Kinder Gottes im Land der Täter
Der christlich-jüdische Dialog in der Bundesrepublik Deutschland
von Gabriele Kammerer
Als keine Juden mehr in Deutschland lebten, wurden sie
von den Christen entdeckt. Das Paradox bekam den Namen "christlich-jüdischer
Dialog". Seine Existenz hat Gershom Scholem allerdings generell bestritten.
Für den Religionshistoriker ging es schlicht um einen Mythos: "Gewiss,
die Juden haben ein Gespräch mit den Deutschen versucht, von allen
möglichen Gesichtspunkten und Standpunkten her, fordernd, flehend
und beschwörend, kriecherisch und auftrotzend, in allen Tonarten
ergreifender Würde und gottverlassener Würdelosigkeit",
schrieb er 1964. "Von einem Gespräch vermag ich in alledem nichts
wahrzunehmen. Niemals hat etwas diesen Schrei erwidert."
Sehr anders hatte drei Jahre zuvor die Prognose von Robert
Raphael Geis geklungen. Als der Rabbiner auf dem Evangelischen Kirchentag
von 1961 über seine Religion Auskunft gab, konnte die Messehalle
am Berliner Funkturm die neugierigen Christen nicht fassen, die zu Tausenden
gekommen waren. Ein Erstmaliges geschehe hier, sagte der jüdische
Referent hoffnungsfroh: eine Begegnung nämlich nach zweitausend Jahren
des Missverstehens. Sie büße ihre Bedeutung auch dann nicht
ein, "wenn man an das Meer von Blut und Tränen denkt, das wir
zuvor durchschreiten mussten."
Der industrielle Massenmord an den europäischen Juden
ist der Ausgangspunkt eines Gesprächs zwischen Christen und Juden
in Deutschland - und seine schwerste Hypothek zugleich.
Weniger als eine "Stunde Null"
Vorbilder für dieses Gespräch gab es kaum. Bisher hatten
Christen in Deutschland höchstens über Juden geredet, und wenn
sie einmal direkt mit ihnen gesprochen hatten, dann mit festen Vorstellungen
vom Ausgang der Debatte: Im Mittelalter sollten Zwangsdisputationen die
Überlegenheit des christlichen Glaubens anschaulich beweisen.
Zu einem ersten öffentlichen Gespräch auf Augenhöhe
kam es im Januar 1933 zwischen dem jüdischen Religionsphilosophen
Martin Buber und dem evangelischen Neutestamentler Karl Ludwig Schmidt.
Das erste Gespräch war freilich zugleich das letzte: Zwei Wochen
später kamen die Nationalsozialisten an die Macht.
In den folgenden zwölf Jahren waren es nicht die
Kirchen oder ihre Amtsträger, die sich für die ausgegrenzten
und verfolgten Juden einsetzten. Nicht einmal die "Bekennende Kirche",
entstanden in Opposition zum nationalsozialistischen Staat und zur Kooperationspolitik
der unentschiedenen oder der "Deutschen" Christen, ging in ihrem
Engagement über die Solidarität mit getauften Juden hinaus.
Nur einzelne Christen halfen Juden beim Untertauchen oder zur Flucht.
Die Ausnahme blieben Stimmen wie die von Dietrich Bonhoeffer.
1941 beobachtete der Pfarrer die beginnenden Massendeportationen von Juden
und berichtete davon über den Ökumenischen Rat der Kirchen an
die Alliierten. Was er sah, wurde für ihn zur Anfrage an Kirche und
Theologie. Er formulierte ein Schuldbekenntnis: "Die Kirche ist schuldig
geworden am Leben der Schwächsten und Wehrlosesten der Brüder
Jesu Christi."
Hinter dieser Klarheit blieben die Stellungnahmen der
beiden großen Kirchen nach dem Ende der nationalsozialistischen
Herrschaft weit zurück. Von Fehlern wurde zwar geredet, bisweilen
sogar von Schuld, doch weder die katholischen Bischöfe noch die evangelische
Kirche wagten es im Jahr 1945, den Völkermord an den Juden beim Namen
zu nennen und die eigene Schuld daran in den Blick zu nehmen.
