte in Israel akquirieren
- in einer Höhe, die Vertreter/innen des etablierten Kirchenbetriebs
das Staunen (oder je nach Lesart: das Fürchten) lehren?
Von den Medien kaum beachtet, haben im Jahre 2002 mehrere so genannte
"Israel-Solidaritätsdemonstrationen" stattgefunden: In
Frankfurt sprach der israelische Diplomat Joseph Levy im Namen seiner
Regierung ein Grußwort. In Berlin, so meldete die Jewish Telegraph
Agency (JTA), "fand eine der größten Pro-Israel-Demonstrationen
statt, die Deutschland in letzter Zeit gesehen hat"2 - organisiert
von einem Ad-hoc-Bündnis zahlreicher Initiativen aus dem charismatisch-pfingstlerischen
Spektrum. Der Berliner CDU-Bundestagsabgeordnete Günther Nooke sprach
ein Grußwort. Im Vorfeld dieser spätsommerlichen Kundgebung
publizierte die israelische Botschaft den Demonstrationsaufruf in ihrem
elektronischen Newsletter. Botschafter Shimon Stein nahm einen Tag vor
der Kundgebung eine Unterstützungserklärung mit mehr als 6000
Unterschriften entgegen.
Nur wenige Wochen später - Ende September 2002 - machte Israels Ministerpräsident
Ariel Sharon der Laubhüttenkonferenz der "Internationalen Christlichen
Botschaft Jerusalem" seine Aufwartung: Vor 2500 Besuchern hielt er
eine hochpolitische Eröffnungsrede, dankte für die Solidarität
der christlichen Israelfreunde - und wohnte als erster und einziger israelischer
Ministerpräsident der gesamten Veranstaltung bei, indem er aufmerksam
den christlichen Gebeten und charismatischen "Lobpreisliedern "
lauschte. Aber: So ganz wohl ist der israelischen Regierung bei der Sache
nicht - jedenfalls, soweit es das Außenministerium betrifft. Nach
Protesten des "Bundesverbandes Jüdischer Studenten in Deutschland"
löschte die israelische Botschaft in Berlin einen Link auf ihrer
Seite, der kurzzeitig eingerichtet direkt auf die Seiten protestantisch-fundamentalistischer
Israel-Aktivisten geführt hatte.
Was mag daran so problematisch sein, wenn ultrakonservative Christen ihre
Sympathien mit Israel ausdrücken? Kann sich das weltpolitisch vereinsamte
Israel, das sich in der UNO im Ernstfall allein auf die USA und einen
Inselstaat im Pazifik (Mikronesien) stützen kann, überhaupt
leisten, bei der Entgegennahme von Solidaritätsgesten wählerisch
zu sein? Und: Im Jahre 2002 ein israelisches Flaggenmeer vor dem deutschen
Reichstag zu sehen - ist das nicht ein emotional bewegendes Ereignis,
wenn man bedenkt, dass 60 Jahre zuvor Hakenkreuz-Fahnen das Reichstagsgelände
säumten?
Solche und ähnliche Fragen mag sich mancher Israelfreund in diesen
Monaten stellen. Insbesondere, wenn man den israelpolitischen Mehltau
sieht, von dem die Einrichtungen der christlichen Kirchen befallen sind.
Ja, es existieren zahlreiche jüdisch-christliche Arbeitskreise und
israeltheologische Initiativen. Doch machen wir uns nichts vor: Diejenigen,
die in Sachen Israel ihren Lippenbekenntnissen Taten folgen lassen, sind
innerkirchlich marginalisiert. Das Schweigen etablierter Kirchenkreise,
Bischöfe und Synoden zum heißen Themenkomplex "Israel/Palästina
und Deutschland" ist lauter als das eine oder andere Papier oder
die eine oder andere kathartische Pflichtübung - sei es der alljährliche
"Israelsonntag" im August oder die "Woche der Brüderlichkeit"
im März: Wo sind die Zeichen kritischer Solidarität auch in
schwierigen Zeiten, in denen der jüdische Staat einen verzweifelten,
gleichwohl hässlichen Kampf um seine Existenz führt - hierzulande
allzuoft als zionistische "Aggression" oder "alttestamentarischer
Rachefeldzug" missdeutet? Haben wir es mit Gleichgültigkeit
zu tun? Mit Nachwirkungen des traditionellen Antijudaismus bzw. Antisemitismus,
der - allen Möllemännern zum Trotz - noch immer zu den am besten
gehüteten Tabus in dieser Gesellschaft gehört? Ist es die Sorge,
bei der Erörterung des israelisch-palästinensischen Konflikts
unvermittelt mit der antisemitischen Fratze im Spiegel der eigenen Geschichte
konfrontiert zu werden? Oder ist die nach außen gezeigte Zurückhaltung
der Rücksichtnahme auf die arabische Christenheit geschuldet, die
in ihrem apodiktischen Antizionismus schon aus Selbsterhaltungsgründen
nicht hinter den muslimischen Mehrheitsgesellschaften zurückstehen
will?
Diese Fragen bieten erste Anhaltspunkte, warum ich die unausgewogene Israelsolidarität
bestimmter Segmente des christlichen Protestantismus nicht einfach polemisch
abtun mag.
2. Was glauben Fundamentalisten?
Lassen Sie mich mit einem Zitat beginnen:
"Der Anti-Christus führt den Krieg gegen den letzten Feind,
gegen Israel, letztlich gegen den Gott Israels. Der 3. Weltkrieg findet
also statt. [
]: Es sind 200 Millionen, die gegen Israel antreten.
Sie sammeln sich am Euphrat und kommen vom Osten nach Israel (Offb. 9,14;
16,16). Der 3. Teil der Menschen wird dabei umkommen (Offb. 9,16.18; 16,14).
Die Schlacht aller Schlachten findet in der Megiddo-Ebene
statt, in Har-Mageddon [
]. In dieser Schlacht geht es
um die Entscheidung: Welches Reich gilt: das Reich Allahs oder Jahwes?
Babel oder Jerusalem?"3
Die Zeilen stammen aus dem Büchlein eines evangelischen
Pfarrers und Dozenten an einem Wuppertaler "Bibelseminar". Der
Verfasser bringt zum Ausdruck, was den Kern des christlich-fundamentalistischen
Weltbildes ausmacht. In diesen Sätzen finden wir - bezogen auf Israel
- fast das gesamte Arsenal dessen, was fundamentalistisches Selbstverständnis
ausmacht.
In der Alltagssprache taucht der "Fundamentalismus"-Begriff
in verwirrend vielfältigen Zusammenhängen auf: in Bezug auf
die palästinensische Hamas oder die jüdische Siedlerbewegung
in Israel; ebenso häufig undifferenziert zur Kennzeichnung einer
pietistisch-evangelikalen Glaubenshaltung; im politischen Raum zur Charakterisierung
radikaler Positionen innerhalb des grünen Spektrums ("Ökofundamentalisten").
Doch nicht nur die Inflationierung des Begriffs ist typisch für den
Diskurs - stets gilt: Fundamentalisten sind die anderen.
Mir geht es nicht um die Herabwürdigung jener religiösen Erneuerungsbewegungen,
die seit einigen Jahrzehnten weltweit auf den Plan getreten sind - u.a.
als Reaktion auf einen unreflektiert religionslosen Säkularismus.
Ich gehe so weit zu behaupten, das der Fundamentalismus unserer Tage sogar
seine Kritiker zur Selbstvergewisserung animiert: Worin besteht der Sinngehalt
der wissenschaftlich-technischen Zivilisation? Woher komme ich? Wozu lebe
ich? Wohin gehe ich? Fragen, die wir im Zuge von Aufklärung und Säkularisierung,
im Bewusstsein von Komplexität und Unübersichtlichkeit des Seins,
verdrängt haben, tauchen im Fundamentalismus in existenziell geradezu
peinlich-bedrängender Weise durch die Hintertür wieder auf.
Die Sehnsucht nach Orientierung, Verwurzelung und festen Gewissheiten
(auch nach gefühlter Wärme) entspringt zutiefst menschlichen
Bedürfnissen, auch wenn sich herkömmliche Religionsgemeinschaften
immer schwerer tun, Geborgenheit und sinnstiftende Angebote zu vermitteln.
Phasen postmoderner Beliebigkeit sind gute Zeiten für Fundamentalisten.
Insofern halte ich Pauschalurteile wider die "Internationale der
Unvernunft"4 für wenig hilfreich zum Verständnis neureligiöser
Aufbrüche - einerlei, ob es sich um charismatische, evangelikale,
jüdisch-chassidische, islamistische oder andere religiöse Partikularismen
handelt.
