"Auge um Auge" falsch verstanden
von Frank Crüsemann

Herr Crüsemann, wie kam es eigentlich dazu, dass wir heute von Altem und Neuem Testament sprechen?

Frank Crüsemann: Die nachbiblische Zeit hat geglaubt, das Judentum und damit auch dessen Bibel überwunden zu haben. Und so setzten sich die Bezeichnungen für die beiden Teile der christlichen Bibel durch, denn ein neues Testament setzt ja das alte oder erste außer Kraft. Dabei ist das Neue im Neuen Testament gar nicht so neu.

Doch Jesu Aufruf zur Nächstenliebe, der war doch neu?

"Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst" - das berühmte Jesus-Wort ist ein Zitat aus dem Alten Testament. Die alttestamentliche Liebesbotschaften und Gerechtigkeitsappelle werden vielleicht bei oberflächlicher Lektüre von den vielen Gewaltdarstellungen überdeckt. Aber schauen wir die Texte genau an, dann sehen wir darin eine Auseinandersetzung mit der Gewalt, die auf die Eindämmung von Gewalt, auf Gewaltfreiheit hinausläuft.

Das glaube ich nicht. "Auge um Auge, Zahn um Zahn" heißt es doch im Alten Testament.

Kein anderes Bibelzitat hat eine solche verhängnisvolle, falsche Auslegung erfahren wie dieses. Immer wieder wird die Maxime "Auge um Auge" als Legitimierung des Rechts auf Vergeltung herangezogen. Hingegen ist etwas ganz anderes gemeint: Schadensersatz vom Täter für den geschädigten Menschen, und zwar der Tat wie den Möglichkeiten des Täters angemessene Entschädigung.

Die Befürworter der Todesstrafe können also mit diesem Passus aus dem 2. Buch Moses nicht eine gottgegebene Vergeltungslogik für sich beanspruchen?

Keineswegs. Faktisch hat das Judentum keine Todesstrafe mehr gekannt. Es hat im Laufe der jüdischen Geschichte eine immer stärkere Verrechtlichung eingesetzt, die die Todesstrafe beinahe außer Kraft gesetzt hat. Die Todesstrafe durfte nur ausgesprochen werden, wenn mindestens zwei Zeugen die Bluttat beobachtet hatten. Es wurde zudem bereits damals unterschieden zwischen dem, was wir heute Totschlag und fahrlässige Tötung nennen, und einem beabsichtigten Mord. Der alttestamentliche Grundzug, Gewalt überwinden zu wollen, spiegelt sich auch in dieser Entwicklung.

Kirchenbote, Schweiz, 21.9.2005

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