Die Fragen, die die Kirchen bewegten, waren offensichtlich
andere.
"Hat die Kirche noch etwas zu melden?" überlegte
der Hamburger Bischof Tügel Ende Mai 1945 in einem offenen Brief.
Erleichtert bejahte er die bange Frage: "Tatsächlich ist die
Kirche die einzige Macht, die alle gefallenen Größen überdauert
und - was wichtiger ist - deren Sache in erhobener Weltüberlegenheit
sich selbst zu Wort meldet." Die jahrhundertealten Institutionen
der evangelischen wie der katholischen Kirche hatten die Diktatur überstanden,
dankbar und stolz genossen sie die Unversehrtheit von Strukturen und Besitz.
Ihre Aufgabe sahen sie nun in der Seelsorge an den zerschlagenen Deutschen
- und nicht etwa darin, ihnen ins Gewissen zu reden.
Damit passen die Kirchen nahtlos ins Bild einer Gesellschaft,
die von der unmittelbaren Vergangenheit nichts mehr wissen wollte und
die der Entnazifizierung durch die Alliierten mehr als skeptisch gegenüberstand.
Überdies aber dürften die Kirchen gespürt haben, was für
sie selbst auf dem Spiel stand: Der schonungslose Blick zurück auf
den Massenmord an den Juden und die Frage nach dem Versagen der Christen
oder ihrer aktiven Schuld hätte bedeutet, die eigene religiöse
Tradition auf den Prüfstand zu stellen. Zu einer solchen existenziellen
Revision aber fehlte den Christen der Mut - und die Sprache. Auf ein Gespräch
mit Juden waren sie nicht vorbereitet. Theologisch ist von einer "Stunde
Null" zu reden - oder besser sogar von einer "Stunde unter Null"?
Erst der Katholikentag des Jahres 1948 und die Synode
der Evangelischen Kirche in Berlin-Weißensee 1950 fanden klare Worte
zur christlichen Schuld. Zu der Zeit waren in Deutschland schon wieder
Vertreter der jüdischen Gemeinden bedroht und zahlreiche Friedhöfe
geschändet worden.
Von Nachhilfelehrern und Autodidakten
Aus diesen Vorgängen zog eine Gruppe aus Protestanten und Katholiken
im Mai 1950 eine klare Konsequenz: "Es muss jedem Theologen und Religionslehrer
klar werden, welche Verantwortung mit der Behandlung unseres Verhältnisses
zu den Juden auf ihn gelegt ist", forderten sie am Ende einer Tagung
im hessischen Bad Schwalbach. In neun Thesen fassten sie zusammen, was
christliche Religionslehrer in Zukunft über das Judentum lehren -
und erst einmal selbst lernen - sollten: Dass Jesus Christus Jude war,
dass den Juden sein Kreuzestod nicht zur Last gelegt werden dürfe,
dass der Gott des Neuen Testaments kein anderer sei als der, von dem das
Alte Testament erzähle.
Die "Schwalbacher Thesen" fragten noch nicht
nach dem Selbstverständnis von Jüdinnen und Juden. Hier nahmen
Christen sich selbst in die Pflicht. Sie forderten dazu auf, den über
Jahrhunderte gewachsenen und festgetretenen Berg christlicher Vor- und
Fehlurteile abzutragen.
Diese Herausforderung blieb nicht ungehört, denn
die Neuerer konnten auf ein wachsendes Netzwerk zurückgreifen. Ab
1948 waren zunächst in München, Stuttgart, Wiesbaden und Frankfurt
erste "Gesellschaften für christlich-jüdische Zusammenarbeit"
gegründet worden, weitere folgten. Seit 1950 bündelte der "Deutsche
Koordinierungsrat" (DKR) ihre Arbeit.