Was leicht in Vergessenheit gerät: Der Begriff des Fundamentalismus
hat protestantische Wurzeln. Er geht zurück auf eine Schriftenreihe,
die vor fast 90 Jahren in den USA erschienen ist: The Fundamentals - A
Testimony to the Truth. Die Werke dieser Bestseller-Reihe enthalten Thesen,
die bis heute zu den Essentials christlich-protestantischer Fundamentalisten
zählen. Dazu gehört die "Unfehlbarkeit" der Bibel
im wortwörtlichen Sinne, die Ablehnung wissenschaftlicher Erkenntnisse,
so weit sie diesem Bibelverständnis widersprechen, und die Ausgrenzung
von "Abweichlern", die sich nicht dem Schema von "Bekehrung"
und "Wiedergeburt" unterordnen. Aus erneuerten ("wiedergeborenen")
Massen, so die fundamentalistische Vision, kann die ungeliebte Trennung
von Staat und Kirche überwunden werden.
Zur fundamentalistischen Gruppenidentität gehört ein Feind -
sei es in der eigenen liberalen Kirche oder auch in der säkularen
Außenwelt. Dieser Feind ist häufig der "Antichrist",
wobei Namen und Inhalte kontextuell rasch wechseln können. Die sichtbare
Welt gilt als der Kampfplatz zwischen Teufel und Gott. Aus der Dämonisierung
der Welt resultieren bestimmte Endzeiterwartungen - d.h.: Die fundamentalistische
Zukunftsperspektive ist apokalyptisch bestimmt. Ihre Anhänger deuten
die symbolträchtigen prophetischen und apokalyptischen Trostschriften
der Hebräischen Bibel und des Neuen Testaments zu konkreten göttlichen
Fahrplänen für den geschichtlichen Werdegang um. Die Schrecken
der Gegenwart und der nahen Zukunft ("Dritter Weltkrieg") werden
mit einem gewissen Kitzel beschworen - sie sind die Geburtswehen jenes
wiederkommenden Christus, der die kleine Schar der Erretteten aus der
Trübsal dieser Erde erlöst.
In der fundamentalistischen Spielart des evangelischen Christentums haben
wir es mit einer Gegenbewegung zum historisch-kritisch orientierten Protestantismus
der Neuzeit zu tun. Noch in seinem extremen (um nicht zu sagen: verzweifelten)
Abgrenzungsbegehren gehört der Fundamentalismus zur Kulturgeschichte
der Neuzeit: Seine Anhänger verkörpern eine anti-modernistische
Protestbewegung gegen die säkulare Welt des 20. und 21. Jahrhunderts.
3. Israel: ein libidinöser Fixpunkt
Was christliche Fundamentalisten glauben und denken, wie sie die
Welt zu deuten, aber auch zu verändern suchen - das geht in besonderer
Weise aus ihrem Verhältnis zum modernen Staat Israel hervor. Sie
erinnern sich vielleicht noch an die aufwendigen Plakataktionen der "Partei
Bibeltreuer Christen" im Vorfeld der zurückliegenden Bundestagswahlen.
Diese Minipartei hat allein vier der fünf außenpolitischen
Teilabschnitte ihres Grundsatzprogramms dem Thema "Israel" gewidmet.5
Was ist der Motor dieses Interesses?
Es ist der Aufstieg der zionistischen Bewegung, die massenhafte "Rückkehr"
von Juden in ihr biblisch verheißenes Land - nach zwei Jahrtausenden
des Exils. Dieses in der Tat erstaunliche, weil historisch einzigartige
Phänomen gilt unter religiösen Zionisten, aber auch im christlichen
Verständnis weithin als ein sichtbarer Erweis der bleibenden Treue
Gottes: zu seinen Zusagen im Allgemeinen und zu Israel im Besonderen.
Die jüdische Rückwanderung wird als ein eschatologisches Zeichen
der Hoffnung begriffen.6
Fundamentalisten ist diese Deutungsperspektive viel zu vage: Die Aliya,
den zionistischen "Aufstieg" nach Israel, deuten sie umstandslos
als "göttliche Rückführung in das Land der Verheißung".
Demnach ist die Gründung des Staates Israel 1948 der Beginn der messianischen
Endzeit - der Beweis, dass die Wiederkunft Christi nahe bevorsteht.
Die israelische Besetzung des arabischen Ost-Jerusalems und die Eroberung
biblischer Territorien des Westjordanlandes im Sechstagekrieg von 1967
hat christlichen Fundamentalisten - ähnlich wie Teilen der jüdischen
Orthodoxie - einen gewaltigen Israel-Kick versetzt. Seither
ist der jüdische Staat zu einem geradezu libidinös besetzten
Fixpunkt geworden.
Weiteren Auftrieb erhielten fundamentalistische Kräfte 1977, als
mit der Regierungsübernahme des Likud-Blockes ein Bündnis aus
rechtszionistischen und nationalreligiösen Strömungen tonangebend
wurde. Diese Kräfte trieben die jüdische Besiedlung von "Samaria"
und "Judäa" voran.
Wie ist diese Entwicklung zu erklären? Die Arabische Liga hatte der
israelischen Seite schon kurz nach dem Sechstagekrieg 1967 - auf dem Gipfel
von Khartum - ihr dreifaches "Nein" entgegengeschleudert: "Nein
zur Anerkennung Israels! Nein zu Verhandlungen! Nein zum Frieden mit Israel!"
Musste da nicht die Versuchung groß sein, insbesondere die Westbank
als ein weiteres zionistisches Projekt zu begreifen - die Linken eher
unter sicherheitspolitischen Motiven, die Rechten zusätzlich nationalreligiös
inspiriert? Zehntausende Israelis, angelockt durch staatliche Subventionen,
ließen sich vor allem im Großraum Jerusalem nieder.
Dass dieser Prozess Ende der 70er Jahre vor allem unter religiösen
Vorzeichen Gestalt annahm, war ganz nach dem Geschmack christlicher Fundamentalisten:
Sie glauben in der israelischen Siedlungspolitik den Vollzug göttlicher
Heilsgeschichte erkennen zu können. Da ist es nur konsequent, dass
der Verein "Christen an der Seite Israels", dessen deutsche
Geschäftsstelle sich im nordhessischen Zierenberg befindet, eine
Aktion unterhält unter dem Motto: "Helft den Juden nach Hause".
Die international operierende Organisation unterhält 16 "Stützpunkte"
in der Ukraine, Moldawien, Weißrussland und Russland; von dort haben
ihre Mitarbeiter mit einem "Exobus" zuletzt monatlich etwa 1.500
Personen zu Flughäfen gebracht, von wo aus sie nach Israel gelangten.
Außerdem unterhalten die christlichen Zionisten Projekte für
"die jüdischen Siedler in Judäa und Samaria" - mit
dem Schwerpunkt in Ma'aleh Adumim. Ähnliche Projekte verfolgt der
Hamburger Verein "Ebenezer Hilfsfonds" unter dem Motto "Operation
Exodus".
Nationalistische Kreise in Israel mögen diese Aktivitäten begrüßen.
Doch wissen sie wirklich, mit wem sie es zu tun haben? - Der Leiter des
Exobus-Projekts begründet die protozionistischen Aktivitäten
seines Vereins mit einem göttlichen "Erweckungsplan":
"Wenn das jüdische Volk in der ganzen Welt zerstreut bleibt
und nicht wieder nach Israel zurückkehrt, wird es nicht in der Lage
sein, Vergebung, ein neues Herz und einen neuen Geist zu empfangen. [
]
Die Lösung: [
] Gott ruft uns auf, das jüdische Volk heimzubringen."7
Auf der vereinseigenen Website wird die missionarische Motivation noch
deutlicher: Demzufolge setzen die "Christen an der Seite Israels"
darauf, dass das "auserwählte Volk (ganz Israel)
zur Erkenntnis des Messias kommt."8
4. Who is who? Gruppen - Vernetzungen - Rivalitäten
Im Dunstkreis etablierter, aber kränkelnder Kirchen wuchert im heutigen
Deutschland eine schier unübersichtliche Israelszene - ein Eldorado
für Enthusiastiker ebenso wie für Neo-Apokalyptiker. Drei Hauptströmungen
lassen sich ausmachen:
4.1. Charismatisch-pfingstlerische Strömungen
Die vitalsten fundamentalistischen Pro-Israel-Kräfte sind heutzutage
dem charismatisch-pfingstlerischen Spektrum verbunden. Sieben "nationale
Israelwerke" haben sich Mitte Oktober 2002 zu einem "Beziehungs-
und Aktionsforum" zusammengeschlossen. Sie waren schon bei den genannten
christlichen Pro-Israel-Demonstrationen die treibenden Kräfte gewesen.
Aus der Vielzahl charismatischer bzw. pfingstlerischer Israelinitiativen
möchte ich drei vorstellen:
a) die Darmstädter Marienschwesternschaft - eine traditionsreiche
evangelikale Ordensgemeinschaft: Die Ordensfrauen verbinden glühende
Endzeithoffnungen mit enthusiastischer Israelliebe. Sie betätigen
sich publizistisch und sozialdiakonisch für Israel: Unter anderem
unterhalten die Schwestern ein Altenheim für ehemalige KZ-Häftlinge.
