Jüdische Kinder im Versteck
Berlin 1943-1945
von Beate Kosmala

Anne Frank und ihr Tagebuch aus dem Amsterdamer Versteck, das wohl meistgelesene Zeugnis der Shoah, sind zur Legende geworden. Ihre Geschichte hat dabei geholfen, das Schreckliche am Einzelfall zu begreifen. Aber das kluge Mädchen aus der Amsterdamer Prinsengracht darf uns nicht den Blick auf die vielen anderen Kinderschicksale verstellen, sondern soll uns heute zu ihnen führen. Mehr als eine Million Kinder in Europa wurden Opfer des von den Nationalsozialisten befohlenen Genozids, allein weil sie als jüdische Kinder geboren wurden. Sie wurden verfolgt, in Ghettos gepfercht, in Konzentrations- und Vernichtungslager verschleppt und ermordet. Nur wenige konnten entkommen.

Mit unserer kleinen Ausstellung lenken wir den Blick auf die Situation in Berlin, auf die Stadt der Täter, wo der Völkermord an den europäischen Juden geplant wurde. Wie Anne Franks Familie in Amsterdam suchten auch in der damaligen Reichshauptstadt Tausende Verfolgte verzweifelt einen Ausweg, um der Verschleppung in den Osten zu entkommen. Vielen wurde um Laufe des Jahres 1942 immer klarer, dass die Deportation in den Tod führen würde.

Alle Jüdinnen und Juden, denen die Emigration nicht rechtzeitig gelungen war, saßen seit Oktober 1941 in Deutschland in einer tödlichen Falle. Tausende Jungen und Mädchen hatten - ohne ihre Eltern - bis zum 1. September 1939 durch die so genannten Kindertransporte noch nach Großbritannien entkommen können. In Berlin sind in der Zeit vom Oktober 1941, dem Beginn der reichsweiten Transporte "in den Osten", bis Anfang 1945 5000-7000 jüdische Frauen, Männer und Kinder in den Untergrund geflüchtet, die meisten erst Ende 1942 und um den 27. Februar 1943, zum Zeitpunkt der "Fabrik-Aktion", als in einer reichsweiten Großrazzia alle jüdischen Zwangsarbeiter und ihre Angehörigen festgenommen und verschleppt werden sollten.

Die Flucht vor der Deportation bedeutete, keine offizielle Adresse mehr zu haben, "von der Oberfläche zu verschwinden", wie es eine Überlebende formulierte, sich scheinbar in Luft aufzulösen, nicht mehr erreichbar zu sein. Es bedeutet, ständig Angst vor Entdeckung haben zu müssen, keine Lebensmittel beziehen zu können. Viele haben sich lange auf diesen Schritt vorbereitet, andere entschlossen sich völlig überstürzt dazu. Von etwa 3500 der in Berlin Untergetauchten kennen wir Namen und Geburtsdaten. Etwa sieben Prozent, nämlich 220 von ihnen, waren Kinder bis zu 16 Jahren. Das wirft viele Fragen auf: Unter welchen Bedingungen haben mehrere Tausend Juden es gewagt, die Flucht in den Untergrund anzutreten? Wie haben sie Helfer gefunden? Wer waren diese Menschen, die ihnen dabei geholfen? Wer war bereit, Kinder, die das Regime zum Tode verurteilt hatte, nur weil ihre Eltern Juden waren, zu retten? Auch auf diese Fragen versucht die Ausstellung einzugehen. Es sind Fragen, die uns heute aufwühlen.

Für Jüdinnen und Juden mit Kindern war der Überlebenskampf im Untergrund, in der "Illegalität", wohl am schwierigsten. Die größten Probleme der Untergetauchten bestanden darin, sich falsche Papiere und damit eine andere Identität zuzulegen, Quartiere zu finden, Nahrung zu beschaffen, die ständige Angst vor Verrat auszuhalten, die Bombennächte entweder in Angst vor Entdeckung in Luftschutzkellern oder völlig ungeschützt zu überstehen. Mit Kindern wurde alles noch komplizierter. Die Eltern mussten bei den häufig auftretenden Kinderkrankheiten einen Arzt oder ein Krankenhaus finden, sie mussten ständig in Furcht leben, mit den Kindern aufzufallen, hinzu kam die Angst, dass die Kinder etwas ausplaudern könnten. All dies stellte "illegal" lebende Eltern vor schier unüberwindliche Schwierigkeiten. Leben im Versteck bedeutete nicht immer, verborgen in einem Raum zu leben, sondern sehr oft, sich unter falscher Identität in eine feindliche Umwelt hinauszuwagen.