Seine Satzungspräambel erläuterte das Prinzip
dieser Arbeit: "Eine vernünftige und gerechte Ordnung in der
Welt erwächst aus der Bereitschaft jedes Einzelnen, anderen das gleiche
Maß an Recht und Achtung zuzugestehen, das er für sich selbst
in Anspruch nimmt."
Gegenseitiger Respekt der Individuen und das friedliche
Miteinander verschiedener gesellschaftlicher Gruppen - diese eher unspezifische
Zielbeschreibung verrät das Vorbild, auf das die deutschen "Gesellschaften
für christlich-jüdische Zusammenarbeit" zurückgehen.
In den USA hatten sich Christen und Juden seit den 20er Jahren für
die demokratische Kultur engagiert. Der dortige "National Council
of Christians and Jews" (NCCJ) war das Modell, das der amerikanische
Methodistenpfarrer Carl F. Zietlow im Gepäck führte, als er
im März 1948 auf Einladung der US-Militärregierung nach Deutschland
kam.
Nicht nur die Inhalte, auch die Struktur der amerikanischen
Bewegung versuchte der Missionar in Sachen Humanismus unter den Deutschen
heimisch zu machen. In den großen Städten Westdeutschlands
warb er bei ranghohen Vertretern des öffentlichen Lebens um Unterstützung.
Offizielle Repräsentanten sollten Träger der Idee sein - bis
heute ist der deutsche Bundespräsident Schirmherr der Gesellschaften.
Jede Gesellschaft sollte von einem protestantisch-katholisch-jüdischen
Dreigestirn geleitet werden, ebenso der Koordinierungsrat.
Auch die "Woche der Brüderlichkeit" war
eine Übersetzung der in den USA seit 1935 durchgeführten "Brotherhood
Week" in deutsche Verhältnisse. Erstmals fand eine derartige
Veranstaltungswoche im Herbst 1950 in München statt. Ihr Programm
illustriert die Breite des Zietlowschen Ansatzes: Nach dem "Tag der
Erziehung" fand ein "Tag der Konfessionen" statt, es folgten
"Jugend", "Heimatvertriebene", "Film und Theater",
"Frau" und schließlich die "Nationen".
Haben die Amerikaner mit diesem Feldzug gegen die Intoleranz
etwa selbst die Flucht nach vorne angetreten, nachdem ihre Politik der
Umerziehung und der Entnazifizierung in Deutschland gescheitert war? Und
kam diese Nachhilfe in Sachen Demokratie den Deutschen nicht gerade recht
bei ihrem Bemühen, ihrer Vergangenheit zu entkommen und endlich einen
Schlussstrich zu ziehen?
Die Gefahr der billigen Rehabilitierungsversuche wurde
innerhalb der Gesellschaften selbst durchaus gesehen. Der Vorsitzende
der Frankfurter Gesellschaft, der Universitätsrektor Franz Böhm,
schrieb 1949 seinen Mitstreitern eine eindringliche Mahnung ins Stammbuch.
Man habe sich doch nicht zusammengeschlossen, um mittels Tagungen und
Banketten "einen Teil der Deutschen vor den Reaktionen in Sicherheit
zu bringen, die das Tun eines anderen Teils von Deutschen in der Welt
hervorgerufen hat", erinnerte er. Nicht um das internationale Image
der Deutschen dürfe es gehen, sondern um den aktiven Einsatz gegen
"Antisemitismus und inhumanes Vorurteil".
Dieser Einsatz war vielen der Beteiligten ein echtes Anliegen
und nicht nur ein amerikanischer Imperativ. Am Netzwerk der Gesellschaften
knüpften auch Christen mit, die sich während des Dritten Reichs
für Juden engagiert hatten. Der Jurist und Theologe Adolf Freudenberg
etwa war in der Ökumenischen Flüchtlingshilfe aktiv gewesen
und versuchte seit 1945 unermüdlich, seine evangelische Kirche mit
der Frage nach ihrem Verhältnis zum Judentum zu konfrontieren. Als
Pfarrer in Hessen rief er den dortigen Arbeitskreis "Kirche und Israel"
ins Leben, dem zahlreiche Initiativen in anderen Landeskirchen folgen
sollten. Die Gesellschaft in Freiburg im Breisgau wurde auf Initiative
von Gertrud Luckner gegründet. Die Katholikin hatte die Flüchtlingshilfe
der Caritas organisiert und selbst anderthalb Jahre im Konzentrationslager
Ravensbrück verbracht.