In die aktuelle Tagespolitik, das unterscheidet sie von anderen fundamentalistischen
Gruppen, mischen sie sich nicht ein. Schlichte christliche Überzeugungskraft
ist ihnen wichtiger als die Verbreitung apokalyptischer Geschichtsszenarien.
b) Höchst politisiert tritt dagegen die Internationale Christliche
Botschaft Jerusalem (ICEJ) auf: 1980 - nach einem entsprechenden Parlamentsbeschluss
("Jerusalem-Gesetz") - vollzog die israelische Regierung auch
formell die Annexion Ost-Jerusalems. Die internationale Öffentlichkeit
verweigerte ihre Zustimmung; noch heute befinden sich die meisten ausländischen
Botschaften nicht in Jerusalem, sondern in Tel Aviv. Genau in dieser Zeit
gründeten christliche Fundamentalisten aus aller Welt in Jerusalem
die "International Christian Embassy" - als Zeichen der Solidarität
mit dem neuen Status Groß-Jerusalems als der "ewigen Hauptstadt
Israels". Das offizielle Israel begrüßte diese Sympathiebekundungen.
Zu den Aktivitäten der "Botschaft" gehören PR-Aktionen
zugunsten Israels (Zeitschriften, Newsletters, Flyers usw.), christliche
Zionistenkongresse, aber auch die Förderung und Vermittlung israelbezogener
Projekte. Jährlicher Höhepunkt ist eine "christliche Feier"
während des jüdischen Laubhüttenfestes - nach eigenen Angaben
inzwischen "die größte touristische Veranstaltung in Israel".
Auch der deutsche Zweig, ansässig in Stuttgart, ist in seinen Äußerungen
und Aktivitäten hoch politisiert. Das ICEJ-Netzwerk ist u.a. verlinkt
mit der Website von Hal Lindsey, der zu den radikalsten christlich-fundamentalistischen
Apokalyptikern in den USA gehört und in den 80er Jahren einer der
religionspolitischen Berater von Ex-Präsident Ronald Reagan war.
c) Eine kaum weniger einflussreiche Israel-Arbeit verbindet sich mit dem
Namen Ludwig Schneider. Dieser Mann wird in der einschlägigen Szene
wie ein Guru verehrt. Die Gründung des Schneider'schen Lebenswerkes
geht auf das Jahr 1974 zurück, als der charismatische Fundamentalist
bei Düsseldorf einen Verein namens "Israel-Hilfe" gründete.
Respektable Immobilienkäufe führten jedoch bald zu einem Konkursverfahren
- angeblich soll Schneider Spenden in fünf- bis sechsstelliger Größenordnung
abgezweigt haben. Daraufhin setzte sich der umtriebige Israel-Freund mit
Frau und Kindern in das Land seiner Träume ab. Schneider ist 1978
mit einem Touristenvisum - und nicht über die Jewish Agency - nach
Israel eingereist, obwohl er ansonsten gern kolportiert, er sei jüdischer
Herkunft.9
In Jerusalem gründete Schneider ein evangelikales Pressezentrum.
Dort gibt er allmonatlich das deutschsprachige Magazin "Nachrichten
aus Israel" (NAI) heraus - mit politisch-religiösen Informationen,
Reportagen und Kommentaren aus der Region. Das Hochglanzmagazin präsentiert
sich in einer Mischung aus christlichem Philosemitismus und rechtszionistischem
Antiarabismus. Nach den Wahlniederlagen der Sozialdemokraten Shimon Peres
(1996) und Ehud Barak (2001), denen der "Ausverkauf Israels"
vorgeworfen worden war, gerierte sich das Blatt jeweils ausgesprochen
triumphalistisch.10
Der geschäftstüchtige Pfingstler unterhält seit Jahren
eine "Jerusalem-Hotline": Gegen eine Jahresgebühr kann
der Anrufer von einem automatischen Anrufbeantworter ("Stimme aus
Jerusalem") täglich israelbezogene Neuigkeiten "aus erster
Hand" erfahren - "ihr direkter Draht nach Zion", wie es
in Anzeigen zu den einminütigen Spots heißt.
Während Sinn suchende Säkularisten zu Yoga- und Ikebana-Workshops
in die Toskana pilgern, brechen moderne Fundamentalisten zu mystisch anmutenden
Wüstenexpeditionen in Israel auf. Auch Schneider ist dabei - in einer
Werbeannonce stellt er eine "ganzheitliche Konfrontation mit der
Prophetie" in Aussicht:
"Einzug in die [
] mitten in der Wüste Sin errichtete Zeltstadt.
Viereinhalbtägiges Seminar in der Wüste: Prophetie der
Endzeit mit Ludwig Schneider [
] und messianischen Juden. [
]
Am Lagerfeuer israelische Volkstänze und Lieder. Mit Jeeps quer durch
die Wüste zum Gottesdienst am Mose-Altar vor dem Gottesberg Har
Karkom. In der Zeltstadt Seelsorgerdienste, Vorträge und Schattenzelte
für Stillezeit und Gebetsgemeinschaften. [
] Es ist wichtig,
das politische Geschehen im Licht der Bibel und direkt vor Ort zu betrachten
- mit innerer Verarbeitung in der Wüste - dort, wo auch Gott seine
Propheten zur Abklärung hinschickte."11
Wer ist dieser Mann, der sich mal als "Pastor" ausgibt, dann
wieder unter der Berufsbezeichnung "Journalist" oder gar als
"Kriegsberichterstatter " firmiert, obwohl er nie Theologie
oder Journalismus studiert hat. Ist er ein "Betrüger" und
"Hochstapler", wie gelegentlich kolportiert wird, oder einfach
nur ein pfiffiger Geschäftsmann, der erfolgreich eine
Lücke auf dem religiösen Markt der Möglichkeiten ausfüllt?
Kritischen Hinweisen und Recherchen in der Presse12 begegnet Schneider
mit der Klage, er sei das Opfer einer "Verleumdungskampagne".13
Bis heute tritt Schneider bundesweit auf - mit beträchtlicher Resonanz
und Abertausenden von Zuhörern.
Im Juli 2002 hat Schneider seinem Sohn Aviel die Tagesgeschäfte übergeben.
Um sich den Netzwerkcharakter der fundamentalistischen Israel-Szene klar
zu machen: Schneiders Sohn Doron arbeitet seit geraumer Zeit an leitender
Stelle in der "Internationalen Christlichen Botschaft " - dort
ist er verantwortlich für die "Administration". Dennoch
ist der Unternehmensgründer Ludwig Schneider bis heute Spiritus Rector
der "Schneider-Mafia.14"
4.2. Traditionelle evangelikale Initiativen
Auch die meisten Pietisten sowie konservativen Landes- und Freikirchler
sind heutzutage proisraelisch eingestellt. Entsprechende Israelorganisationen
bündeln und verstärken die milieuspezifischen Befindlichkeiten:
1980, als der jüdische Staat Ost-Jerusalem seinem Staatsgebiet angliederte,
gründete im hessischen Wetzlar Fritz May, ein ehemaliger freikirchlicher
Pastor, den Verein "Christen für Israel". Adressaten sind
Israelfreunde innerhalb der Evangelischen Allianz: Israelveranstaltungen,
Israelreisen sowie eine emsige publizistische Arbeit spiegeln die Aktionsformen
des Vereins wider.
In Israel unterstützt Fritz May diverse Hilfsprojekte: Hauptempfänger
sind kleine "messianische" Gruppen im Lande, aber auch medizinische
Einrichtungen - etwa für die religiöse Bar-Ilan-Universität.
Angesichts von Mays Breitenwirkung übt die Mischung aus publizistischer
PR-Arbeit und Spenden-Akquise eine beträchtliche Wirkung aus - bis
hinein in staatliche israelische Kreise. "Warum sollten wir gegen
jemanden Vorbehalte haben, der so viel Gutes für Israel tut?"
So verteidigte mir gegenüber ein israelischer Diplomat die guten
Arbeitsbeziehungen zum Verein "Christen für Israel".
Dank seiner Sponsorenarbeit konnte Fritz May eine reiche Ruhmesernte einfahren:
Der Jüdische Nationalfonds KKL ernannte den deutschen Theologen zum
"Ehrenbürger des Negev" (May hat in 20 Jahren über
den KKL mehr als 80000 Bäume pflanzen lassen). Das Jerusalemer Stadtparlament
verlieh ihm als drittem Deutschen den Titel "Getreuer von Jerusalem"
- die reputierlichste Auszeichnung der Stadt Jerusalem für ausländische
Wohltäter.15 Dann folgte noch die Verleihung der Ehrendoktorwürde
durch die religiöse Bar-Ilan-Universität: "in der 2000-jährigen
Geschichte der Beziehungen zwischen Juden und Christen [
] die höchste
Auszeichnung einer jüdischen Universität [
] für einen
deutschen evangelischen Theologen", wie May stolz vermeldete.16
Was selbst seriöse deutsche Israelfreunde und ihre israelischen Partner
gerne übersehen, sind Mays fragwürdige politische Verbindungen.