Von den Kindern, die mit beiden Eltern oder einem Elternteil, - meist war es die Mutter -, oder allein untertauchten bzw. versteckt wurden, hat nur etwa ein Viertel die Befreiung erlebt. Von vielen dieser geretteten jüdischen Kinder aus Berlin kennen wir ihre Geschichte. Für die Ausstellung wurden exemplarische Beispiele ausgewählt. Wir sind den Zeitzeugen sehr dankbar, dass sie uns in dieser Arbeit unterstützt haben. Wie schwer dies oft heute noch fällt, zeigt das Beispiel eines Mannes, der zunächst eingewilligt hatte, seine Geschichte beizutragen. Als 14-Jahriger war er mit seiner Mutter in Berlin untergetaucht. Mindestens einmal sind sie nur knapp der Verhaftung entgangen. Das Trauma sitzt tief. Der Überlebende hat nach einiger Zeit seine Beteiligung an der Ausstellung zurückgezogen. Er fühlte sich an ein Versprechen gebunden, das seine Mutter den Berliner Helfern 1945 wohl gegeben hat: nie ihre Namen preiszugeben. Auch dies zeigt eine bis heute währende Problematik, die viele Fragen aufwirft.

Die Schicksale der Kinder, deren Geschichten beispielhaft in dieser Ausstellung dargestellt werden, zeigen besonders eindringlich die brutale Vorfolgungsmaschinerie der Nationalsozialisten. Die Jungen und Mädchen sind zum Zeitpunkt des Untertauchens im Alter von wenigen Tagen bis zu 16 Jahren. Sie haben in Wohnbezirken und Straßen gelebt, die wir heute noch aufsuchen können. Ihre Erlebnisse gehen unter die Haut.

Können wir uns vorstellen, wie im Januar 1943 ein Elternpaar seine Wohnung hinter sich abschließt und in die eiskalte Winternacht hinausgeht? Mit seinem wenige Tage alten Säugling im quietschenden Kinderwagen, dessen Räder keine Gummibereifung mehr haben? Um nicht mehr zurückzukehren, um zu verschwinden, um das eigene Leben und das der Tochter zu retten? Familie Abraham hat es geschafft, Eltern und Kind haben die Befreiung erlebt. Reha, am 19. Januar 1943 in Berlin geboren, ist unter uns, sie ist mit ihrem Mann Al aus New York gekommen, um unsere Ausstellung zu sehen und um ihr Buch vorzustellen, in dem sie mit Al die Geschichte ihrer Eltern und damit auch ihre ersten beiden Lebensjahre als verstecktes Kind erzählt, aber auch die Geschichte von Maria Nickel, die entscheidend zur Rettung der Abrahams beigetragen hat. Maria Nickel, eine beherzte Berlinerin, hat Ende 1942 den einsamen Entschluss gefasst, wenigstens einem jüdischen Menschen das Leben zu retten. Ihre Wahl fiel damals auf die schwangere Zwangsarbeiterin Ruth Abraham, die ihr zuvor völlig unbekannt war. Ihr Entschluss trug schließlich dazu bei, dass drei Menschen überlebten, Ruth und ihr Mann Walter Abraham und die kleine Tochter. Reha hat mit ihrem Mann Al Sokolow diese atemberaubende Geschichte aufgezeichnet. Sie erschien soeben auf Deutsch unter dem Titel: "Ruth und Maria. Eine Freundschaft auf Leben und Tod (Berlin 1942-1945)" im Metropol Verlag.

Aber nicht nur erfolgreiche Fälle werden in der Ausstellung dargestellt, das würde das Bild verzerren. Viele, allzu viele Versuche, im Untergrund zu überleben, endeten tödlich, oft - wie auch bei Anne Frank - durch Verrat. Dies zeigt die tragische Geschichte der Schwestern Ruth und Gitti Süßmann, 1943 sechs und vier Jahre alt. Ihre Mutter entschloss sich in letzter Minute, am 28. Februar 1943, mit den Kindern unterzutauchen, als sich ihr Mann bereits im Sammellager zur Deportation befand. Mutter und Kinder hetzten von Unterkunft zu Unterkunft, immer wieder drohte Verrat. Schließlich fuhr die Mutter Alice (Löwenthal) nach Weimar und überließ ihre Töchter der Obhut einer vertrauenswürdig scheinenden Frau. Die erwartete allerdings Bezahlung. Erst Monate nach der Befreiung musste Alice erfahren, dass ihre Kinder 1944 verraten und deportiert worden waren. Die kurzen Leben von Ruth und Gitti endeten in Auschwitz. Ihre nach dem Krieg geborene Halbschwester hat erst in den letzten Jahren das Schicksal der Mädchen erforscht. Die zunächst hilfsbereite Frau in Weimar scheint für die Entdeckung der Kinder zumindest mitverantwortlich zu sein. Diese Geschichte zeigt uns die Ambivalenz der Haltungen, ein Spektrum von Verhaltensweisen, das von solidarischer Hilfsbereitschaft und riskanter Unterstützung über Fahrlässigkeit bis hin zu Gewinnsucht und Verrat reicht. Die Mutter der in Auschwitz ermordeten Mädchen blieb Zeit ihres Lebens traumatisiert. Die Shoah wirft lange Schatten. Sie reichen bis in unsere Tage. Auch das lehren uns die Geschichten der Kinder im Versteck.