Die Verständigung von Juden und Christen zu fördern,
das war für die Gesellschaften in erster Linie eine gesellschaftliche
Aufgabe. Ihre Aktivitäten waren eher politischer oder pädagogischer
Natur. Die religiösen Dimensionen des Verhältnisses standen
nicht im Mittelpunkt ihres Interesses. Wer nun allerdings vermutet, dieser
Dimensionen habe sich naheliegenderweise die offizielle akademische Theologie
angenommen, liegt fehl. Eine neue Verhältnisbestimmung zwischen Kirche
und Israel stand nicht auf dem Lehrplan der Universitäten. Zu erwähnen
sind höchstens die Instituta Judaica, mit denen die evangelisch-theologischen
Fakultäten in Münster, Tübingen und Berlin die lebendige
Vielfalt jüdischer Stimmen zu dokumentieren versuchten. In Freiburg
und Duisburg untersuchten Religionspädagogen Schulbücher der
Fächer Religion, Geschichte und Sozialkunde auf ihre Darstellung
jüdischer Themen hin.
Es geht an die Substanz
Ein Gespräch der Religionen kam erst langsam in Gang. Lähmend
wirkte das Wissen um den Gestus der Überlegenheit, den die christliche
Theologie seit jeher gegenüber dem Judentum eingenommen hatte. Als
sich Juden nach 1945 dennoch auf eine Begegnung einließen, taten
sie dies mit einer überraschenden Begründung: "Nun haben
auch Christen wieder ihre Märtyrer", formulierte der jüdische
Theologe Leo Baeck. Und Robert Raphael Geis stellte fest: "Eine grausige
Gottesfinsternis gibt jäh den Blick dafür frei, dass der Christ
mitgemeint ist, wenn man den Juden schlägt." Eine für Christen
beschämende Feststellung, waren doch die Beispiele christlicher Solidarität
mit den verfolgten Juden äußerst rar - und viel zahlreicher
die Gegenbeispiele von Versagen und Verrat. Doch die wenigen Ausnahmen
boten Juden Anlass zur Hoffnung - zur vorsichtigen Hoffnung, in neuen
Gesprächen vielleicht an ihre deutsch-jüdische Identität
von vor 1933 anknüpfen zu können.Von ihrem Schwanken zwischen
Misstrauen und Hoffnung berichtet die in London lebende deutsche Soziologin
Eva Reichmann. Sie war im Januar 1961 nach Berlin gereist, um - zunächst
als einzige Jüdin - an den Vorbereitungen für eine Arbeitsgruppe
"Juden und Christen" beim Kirchentag teilzunehmen: "Es
war erhebend, manchmal erschütternd, den Ernst zu erleben, mit dem
diese Menschen, die meist persönlich nicht schuldig geworden waren,
sondern die sogar um ihrer Gesinnung willen Schweres zu erleiden hatten,
die Schuld auf sich nahmen, wie sie unter ihr litten, wie sie zu sühnen
versuchten." Sie sei nicht sicher gewesen, ob es angemessen sei,
sich an diesem Unternehmen zu beteiligen, gesteht Eva Reichmann. Am Ende
der Sitzung aber habe es keinen Zweifel mehr gegeben: "Diesen Menschen
musste man helfen, sie durfte man in ihrem Verlangen nach dem jüdischen
Gesprächspartner nicht im Stich lassen."
Neben Eva Reichmann waren Eleonore Sterling, Robert Raphael
Geis und Ernst Ludwig Ehrlich die jüdischen Partner jenes ersten
öffentlichen Glaubensgespräches, das beim Berliner Kirchentag
1961 zum Publikumsmagneten wurde.