Solange es seine eschatologischen Erwartungen erlauben, schließen
Mays Flirts auch das rechtsradikale politische Spektrum Israels ein: Nur
vierzehn Tage vor den israelischen Parlamentswahlen - Anfang Mai 1999
- organisierte der evangelikale Israelsponsor wieder einmal eine deutschlandweite
Tagung. Prominentester Redner in der Stadthalle des hessischen Städtchens
Wetzlar war Elyakim Ha'etzni, führender Vertreter der nationalistischen
Siedlerbewegung im Westjordanland.17
In seinem Geltungsdrang ist May auch vor apokalyptischen Versuchungen
nicht gefeit. Kurz vor der Millenniumswende äußerte er die
Erwartung, "dass durch ein erneutes Zeichen Gottes [
]
bald der verhasste Schandfleck Jerusalems, der Felsendom mit
der El-Aksa-Moschee, zerstört wird und an alter biblischer Stätte
auf dem Tempelberg endlich der Tempel wieder aufgebaut wird. Damit der
Messias kommen kann."18
Politischer Arm der evangelikalen Rechten ist die schon erwähnte
"Partei Bibeltreuer Christen" (PBC), die mit ihren Plakataktionen
Zeichen für einen proisraelischen Stimmungswandel setzen möchte:
Doch ihr moralischer Rigorismus gegen den allgemeinen "Sittenverfall",
ihre puritanischen Kampagnen gegen Homosexualität und Feminismus
(um nur zwei der zahlreichen Reizwörter zu nennen), verschreckt selbst
viele ihrer potenziellen Anhänger. Immerhin: Bei der zurückliegenden
Bundestagswahl konnte die PBC ihren Stimmenanteil von 71989 auf 101553
aller Zweitstimmen steigern.
Nicht alle theologisch konservativen Christen sind mit der kritiklosen
Begeisterung für Israel einverstanden. Wie in anderen gesellschaftlichen
Milieus auch, erhitzt das Thema "Israel" die Gemüter und
polarisiert die Menschen: Ein Beispiel dafür ist der in evangelikalen
Kreisen hoch angesehene Pfarrer Jürgen Blunck. In einem Gastkommentar
für die Nachrichtenagentur "idea Spektrum" bezeichnete
sich Blunck 2002, auf dem Höhepunkt der zweiten Intifada, als "Freund
Israels"; freilich müsse er, gleich dem Propheten Jeremia, die
israelische Politik verurteilen - auch auf die Gefahr, dafür als
"Verräter" gebrandmarkt zu werden. Doch statt sich auf
eine sachbezogene Kritik zu beschränken, ereiferte sich Blunck über
den angeblichen "Staatssterrorismus" Israels und verharmloste
den organisierten Terror der islamistischen "Hamas" und der
säkularen "Al Aksa-Brigaden" Yassir Arafats als "Individualterrorismus".
Israel unter Sharon handele "stolz und hart". Und als ob Israel
ein Gottesstaat wie der Iran wäre (und nicht der einzige demokratische
Rechtsstaat im Nahen Osten), fuhr Blunck fort:
"Was für ein Bild von Gott präsentiert Israel durch sein
Handeln der Welt? Das Bild eines rachsüchtigen, brutalen, internationales
Recht verachtenden Gottes! Nein, so habe ich Gott durch Jesus nicht kennen
gelernt. Jesus ist anders".19
Man kann sich den Aufschrei und die Empörung in der
evangelikalen und fundamentalistischen Israelszene vorstellen: Wochenlang
beherrschten Leserbriefe und Gegenartikel das "idea-Spektrum".
Der Skandal schlug über "idea" hinaus Wellen, weil er einmal
mehr zeigte, wie schwer es hierzulande vielen auch wohlmeinenden Zeitgenossen
noch immer fällt, Kritik an Israel zu üben, ohne auf der Klaviatur
judenfeindlicher bzw. antisemitischer Ressentiments zu spielen.
4.3. Antizionistische und antisemitische Zirkel
Auch und gerade in christlich-fundamentalistischen Kreisen hat der
millionenfache deutsche Massenmord an den europäischen Juden eine
Metanoia eingeleitet. Unter dem Schock von Auschwitz haben einige unter
ihnen allerdings das Pendel so weit ausschlagen lassen, dass sie die Balance
verloren haben - sie betreiben einen Israelkult, der eine verblüffende
Geistesverwandtschaft mit den weltherrschaftlichen Topoi des traditionellen
Antisemitismus erkennen lässt. So heißt es im Israelbuch (Vorwort)
eines Wuppertaler Missionsdirektors: "Israel ist als Land, als Volk
und als heutiger Staat Gottes erwähltes Eigentum und bricht nun nach
drei Jahrtausenden vor unseren Augen auf, um die Weltherrschaft anzutreten!"20
Sind "wahre" Sachwalter christlicher Israelsolidarität
also diejenigen, deren Engagement besonders eindeutig, radikal
philosemitisch und laut zu vernehmen ist? Wie stabil ist die Israelliebe
von Organisationen, die mit Emphase und noch mehr Geld ungeniert Einfluss
auf Israels Politik gegenüber den Palästinensern zu nehmen suchen?
Aus der Antisemitismus-Forschung ebenso wie aus der Sozialpsychologie
wissen wir, wie rasch und unvermittelt Philosemitismus in Antisemitismus
umschlagen kann. Der Mechanismus ist stets nach dem gleichen Muster gestrickt:
Überschwengliche Zuneigung gebiert Enttäuschung über unerwartetes
"Fehlverhalten"; ein plötzlicher Umschlag von Liebe in
Hass ist die Folge.
Das schon zitierte "idea-Spektrum" stellte schon vor einigen
Jahren Spekulationen an, ob nicht die proisraelische Stimmung unter Christen
angesichts "jüdische(r) Kritik am christlichen Glauben"
"gekippt" werde. Anlass war ein kritischer Zeitungsartikel Michel
Friedmans - "ausgerechnet in der Karwoche", wie es vorwurfsvoll
im Editorial der Wochenzeitschrift hieß.21 Das alles - damals kaum
beachtet - hört sich aus heutiger Sicht wie ein Vorspiel zu den Möllemann'schen
Eskapaden an.
In einem Informationsbrief der rechtskonservativen "Bekenntnisbewegung
Kein anderes Evangelium" habe ich folgenden Appell gelesen:
"Wir müssen erkennen, dass der Geist der orthodoxen Juden wie
der Geist des Islams gleichermaßen gegen den gekreuzigten Gottessohn
kämpfen. Wir sollten von einem gut gemeinten Philosemitismus Abschied
nehmen und Israel so lieben, wie es in Wirklichkeit ist".22
Aber wie "ist" Israel "in Wirklichkeit"?
- Auch im evangelikalen Spektrum des deutschen Protestantismus ist der
israelbezogene Spielraum größer, das "Ende der Schonzeit"
eingeläutet geworden. Gewiss gibt es keinen Grund zu Alarmismus oder
gar Panik; es gibt keine empirisch wahrnehmbaren Indizien für eine
gesellschaftlich relevante Judenfeindschaft unter christlichen Fundamentalisten.
(Das Problem der "Mission" sei hier zunächst einmal ausgeklammert.)
Was aber sehr wohl registriert werden muss, sind ausgesprochen unappetitliche
Erscheinungen in winzigen subkulturellen Segmenten: So verurteilte 1995
das Fürther Amtsgericht den Nürnberger "Straßenprediger
" Norbert Homuth zu vier Monaten Freiheitsstrafe mit Bewährung
und einer Geldbuße von 1000 Mark - wegen "Volksverhetzung ".