Auch die vierköpfige Familie Horn wurde verraten, von der Gestapo aus ihrem Versteck gezerrt und im Oktober 1943, nach etwa sieben Monaten im Unterschlupf, nach Auschwitz deportiert. Die Hilfsbereitschaft von Otto Weidt, dem Bürstenhersteller in der Blindenwerkstatt, Rosenthaler Straße 39, hat nicht zur Rettung der Horns geführt. Das jüngere der beiden Kinder, Ruth, erlebte am 18. Mai 1943 seinen 13. Geburtstag im Versteck. Weder von ihr noch von ihrem vier Jahre älteren Bruder Max sind Fotos überliefert. Von Familie Horn - die Eltern stammten aus Polen, die Kinder wurden in Brandenburg geboren - kennen wir nur den kleinen dunklen Raum, wo sie sich in den letzten Monaten ihres Lebens verborgen hielten.

Besser ergangen ist es Familie Foß aus Berlin-Charlottenburg, die - als die Deportation drohte - Unterschlupf bei einer Bekannten in Moabit fand. Zwar war auch der Beginn dieser Rettungsgeschichte von Seiten der Helferin nicht völlig uneigennützig, dennoch hielt sie mehr als zwei Jahre durch und behielt das Ehepaar Foß mit zwei Söhnen in ihrer Anderthalb-Zimmerwohnung. Wir sind froh, Werner Foß, den jüngsten Sohn, hier bei uns zu haben.

Das älteste "Kind" in der Ausstellung ist Zvi Aviram. Auch er entkam - oft nur um Haaresbreite - seinen Verfolgern. Er wurde am 25. Januar 1928 als Heinz Abrahamsohn in Berlin geboren. Seit er 14 Jahre alt war, leistete er Zwangsarbeit. Als gerade 16-Jähriger entkam er durch die Flucht in den Untergrund der Verschleppung. Nach dem 27. Februar 1943 stand er von einem Tag auf den anderen ohne Eltern, ohne Wohnung und Geld inmitten einer feindlichen Umwelt da. Sein Überleben verdankt er mehreren mutigen Helfern, einer illegalen jüdischen Jugendgruppe und seinem eigenen Durchhaltevermögen, vielleicht auch einigen Zufällen. Zvi Aviram ist aus Israel nach Berlin gekommen, um an der Eröffnung der Ausstellung teilzunehmen.

Zum Schluss sei darauf hingewiesen, dass jede einzelne Überlebensgeschichte sehr komplex verlief und in der Ausstellung längst nicht in all ihren Facetten wiedergegeben werden konnten. Nicht alle Stationen und bedrohlichen Situationen, nicht alle hilfreichen Personen konnten berücksichtigt werden.

Die Ausstellung "Kinder im Versteck" wird im Kontext des 27. Januar, des Holocaust-Gedenktages, eröffnet. Sie erinnert an die ermordeten Kinder, aber auch an die Schrecken derer, die der Verfolgung entkamen und heute unsere Zeugen sind. Die Opfer der Shoah waren kein stummes Objekt der Verfolgung. Die Ausstellung, die sich besonders an Berliner Jugendliche richtet, zeigt, wer die jüdischen Kinder und ihre Familien waren, bevor sie durch die Politik des Rassenwahns ausgelöscht werden sollten oder tatsächlich ermordet wurden. Und nicht zuletzt wird das Handeln couragierter Menschen sichtbar, die sich mit ihrer riskanten Hilfe für die Verfolgten dem Regime entgegenstellten.

Die Autorin ist Mitarbeiterin bei der Gedenkstätte Deutscher Widerstand und dem Zentrum für Antisemitismusforschung der TU Berlin

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