Vorher hatte zwar bereits der "Deutsche Evangelische
Ausschuss für Dienst an Israel" Juden und Christen zu theologischen
Tagungen eingeladen. Von ihnen ging aber keine Breitenwirkung aus, da
der Ausschuss innerhalb der Kirche eher ein Schattendasein fristete. Außerdem
zeigt der Name, von welchen Voraussetzungen diese Gespräche ausgingen:
"Dienst an Israel" leistet eine Kirche aus der Überlegenheit
heraus, bestenfalls mit mütterlichem Wohlwollen. Die traditionelle
theologische Sicht auf das jüdische Volk wurde hier noch nicht in
Frage gestellt. Diese Sicht lautete: Das Volk, aus dem Jesus kam, hat
ihn nicht als Messias angenommen, also gehen seine Rechte als Volk Gottes
an die Kirche über. Die Sicherheit, die aus dieser Enterbungstheologie
spricht, ist zugleich die panische Abwehr einer existenziellen Angst.
Wie kann denn, so müssen Christen sich fragen, unser Glaube an Jesus
als Christus wahr sein, wenn sein eigenes Volk diesen Glauben nicht teilt?
Über Jahrhunderte wussten Theologen auf diese Herausforderung keine
andere Antwort als die: In seiner Ablehnung Jesu disqualifiziert sich
Israel als Gottesvolk, das "neue Israel" ist die Kirche.
In diesem Kontext war die Resolution, die die Arbeitsgruppe
"Juden und Christen" am dritten Tag der Berliner Großveranstaltung
verabschiedete und in 6.000 Abzügen verteilte, nicht weniger als
eine kleine Revolution. "Gegenüber der falschen, in der Kirche
jahrhundertelang verbreiteten Behauptung, Gott habe das Volk der Juden
verworfen, besinnen wir uns neu auf das Apostelwort: 'Gott hat sein Volk
nicht verstoßen, das er zuvor ersehen hat' (Römer 11,2)".
Mit dieser Aufforderung zur theologischen Kehrtwende endet das Papier.
Es beginnt ebenso grundsätzlich. Angesichts des christlichen Antijudaismus
und angesichts des zur Zeit des Kirchentages in Jerusalem stattfindenden
Prozesses gegen Adolf Eichmann werden der Öffentlichkeit vier Zeichen
der Umkehr abverlangt: eine neue Pädagogik, die eigene Fehler eingesteht,
politische Verantwortlichkeit jedes Einzelnen, Solidarität mit Juden
und dem Staat Israel und schließlich eine Revision der theologischen
Traditionen.
Mit diesen Ergebnissen der Berliner Begegnung von 1961
begann die eigentliche theologische Auseinandersetzung zwischen Juden
und Christen in Deutschland. Klar war: Der Austausch und die Zusammenarbeit
können sich nicht auf die Theologie im engeren Sinne beschränken.
Die Veränderungen in Denken und Sprechen haben unmittelbare Konsequenzen
für das private wie für das öffentliche Handeln. Am deutlichsten
machte dies die "Aktion Sühnezeichen". Der Jurist Lothar
Kreyssig hatte den Verein am Rande einer Synode der Evangelischen Kirche
im Jahr 1958 gegründet und an "die Völker, die Gewalt von
uns erlitten haben", die Bitte gerichtet, Friedensdienste junger
Deutscher in ihren Ländern anzunehmen. Die Einsicht in historische
Verantwortung und der Protest gegen ein wiedererstarkendes Deutschland
mit einer atomar bewaffneten Bundeswehr mündeten hier in praktisches
Tun: 1959 bauten junge Freiwillige ein Ferienheim in den Niederlanden,
1961 reiste eine erste Gruppe nach Israel. Politischen Ausdruck fanden
aber auch die Erkenntnisse der Arbeitsgemeinschaft "Christen und
Juden", die zur ständigen Einrichtung des Kirchentags wurde,
sowie der Gesellschaften für christlich-jüdische Zusammenarbeit
und der Studentengemeinden an den Hochschulen. Die Pioniere des christlich-jüdischen
Dialogs bezogen Position gegen die restaurativen Tendenzen der Adenauer-Republik:
Sie engagierten sich für die Entlassung belasteter Politiker aus
dem Amt (die namentliche Nennung des Staatssekretärs Hans Globke
führte zum Skandal), für die Aussetzung der Verjährung
bei NS-Verbrechen, für beschleunigte Entschädigungszahlungen
und für die Aufnahme diplomatischer Beziehungen mit Israel.