In einer Flugschrift hatte Homuth u.a. Folgendes behauptet:
"Erstens verfolgen sie [die Juden, MK] zu allen Zeiten
die Boten Gottes, die zu ihnen gesandt sind, um ihnen Gottes Schelte zu
überbringen, ja sie töteten sogar den höchsten Abgesandten
Gottes, seinen Sohn. Bis heute hat sich das nicht geändert. Wenn
es auch nur einer wagt, ihnen Gottes Wort vorzuhalten, und sie zur Buße
zu rufen, hängen sie ihm einen Prozess an, schwingen die Auschwitz-Keule
und ruhen nicht, bis sie ihn restlos fertig gemacht haben. Der zweite
Grund liegt in ihrer menschenverachtenden Haltung den Nichtjuden gegenüber,
womit sie praktisch den Antisemitismus selbst schüren." 23 Vor
dem Einzelrichter wies der Straßenprediger jeglichen Antisemitismus
von sich - mit den stereotypen Worten philosemitischer Judenfeinde: "Ich
liebe die Juden."24
Ein zweites Beispiel sind die von Dieter Braun betriebenen Aktivitäten
des Morgenland-Verlages im süddeutschen Salem. In der gleichnamigen
Zeitschrift wird vorexerziert, wozu eine fundamentalistisch motivierte
Israelfeindschaft fähig ist: In einem Beitrag über das "wahre
und das falsche Israel" heißt es:
"Hinter diesen genannten geheimen Machenschaften verbirgt sich die
internationale Verschwörung des babylonischen Logen-Judentums, das
weltweit an den Schaltstellen der Macht sitzt [
]. Wir erleben es
heute, wie es das Weltjudentum wiederum versucht, biblische Prophetie
zu erfüllen, und an der Spitze ihres Programms stehen die Aktivitäten
der Zionisten. Doch auch das ist dem völligen Untergang geweiht [
]."25
Seit Ende der neunziger Jahre tobt sich Brauns Antisemitismus
hemmungslos aus:
"Wer steht hinter der UNO und ihren angeschlossenen Gremien, vor
allem dem Internationalen Währungsfonds? Wer kontrolliert das Geld
in dieser Welt und die Massenmedien, die dieses Verderbens-Konzept des
Antichristen als Heilsrezept für die Probleme der Welt propagieren
und durch alle Länder peitschen? Es sind Angehörige jenes Volkes,
von dem sich viele haben täuschen lassen, es als Volk Gottes anzusehen
und anzuerkennen."26
Verwundert es da, dass die Morgenland-Gruppe die Schoah
verharmlost oder auch implizit leugnet? In den letzten Jahren hat sich
in der lose organisierten Gruppe eine nahtlose Verschmelzung protestantisch-fundamentalistischer
und rechtsextremistisch-antisemitischer Einstellungen vollzogen. Nach
meiner Kenntnis ist davon auszugehen, dass sich inzwischen auch der Verfassungsschutz
dieses Problems angenommen hat - das ist übrigens auch die Überzeugung,
die in rechtsradikalen Winkelblättchen kolportiert wird.27 Die Braun-Organisation
muss als ein Menetekel begriffen werden, wozu ein fundamentalistischer
Antisemitismus noch heute fähig ist, wenn er aus dem Latenz-Stadium
heraustritt.
5. Land gegen Frieden?
Hardcore-Fundamentalisten sind nicht nur davon überzeugt, dass der
Staat Israel endzeitlich eine weltgeschichtlich herausragende Rolle spielt:
Ähnlich wie nationalreligiöse Strömungen im Zionismus beschwören
sie ein Großisrael, das auf einer biblizistisch motivierten Aktualisierung
der klassischen Landnahmeverheißungen beruht. Jeder weiß,
dass bei der Wiederaufnahme des Friedensprozesses dem Staat Israel eine
Reihe territorialer Konzessionen abverlangt werden. Die Formel "Land
gegen Frieden und Sicherheit" ist inzwischen auch innerhalb der Regierung
Sharon mehrheitsfähig geworden. Die Aufgabe biblischen Landes ist
aber in der Lesart der neuprotestantischen Orthodoxie ein illegitimer
Eingriff in den deterministisch vorgezeichneten göttlichen Heilsfahrplan.28
Sollte in nächster Zeit der erstarrte nahöstliche Verständigungsprozess
wieder in Bewegung kommen, käme das Weltbild der Fundamentalisten
erneut gehörig ins Wanken: kein Großisrael auf dem biblisch
verheißenen Boden, sondern zwei koexistierende Staaten zwischen
Jordan und Mittelmeer, keine konfrontative Zuspitzung, keine Aussicht
auf einen Dritten Weltkrieg. Wenn demzufolge ein potenzieller Friedensprozess
die eigene religiöse Identität bedroht, ist entschiedene Abwehr
angesagt. Vielen Fundamentalisten ist bereits der israelische Rückzug
aus Jericho unerträglich gewesen; erst recht aber wird die Übergabe
weiter Teile der abrahamitischen Stadt Hebron an die palästinensischen
Selbstverwaltungsbehörden als unheilvoll angesehen - eine Konzession
noch der rechtskonservativen Netanjahu-Regierung, die nicht einmal die
Regierungen Rabin/Peres durchzusetzen gewagt hatten. Dramatisch ernst
wird es den Eiferern aber beim Thema "Jerusalem".
In einem Werbeschreiben für eine Wüstenseminarreise erklärte
Ludwig Schneider auf dem Höhepunkt des Friedensprozesses an seine
"liebe(n) Freunde": "Jetzt ist Israel in weit größerer
Gefahr als damals [im Golfkrieg, MK]. Nun soll Israel von innen her zerstört
werden [
]. Darum bitte ich Sie vor Gott, sich dieser Aktionsreise
anzuschließen, um Teilhaber an Israels Errettung zu sein [
].
Israels Bündnis mit den Widersachern der Verheißung ruft uns
aus der Wüste heraus an die Front des Geschehens."29
Selbstredend gehören zu Schneiders Programm auch
"Solidaritätsreisen " zu Siedlern der Westbank und der
Golanhöhen - eigens konzipiert für die deutsche Sympathisantenszene.
Nach der Ermordung des israelischen Ministerpräsidenten Yitzhak Rabin
verschärfte sich die Tonlage noch einmal: Fritz May attackierte den
"gefährlichen Ausverkauf der biblischen Heimat Israels",
der "vom jüdischen Volkswillen weit entfernt" sei; denn:
"Rabin und Peres", so glaubt der Pastor aus Wetzlar zu wissen,
"sind nicht fromm, sondern gottlos."30 Mays zeitweiliger "Israelkorrespondent"
Rainer Schmidt deutete den Mord als göttliche "Warnung für
Israels Politiker".31 Noch obszönere Worte fand Friedrich Vogel,
"Missionsdirektor" der Freien Theologischen Fachschule im bergischen
Breckerfeld: "Gott hatte eingegriffen, bevor Rabin Monate später
seine Hand an Jerusalem hatte legen können!"32
Den Gipfel deutsch-christlicher Einmischung in die israelische
Innenpolitik leistete sich Schneider in einem Kommentar, dessen politisch-psychologische
Botschaft sogar im israelischen Parlament ein kleines Beben
auslösen sollte. Stein des Anstoßes war folgendes Zitat:
"So wie Hitler das Attentat des Juden Herschel Grynszpan
auf den deutschen Diplomaten in Paris, Ernst von Rath, dazu benutzte,
seine Reichskristallnacht gegen alle Juden zu legitimieren, so sehen jetzt
nach dem Anschlag auf Rabin [
] regierungstreue linke Gruppen ihren
Kampf gegen die jüdischen Siedler legitimiert."33
"Schockiert" über den Vergleich und die
pietätlose Berichterstattung des deutschsprachigen Blattes zeigte
sich daraufhin Ran Cohen, zu jener Zeit Fraktionssprecher der Meretz-Partei
in der Knesset. Im israelischen Rundfunk forderte Cohen die Justiz seines
Landes zu strafrechtlichen Maßnahmen und zur "sofortige(n)
Einstellung" von NAI auf. Doch abgesehen von einem kurzzeitigen Auslieferungsverbot
sollte dieser Vorstoß keine weiteren Konsequenzen zeitigen.34
1995/96 feierte Jerusalem seinen 3000. Geburtstag: Mitfeiernde waren auch
1500 Unterstützer eines "christlichen Zionisten-Treffens".
Unter den zugereisten Teilnehmern kamen allein 400 Aktivisten aus Deutschland,
um ihre Unterstützung der radikalen israelischen Rechten zu bekräftigen.
In der Abschlussresolution heißt es wörtlich: "Deshalb
verpflichten wir uns mit unserem Leben und den uns zur Verfügung
stehenden Mitteln zur Erreichung der hier ausgeführten Ziele und
Zwecke."35
Vor diesem Hintergrund werden kritische bzw. abweichende
Meinungen von radikalen Israel-"Freunden" unbarmherzig geahndet.
Fritz May etwa stieß die Warnung aus: "Wer gegen die israelische
Siedlungspolitik ist, ist gegen Gott, gegen seinen erklärten Willen,
gegen die Bibel. Der Teufel als Gegenspieler Gottes und seine Hilfstruppen
aus Atheisten, Arabern, Moslems, sozialistischen und gottlosen Israelis
und Christen werden deshalb alles tun, um Gottes endgeschichtlichen
Willen und Plan mit Israel zu verhindern."36
Ludwig Schneider kanzelte Anhänger des Friedensprozesses
als "Kinder der Nacht" ab - in Anlehnung an ein neutestamentliches
Diktum. Wen wundert's, dass Schneider anschließend ob dieser Wortwahl
auch in Deutschland nach seiner geistigen Nähe zu den Mördern
Rabins befragt wurde.37
Es kann nicht deutlich genug betont werden: Die genannten Gruppen treibt
nicht in erster Linie die Sorge um Israels Existenz und Sicherheit um;
vorgeblich "göttliche" Prinzipien stehen auf dem Spiel
- gemeint ist die Anbahnung apokalyptischer Strukturen im Nahen Osten.
Ludwig Schneider formulierte das Ziel christlich-fundamentalistischer
Israelsolidarität so: "1948 eroberte Israel das Land ohne Jerusalem
und 1967 eroberte Israel Jerusalem ohne den Tempelplatz - beim nächsten
Mal geht es um den Tempelplatz. Daher heißt dieser Krieg Heiliger
Krieg. [
] Zur Vollendung der Heilsgeschichte gehört der dritte
Tempel [
]. Es geht in Wahrheit also nicht um Politik, sondern um
den Sieg Gottes."38
Hier stoßen wir in einer selten so offen geäußerten
Weise auf den parallelen Nukleus einer christlich-fundamentalistischen
Variante des populärislamischen "Jihad"! In der Zeitschrift
NAI wurden auch schon einmal vorsorglich "die verheißenen Grenzen
des zukünftigen Israel [
] gemäß Hesekiel 47"
eingezeichnet - ohne den Badeort Eilat, aber einschließlich zentraler
Bestandteile Syriens (Damaskus!) und des größten Teils des
Libanon.39
Unschwer lässt sich die Erleichterung antizipieren, mit der in fundamentalistischen
Kreisen der tragische Niedergang des Friedensprozesses und die Regierungsübernahme
von Ariel Sharon aufgenommen wurde. Gleichwohl klingen inzwischen erste
Zeichen einer Enttäuschung über die tatsächliche oder vermeintliche
"Altersmilde" Sharons an: Der auch in Deutschland viel geschmähte
israelische Ministerpräsident scheint im Zusammenhang mit dem jüngsten
Friedensplan der "Road Map", dem Israel trotz einiger Bedenken
im Grundsatz zugestimmt hat, "schmerzhafte " territoriale Kompromisse
eingehen zu wollen - sofern endlich der genozidale Terrorismus palästinensischer
Gruppen auch von der neuen palästinensischen Führung als Problem
erkannt und glaubwürdig einzudämmen versucht wird.
6. Sind fundamentalistische Israel-Aktivisten gefährlich?
6.1. Sicherheitspolitisch: Pulverfass "Harmageddon"
Die große Mehrheit christlicher Fundamentalisten ist m.E. harmlos;
dennoch gibt es eine Sicherheitsproblematik: Schon vor der Millenniumswende
des Jahres 2000 führten israelische Polizeikräfte Übungen
zur Abwehr potenzieller Attentäter auf dem Tempelberg durch. Die
Regierung rüstete u.a. den Etat einer antiapokalyptischen Spezialeinheit
auf knapp 12 Millionen Euro auf. In Spitzenzeiten sind allein 430 Personen
für den Schutz des so genannten Tempelbezirks abgestellt. Alles soll
getan werden, um die Sprengung der Heiligtümer auf dem Tempelberg
zu verhüten, mithin drohende Blutbäder abzuwehren.
Alles nur Hysterie? Fakt ist: Bereits 1969 zündete der Australier
Dennis M. Rohan die Al-Aksa-Moschee an; seinerzeit konnte der Brand erst
nach Stunden gelöscht werden. Rohan hatte angenommen, Jesus werde
zurückkehren, wenn der Tempelbezirk wieder "befreit" sei.
Seither hat es etwa ein halbes Dutzend weiterer Versuche christlicher
(und jüdischer) Extremisten gegeben, den Felsendom in die Luft zu
sprengen. Khairi Dajani, leitender Mitarbeiter der islamischen Tempelberg-Verwaltung
(Al-Aksa-Moschee), erklärte auf Anfrage:
"Dies ist ein heiliger Ort. Er symbolisiert unsere
Geschichte, unseren Glauben. Ein Anschlag würde bedeuten, dass sich
Millionen von Muslimen in Europa, in Amerika, in Asien und in Afrika wie
ein Mann erheben würden. Das hieße Jihad. Oh, mein Gott, ich
darf daran gar nicht denken. Sollte der Fall dennoch eintreffen, die ganze
Welt stünde Kopf. Nicht einmal der Präsident der Vereinigten
Staaten kann sich ein Bild davon machen, was das bedeuten würde.40
Eine vergleichsweise harmlose Angelegenheit ist das so
genannte "Jerusalem- Syndrom" - eine Form religiöser Hysterie,
die bis dato unauffällige Pilger befällt, sobald sie nach Jerusalem
kommen. In den Gassen der Jerusalemer Altstadt, wo jeder einzelne Steinquader
"Heiligkeit" ausstrahlt, glauben einige Menschen die "Pforte
zum Himmel" zu finden. So ist Ende 2002 eine achtköpfige (!)
Familie in die Schlagzeilen geraten: Zunächst war sie sie im türkischen
Adana und später noch einmal in Jordanien gesichtet worden - unterwegs
in einem Fiat Panda nach Jerusalem. Den Eltern droht der Entzug des Sorgerechts,
nachdem ihre Kinder bettelnd und verwahrlost aufgegriffen worden sind.41
Die meisten Hysteriker sind allerdings, sobald sie Israel wieder verlassen,
gesund. Wirklich gefährlich sind allein jene, die aus Enttäuschung
über die ausgebliebene göttliche Parusie einen Amoklauf anzetteln
könnten, um die endzeitliche Apokalypse doch noch zu erzwingen.
6.2. Religionspolitisch: "Judenmission" im
Endzeitfieber
Nach den leidvollen jüdischen Erfahrungen mit christlichen Bekehrungsversuchen
haben die Kirchen zunehmend Abstand gewonnen von dem Ansinnen, Juden missionieren
zu wollen. Wegweisend im freikirchlichen Kontext ist die baptistische
"Handreichung" zum christlich-jüdischen Verhältnis
geworden. Dort wird ausdrücklich dazu aufgefordert, "das jüdische
Glaubens- und Lebenszeugnis zu achten" - und in "Predigt und
Unterricht [
] das Selbstverständnis des Judentums hinreichend"
zu berücksichtigen.42 Sogar in dezidiert evangelikalen bzw. fundamentalistischen
Kreisen ist die herkömmliche "Judenmission" in Verruf geraten.
Gleichwohl bezeichnend ist die Wortakrobatik der Arbeitsgemeinschaft "Christen
für Israel":
"Wir sind gegen die Judenmission im traditionellen
kirchengeschichtlichen Sinn, die meist darin bestand, die Juden aus ihrem
Judentum zu lösen und zu Christen, in der Regel zu guten Lutheranern
oder Katholiken, zu machen. [
] Wir sind aber für das Christuszeugnis
an Israel. Dadurch wollen wir jedoch keinen Juden missionieren und zu
einem Christen machen, da wir meinen, dass sowohl Deutsche als auch Christen
wegen ihrer historischen Vergangenheit [
] nicht besonders geeignet
sind, Juden zu missionieren. Es geht uns vielmehr darum, dass ein Jude
[
] in Jesus seinen Messias erkennt und ein Nachfolger Jesu Christi
wird."43
Dieses Herumeiern - eine eher zögerliche
Form christlichen Sendungsbewusstseins - war in fundamentalistischen Kreisen
Jahrzehnte lang vorherrschend; noch heute lehnen viele von ihnen Mission
an Juden ab (z.B. Ludwig Schneider). Das geschieht z.T. aus Überzeugung,
aber auch aus Kalkül: Offene Missionsarbeit würde fundamentalistischen
Organisationen die legale Arbeitsgrundlage in Israel entziehen.