Der kämpferische Optimismus der ersten Jahre sollte
freilich rasch realistischem Langmut weichen. Keine der genannten Organisationen
hat es geschafft, sich selbst überflüssig zu machen, auch wenn
manche sich das in der ersten Euphorie vorgenommen hatten. Zu heftig blies
der Gegenwind aus Amtskirche, Gemeinden und akademischer Theologie.
Aber auch intern zeigte sich der neugewonnene Zusammenhalt
als anfällig für Erschütterungen und Ernüchterung.
Beispielhaft ist die Kontroverse um die Judenmission, die die Kirchentags-Arbeitsgemeinschaft
1963 auf den Prüfstand stellte. "Der ungekündigte Bund"
war der eindeutige Titel des ersten Dokumentationsbandes der Gruppe gewesen.
Damit bekannte sie die bleibende Erwählung Israels. Die jüdischen
Mitglieder hatten gehofft, christlichen Partnern zu begegnen, die aus
dieser Einsicht die Konsequenz zögen, keinen Juden mehr von der Notwendigkeit
einer Hinwendung zum christlichen Glauben überzeugen zu müssen.
Endlich schien eine Gruppe zu existieren, in der Juden theologisch nicht
in die Enge getrieben wurden. Umso größer war die Enttäuschung,
als Robert Raphael Geis entdeckte, dass die Ablehnung der Judenmission
innerhalb der Gruppe so einhellig nicht war, dass vielmehr selbst sein
Freund und Mitstreiter Helmut Gollwitzer sich ernsthaft mit den Thesen
judenmissionarischer Gruppen auseinandersetzen wollte. "Es ist genug
des Spiels, da man Juden umwirbt, bezirzt, als Aushängeschild missbraucht
- und letztlich nicht ernst nimmt", entrüstete sich Geis.
Über Monate testete die Auseinandersetzung die Tragfähigkeit
der Arbeitsgemeinschaft. Was den Zusammenhalt letztlich rettete, waren
persönliche Freundschaften. Aber auch inhaltlich hatten die Christen
dazugelernt. Helmut Gollwitzer rang sich zu der selbstkritischen Frage
durch: "Habe ich für den Juden etwas zu hoffen, was er zur Zeit
gar nicht gehofft haben will?"
Wer macht mit?
"Gewiss ist die Kirche das neue Volk Gottes, trotzdem darf man
die Juden nicht als von Gott verworfen oder verflucht darstellen, als
wäre dies aus der Heiligen Schrift zu folgern." Die kleine Eitelkeit
zum Einstieg schwächt nicht die Bedeutung dieser Stellungnahme. Es
handelt sich nämlich um eine Selbstkritik von höchster Stelle:
Im Oktober 1965 veröffentlichte das Zweite Vatikanische Konzil die
Erklärung "Nostra Aetate" über das Verhältnis
der Kirche zu den nichtkirchlichen Religionen. Die katholische Kirche
wandte sich offiziell und deutlich gegen jahrhundertealte Lehrsätze
- und gegen eine ebenso alte Praxis. Schritt für Schritt wurde jetzt
die Karfreitagsliturgie reformiert, in der bislang für die "treulosen
Juden" gebetet worden war, denen somit ausdrücklich der Tod
des Heilands zur Last gelegt wurde.