Doch diese fragmentarische Sensibilität ist hierzulande wieder ins
Wanken geraten - im Zuge der Zuwanderung osteuropäischer Juden nach
Deutschland. In rechtskonservativen Kreisen der evangelischen Kirche wird
wieder der antijudaistische Topos ausgegraben, wonach "die Synagoge"
als "Symbolfigur" der Judenheit "bis zum heutigen Tage
von einer Binde vor den Augen" gezeichnet sei - "als Zeichen
ihrer geistlichen Blindheit".44 Aus charismatischen und pfingstlerischen
Kreisen - erinnert sei an den Verein "Christliche Freunde Israels"
um Harald Eckert (Altensteig) - ist zu hören, dass deutsche Christen,
die so viel Leid über die Juden gebracht haben, verpflichtet seien,
gerade jetzt dem jüdischen Volk Gutes zu tun - d.h. es offensiv mit
dem Evangelium zu konfrontieren (in einem Rundbrief ist diesbezüglich
von einer besonderen "Berufung Deutschlands" die Rede).45
Der "Evangeliumsdienst für Israel" in Baden-Württemberg,
der auch in Teilen der württembergischen Landeskirche hoch angesehen
ist, hat in den neunziger Jahren einen Missionar für die Zielgruppe
"Juden" eingestellt. Zusammen mit befreundeten Organisationen
bringt der "Evangeliumsdienst " die Zeitschrift "Menora"
heraus; mit Hilfe von etwa 50000 Exemplaren sollen weltweit Juden missioniert
werden. 1998 verfassten rund 100 messianische Gläubige aus ganz Deutschland
13 "Glaubensartikel " in russischer Sprache. 1999 gründeten
Hauskreise und Gemeinden die "Allianz messianischer Juden in Deutschland".46
Deutschlandweit versuchen fundamentalistische Gruppen, Juden zum christlichen
Glauben zu führen: Ihre primären Adressaten sind Zuwanderer
aus Osteuropa. Insbesondere jene, die ihre genuin jüdischen Wurzeln
in den kommunistischen Herkunftsländern verloren haben, sind empänglich
für missionarische Bemühungen - besonders, wenn die eifrigen
Akteure nicht nur die christliche Botschaft feilbieten, sondern jüdischen
Neubürgern mit Herzenswärme und praktischer Lebenshilfe begegnen.
In Berlin wie auch in anderen deutschen Städten haben sich so genannte
"messianische" Gruppen und Hauskreise gebildet. Längst
finden auch Taufen statt. In der Evangelisch-Freikirchlichen Gemeinde
Berlin-Lichterfelde-Ost treffen sich jeden Samstag Nachmittag etwa 80
Menschen, die jüdische Identität mit dem Glauben an die Messianität
des Jesus von Nazareth zu verbinden suchen. "Beit Sar Shalom",
wie die Gruppe sich nennt, ist der deutsche Zweig des internationalen
jüdischmessianischen Missionswerkes "Chosen People Ministries".47
Bedeutet die christliche "Judenmission" eine Gefahr für
die Existenz des Judentums? Ist sie eine obszöne Zumutung, eine spirituelle
Fortsetzung des Holocausts, wie der frühere Stuttgarter Landesrabbiner
Joel Berger argwöhnt? Oder ist die christliche Mission auch an Juden
eine logische Konsequenz christlicher Identität, die ja auf Einladung
und Inklusion prinzipiell aller Menschen drängt?
Einerseits: Wenn Menschen christlichen Glaubens missionarische Flyer in
Synagogen verteilen, handelt es sich nicht nur um eine Verletzung der
guten Sitten; das ist ein respektloser Angriff auf die religiösen
Gefühle von Menschen, für die das Kreuz aus historischen Gründen
noch immer ein Schreckenssymbol ist. Insofern tun christliche Kirchen
gut daran, sich öffentlich von jenen fundamentalistischen Kreisen
abzugrenzen, die noch immer oder schon wieder einer besonderen "Mission"
gegenüber den Juden das Wort reden.
Andererseits: Die Gefahren sollten auch nicht überstrapaziert werden.
In einer pluralistischen Gesellschaft ist die Religionsfreiheit ein hohes
Gut. Jüdische wie nichtjüdische Menschen haben das Recht, ihre
jeweiligen Gemeinschaften zu verlassen und ggf. eine andere zu wählen.
Das Recht auf freie Konversion für jedermann (und jede Frau) ist
ein Menschenrecht.
Religionssoziologisch betrachtet leben wir alle - ob religiös
oder nicht - jeden Tag neu unter dem "Zwang zur Häresie",
denn wir müssen uns täglich neu entscheiden, wie wir das Leben
gestalten, welche sinnstiftenden Akzente wir setzen oder auch uns und
unseren Angehörigen verweigern. Das ist die Chance, aber auch die
Bürde, die uns unsere postmodernen Patchwork-Identitäten aufgeben.
Im Übrigen bin ich fest davon überzeugt, dass sich die jüdische
Seite in diesem pluralistischen Prozess auch mittelfristig behaupten kann.
Vielleicht vermag der empirische Befund bestimmte, historisch bedingte
und nachvollziehbare Ängste ein wenig entkräften: Ich kenne
zwar keine Statistik darüber, wie viele christliche Deutsche seit
1945 zum Judentum übergetreten sind; aber ihre Zahl ist deutlich
höher als die Zahl der Juden, die seither zum christlichen Glauben
konvertiert sind. So weit mir bekannt, sind in den Konversionskursen des
israelischen Oberrabbinats die Deutschen, gleich nach den Amerikanern,
die zweitgrößte Gruppe. Selbst in den USA, wo die Bewegung
"Jews for Jesus" noch ganz andere personelle und materielle
Ressourcen aufbieten kann, nehmen sich die missionarischen Erfolge mehr
als bescheiden aus. Existenzbedrohender sind hier wie dort auf lange Sicht
die Verlockungen der neoliberalen Postmoderne, wie sie z.B. in der dramatisch
wachsenden Zahl interreligiöser Eheschließungen zum Ausdruck
kommt.
7. Ausblick
Vielleicht denkt der eine oder andere: Die fundamentalistischen Gruppen
sind doch - zumindest hierzulande - ohne gesellschaftliche Bedeutung.
Ja, in der Tat: Ihr geistiger Aktionsradius spielt sich außerhalb
des öffentlich- rechtlichen Diskurses unserer Feuilletonspalten ab.
Wenn es eine Gefahr gibt, so ist sie nicht in einem imaginären gesellschaftlichen
Einfluss fundamentalistischer Eiferer begründet. Bedrohlicher ist
die religionspolitische Dynamik, die solchen international vernetzten
Bewegungen innewohnt. Bestimmte Ereignisse, vor allem nahostpolitische
Veränderungsprozesse (etwa in der Jerusalemfrage) könnten nachgerade
zum endzeitlichen Funken an der Lunte werden, falls sich spirituell erregte
Massen "erwecken" und zu unbedachten Handlungen verleiten ließen.
Der ideologische Bodensatz samt organisatorischer und publizistischer
Infrastruktur ist im Weltmaßstab seit Jahren vorhanden. In einem
2002 erschienenen Buch von Fritz May zur "Apokalypse über Jerusalem"
ist im Klappentext zu lesen:
"Über der Heiligen Stadt mit dem Tempelberg
tickt bereits eine Zeitbombe von apokalyptischer Spreng- und Zerstörungskraft.
Steht am Ende der Große Krieg? [
] Die biblische
Prophetie enthüllt, dass Jerusalem in naher Zukunft zum Schicksal
und Fluch für die Welt wird. Zum Schlachthaus der Völker
[
]. Danach aber zum Segen und Heil für die ganze Welt."
Diese sensationslüsterne Eschatologie sehnt die apokalyptische
Explosion herbei - wie eine sich selbst erfüllende Prophezeiung:
Wenn es drauf ankommt, können fundamentalistische Gruppen jedweder
Couleur auch in Deutschland mehr Menschen mobilisieren als Vereinigungen
wie die "Gesellschaften für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit"
oder die "Deutsch-Israelische Gesellschaft". Was, wenn entsprechende
Akteure den Kairos für gekommen ansehen? Was, wenn sie nach sichtbaren
Aktionen verlangen, die zur Erfüllung drängen
?
"Vorhang zu - und alle Fragen offen
"
Anmerkungen:
1 Überarbeiteter Vortrag vom 5. Dezember 2002 im
Jüdischen Gemeindehaus zu Berlin im Rahmen einer Veranstaltungsreihe
des Ständigen Arbeitskreises von Juden und Christen in Berlin zusammen
mit dem Katholischen Bildungswerk Berlin, der Gesellschaft für christlich-jüdische
Zusammenarbeit und der Evangelischen Akademie zu Berlin.
2 T. Axelrod, Manche Juden distanzieren sich von Demonstrationen deutscher
Christen für Israel (25. August 2002), in: www.jta.org/page_print_story.asp?intarticleid=11752
3 W. Penkazky, Israel - der dritte Weltkrieg - und wir. Ein Beitrag zu
aktuellen Fragen, Wuppertal 21994, 36.
4 Vgl. Th. Meyer (Hg.), Fundamentalismus in der modernen Welt. Die Internationale
der Unvernunft, Reinbek b. Hamburg 1989.
5 Vgl. "Partei Bibeltreuer Christen PBC. Die neue Kraft in Deutschland!
Grundsatzprogramm ", Karlsruhe 1990, 8f.
6 Beispielhaft der Synodalbeschluss der Rheinischen Landeskirche von 1980:
"Zur Erneuerung des Verhältnisses von Christen und Juden",
in: B. Klappert / H. Starck (Hgg.), Umkehr und Erneuerung, Neukirchen-Vluyn
1980, 264ff.