Ungefähr zeitgleich zur katholischen Kirche hatten
sich auch die anderen Weltkirchen im Ökumenischen Rat dem Thema gestellt.
Internationale Diskussionen mündeten 1967 in den "Bristol Report".
Diese Studie sollte vielen weiteren Entwicklungen die Richtung weisen.
Zum einen, weil das Papier auf Kompromisse verzichtete.
Vielmehr wurde offengelegt, an welchen Stellen - wieder einmal ging es
beispielsweise um die fragliche Notwendigkeit einer christlichen Mission
an den Juden - die Meinungen auseinandergingen. Zweitens wurde der theologische
Dialog klar in einen historischen Kontext gestellt, indem die Verfolgung
der europäischen Juden und die Gründung des Staates Israel als
Anstöße für eine Neubestimmung des christlich-jüdischen
Verhältnisses genannt wurden. Und schließlich ging die Studie
bei dieser Neubestimmung von den Gemeinsamkeiten aus. "Die ersten
Christengemeinden bestanden aus Juden", war da zu lesen - eine an
sich banale historische Tatsache, die modernen christlichen Gemeinden
aber erst wieder ins Bewusstsein gerufen werden musste. Und das mit erheblichen
theologischen Konsequenzen: Wenn das Christentum vom Judentum abstammt,
dann sind die Unterschiede zwischen beiden nicht Defizite des Judentums,
sondern Ergebnisse einer Entwicklung, die das Christentum rechtfertigen
muss.
"Was gut ist am Christentum, ist nicht neu, und was
neu ist, ist nicht gut" - mit dieser Kurzformel können Juden
umschreiben, warum die Auseinandersetzung mit der jüngeren Schwesterreligion
ihre jüdische Identität nicht tangiert. Ganz anders stehen die
Christen da, nämlich vor der Aufgabe, die Existenz ihrer "Sekte"
zu legitimieren, ohne der Mutterreligion die Daseinsberechtigung abzusprechen
- wie sie das über Jahrhunderte mit fatalen Folgen getan hatten.
Dieser Aufgabe stellten sich die beiden großen Kirchen
ab Mitte der sechziger Jahre auch in Deutschland. Beim Zentralkomitee
der deutschen Katholiken entstand ein Gesprächskreis aus Juden und
Christen. Die Evangelische Kirche berief 1967 die Studienkommission "Kirche
und Judentum" ein, in der Vertreter verschiedener theologischer Flügel
im Lauf von sieben Jahren eine Studie zum Verhältnis von Christen
und Juden formulierten.
Das Umdenken und die neuen Fragen erreichten keine breite
Öffentlichkeit. Immerhin aber entstanden zahlreiche Initiativen und
Gemeindegruppen vor Ort, die die Auseinandersetzung und den Austausch
suchten. Die Zahl der Begegnungen nahm zu - nicht zuletzt durch vermehrte
Besuche von Jüdinnen und Juden aus Israel oder den USA. Außerdem
reisten mehr und mehr Gruppen aus Deutschland nach Israel. Durch die Gründung
des Vereins "Studium in Israel" im Jahr 1978 etablierte sich
für Theologiestudierende die Möglichkeit, ein Jahr in Israel
zu leben, um im "Meer des Talmud" zu schwimmen und modernes
jüdisches Leben kennen zu lernen. Diese Möglichkeit war umso
wichtiger, als der christlich-jüdische Dialog nach wie vor wenig
Verankerung in den Fakultäten gefunden hatte.
Reisen nach Israel hatten schon in den 50er Jahren Christen
aus Deutschland die beiden Schwerpunkte jüdischer Existenz vor Augen
geführt und zum Thema gemacht. Ihre Gegenüber waren nicht nur
in der Diaspora lebende Jüdinnen und Juden, sondern ebenso Menschen
im Land und Staat Israel. Der Konflikt zwischen Israel und seinen arabischen
Nachbarn und Bürgern verschaffte dem weltweiten christlich-jüdischen
Dialog eine zusätzliche Dimension. Innerhalb der katholischen Weltkirche
und im Ökumenischen Rat der Kirchen - beides Dachverbände auch
arabischer Christen - führte der Nahost-Konflikt zeitweise zum völligen
Stillstand christlich-jüdischer Bemühungen. In Deutschland waren
im Dialog engagierte Christen mit einem Kräftefeld konfrontiert,
in dem verschiedene gesellschaftliche Gruppierungen ihre je eigene Rezeption
des Konfliktes pflegten.