7 Israel Heute. Christen an der Seite Israels (Zierenberg), 16 (September
2002), 14.
8 www.deutschland-israel.de (Selbstdarstellung/Visionen: 2002).
Endzeitfieber und Pulverfass 147
9 Private Information.
10 Vgl. NAI (Jerusalem), 214 (Juni 1996): Titel-Aufmacher und Kommentar,
2.
11 NAI, 194/195 (Oktober/November 1994), 21.
12 Vgl. M. Kloke, Gestörte Endzeit. Das Israel-Engagement christlicher
Fundamentalisten, in: Evangelische Kommentare. Monatsschrift zum Zeitgeschehen
in Kirche und Gesellschaft
(Stuttgart), November 1995, 648ff.
13 Vgl. das Editorial von NAI. 196 (Dezember 1995), 30: "In nicht-nur-eigener
Sache. Man kann die Uhr danach stellen"; ders., Wenn die Wut kommt,
in: NAI, 291 (November 2002), 44.
14 So in einer ironischen Selbstbezeichnung, in: NAI, 290 (Oktober 2002),
44.
15 Vgl. "Christen für Israel" CFI (Wetzlar), 116 (November/Dezember
1998, 6.
16 CFI, 120 (Juni/August 1999), 8.
17 Vgl. a.a.O., 10.
18 F. May, Jerusalem vor dem großen Erdbeben, in: CFI, 122 (November/Dezember
1999), 8f.
19 idea-spektrum. Nachrichten und Meinungen aus der evangelischen Welt
(Wetzlar), 9 (27.2.2002), 3.
20 B. Malgo im Vorwort zu F. Vogel, Israel. Ein Mini-Mega-Staat im Aufbruch
zur Weltmacht, Beinwil am See (CH) 1998, 5.
21 idea-spektrum, 16 (20.4.1995), 2.
22 Informationsbrief der Bekenntnisbewegung "Kein anderes Evangelium"
(Lüdenscheid), 186 (Februar 1998), 20.
23 Glaubensnachrichten. Christlicher Informationsdienst (Erlangen), September
1994;
idea-spektrum, 31/32 (10.8.1995), 10.
24 Ebd.
25 D. Braun, Christus und der Antichrist VIII. Das wahre und das falsche
Israel, in: Morgenland. Biblische Prophetie in der Erfüllung (Salem),
5 (1994), 5f und 12.
26 Morgenland, 5 (1998), 5.
27 Vgl. Der Insider, 4 (1998), in: Morgenland, a.a.O., 14.
28 Vgl. idea-Spektrum, 20 (19.5.1994), 11: Der Frieden ist nicht sicherer
geworden. "Christen für Israel" gegen Gaza-Jericho-Abkommen;
16 (20.4.1995): Gegen die Rückgabe der Golan-Höhen. Theologe:
"Israel darf nicht zurückgeben, was Gott geschenkt hat".
29 NAI, 198 (Februar 1995), 26; 200 (April 1995), 26.
30 F. May, Abschied vom Westjordanland. Gegen den Willen Gottes, 98 (November/Dezember
1995), 2.
31 R. Schmidt, Die Schüsse von Tel Aviv, in: CFI, 99 (Dezember 1995/Januar
1996), 2.
32 F. Vogel, Israel. Ein Mini-Mega-Staat im Aufbruch zur Weltmacht, a.a.O.,
152.
33 L. Schneider, Das böse Alibi, in: NAI, 207 (November 1995), 30.
34 Vgl. Deutsche Welle Monitor-Dienst, 13.12.1995, 2; private Information.
35 Resolution des Dritten Internationalen Kongresses Christlicher Zionisten,
Jerusalem 1996 (Privatarchiv d. Vf.).
36 So in CFI, 106 (Februar/März 1997), 8.
37 Vgl. M. Morgenstern, Jerusalem zwischen Krieg und Frieden: Israel in
der Uno, Jesus in Gethsemane, Ludwig Schneider in Unterriexingen. in:
Neue Vaihinger Kreiszeitung, 20.2.1998.
38 NAI, 253 (September 1999), 28.
39 NAI, 254 (Oktober 1999), 28.
40 K. Dajani in der TV-Dokumentation "Die Invasion der Heiligen",
Buch/Regie: S. Aust (1999) im Auftrag des Hessischen Rundfunks.
41 Vgl. P. Bomans, Reise nach Jerusalem. Eine streng christliche Familie
aus Süddeutschland irrt durch Syrien Richtung Israel und lässt
ihre Kinder betteln, in: Der Tagesspiegel, 28.11.2002, 40; a.a.O., 26.7.2003,
28: "Wüstenfahrer"-Familie wieder in Süddeutschland).
42 Vgl. Bund Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden in Deutschland K.d.ö.R.,
Zum Verhältnis von Juden und Christen. Eine Handreichung für
die Gemeinden des BEFG (Hamburg, 7.5.1997), in: Bundesrat 1997, Drucksache
015.
43 CFI-Faltblatt, Wer wir sind. Was wir glauben. Was wir tun, Wetzlar
o.J.
44 B. Bonkhoff, Zum Israelsonntag am 11. August 1996, in: Informationsbrief
der Bekenntnisbewegung "Kein anderes Evangelium" 176 (1996),
34f, hier: 34.
45 H. Eckert, Unsere Vision und unser Auftrag, in: Rundbrief der Christlichen
Freunde Israels (Altensteig), Dezember 2001 (www.christliche-freunde-israels.de).
46 Vgl. idea-Spektrum, 37 (14.9.1994); Evangeliumsdienst für Israel
(EDI). Gesandt zu Israel. Ein Brief für Freunde, 24 (Januar 1995),
4 und 10f; idea-Spektrum, 17 (26.4.1995), 27; Flyer "Schma Israel":
Eine messianische Gemeinde stellt sich vor, Leinfelden-Echterdingen
o.J. (2000).
47 Vgl. den Flyer "Beit Sar Shalom Evangeliumsdienst e.V.":
Mehr messianische Juden für Deutschland!, Berlin o.J. (2000).
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von Jerusalem, Bergisch Gladbach 1999
Berkéwicz, U., Vielleicht werden wir ja verrückt. Eine Orientierung
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Arbeitskreises für Frieden im Nahen Osten, Bd. 20), Schwalbach/Ts.
21994 (aktualisierte und erweiterte Ausgabe)
-, Israel und die Apokalypse. Wahrnehmungen und Projektionen christlicher
Fundamentalisten in Deutschland, in: W. Benz (Hg.), Jahrbuch für
Antisemitismusforschung 6, Frankfurt a.M./New York 1997, 266-284
-, Mobilmachung im Millenniumsfieber. Israel und der christliche Fundamentalismus
in Deutschland, in: israel & palästina. Zeitschrift für
Dialog (Themenheft 59), Schwalbach/Ts. 2000
-, Zwischen Scham und Wahn. Israel und die deutsche Linke 1945-2000, in:
H.L. Gremliza (Hg.), Hat Israel noch eine Chance? Palästina in der
neuen Weltordnung (Texte 29), Hamburg 2001, 207-236
Klappert, W./Starck, H. (Hg.), Umkehr und Erneuerung, Neukirchen-Vluyn
1980
Meyer, Th. (Hg.), Fundamentalismus in der modernen Welt. Die Internationale
der Unvernunft, Reinbek b. Hamburg 1989
Penkazky, W., Israel - der dritte Weltkrieg - und wir. Ein Beitrag zu
aktuellen Fragen, Wuppertal 21994
Stone, R., Das Jerusalem-Syndrom (Roman). Deutsch von D. van Gunsteren,
Wien 2000
Vogel, F., Israel. Ein Mini-Mega-Staat im Aufbruch zur Weltmacht, Beinwil
am See (CH) 1998
Pragai, M.J., Sie wollen wieder wohnen in ihrem Land. Die Rolle von Christen
bei der Heimkehr der Juden ins Land Israel, Gerlingen 1990
Wolffsohn, M., Wem gehört das Heilige Land. Die Wurzeln des Streits
zwischen Juden und Arabern, München 1992
Dieser Artikel ist zuerst in der "Zeitschrift für
Theologie und Gemeinde" erschienen. Die Veröffentlichung erfolgt
mit freundlicher Genehmigung der "Gesellschaft für freikirchliche
Publizistik e. V." (GFTP), Hamburg, ZThG 9, 141-162, ISSN 1430-7820,
Copyright Verlag der GFTP 2004. Der Evangelische Arbeitskreis Kirche und
Israel in Hessen und Nassau dankt dem Autor für die Genehmigung zum
Nachdruck.
Martin Kloke ist Ethik-Redakteur in einem Berliner Schulbuchverlag und
Verfasser des Buches "Israel und die deutsche Linke. Zur Geschichte
eines schwierigen Verhältnisses"
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