Weite Teile der Linken wie auch der entstehenden Friedensbewegung
ergriffen Partei für die Palästinenser; ihre Zionismuskritik
trug unüberhörbar antisemitische Züge.
Demgegenüber beschrieben israelnahe kirchliche Gruppen
ihre Position als "kritische Solidarität" mit Israel -
und waren damit beschäftigt, diese Grundhaltung je wieder ins Konkrete
umzusetzen.
In ihrem "Beschluss zur Erneuerung des Verhältnisses
von Christen und Juden" fasste 1980 die Synode der Evangelischen
Kirche im Rheinland das heiße Eisen an und bezeichnete die Errichtung
des Staates Israel als "ein Zeichen der Treue Gottes". Ist das
eine theologische Überhöhung - oder ist dieser Staat tatsächlich
kein Staat wie jeder andere? Diese Frage unterstrichen zu haben, ist ein
Verdienst des Rheinischen Beschlusses.
Doch nicht nur hierin liegt seine Bedeutung. Mit der Arbeit
an diesem Text und seiner Veröffentlichung gaben die rheinischen
Protestanten dem christlich-jüdischen Dialog einen wichtigen Impuls.
Klar formulierten sie "die Erkenntnis christlicher Mitverantwortung
und Schuld am Holocaust" als Ausgangspunkt christlicher Neubesinnung.
Erst Jahrzehnte nach "Auschwitz" wurde die Anfechtung der christlichen
Theologie durch diesen Zivilisationsbruch in vollem Ausmaß zur Kenntnis
genommen.
Das geschah in einem Text, der durch eine Synode als das
höchste Gremium einer Kirche beschlossen wurde. Seit dem Weißenseer
Wort von 1950 hatte es in Deutschland keine Synodenerklärung zum
Verhältnis von Kirche und Israel mehr gegeben.
Dem Rheinischen Beschluss folgten nicht nur intensive
Diskussionen, sondern zahlreiche weitere Beschlüsse in anderen Landeskirchen
oder Änderungen in deren Grundordnungen.
Hat sich also der christlich-jüdische Dialog ins
Fundament der mehrheits-christlichen Gesellschaft BRD eingeschrieben?
Skepsis ist angesagt.
Das Zerrbild vom "alttestamentarischen Rachegott"
geistert nach wie vor durch die Kolumnen. Die christliche Bekehrung von
Juden ist auch in der jüngsten Studie der EKD aus dem Jahr 2000 nicht
gänzlich vom Tisch. Jüdische Gemeinden stehen vor dringlicheren
Herausforderungen als dem Dialogbedarf christlicher Gruppen. Und was die
betrifft, sprechen Spötter schon von "thematischer Altenarbeit
auf intellektuellem Niveau".
Ob die Verjüngung gelingt? Im Prinzip besteht ein
Bedarf. Es braucht Menschen, die gegen religiösen Fundamentalismus
Gesprächsfähigkeit setzen. Und gegen das verkümmernde Zweckdenken
den Reichtum biblischer Traditionen. Immerhin ist das "Sabbatjahr"
bereits in den Wortschatz der deutschen Wirtschaft gelangt.
aus: Gabriele Kammerer: Kinder Gottes im Land der Täter.
Der christlich-jüdische Dialog in der Bundesrepublik Deutschland.
Aus: Brumlik, Micha u.a.: Reisen durch das jüdische Deutschland.
©2006 DuMont Literatur und Kunst Verlag, Köln, S. 424-434.
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