"In meinem Namen versammelt"
Evangelische und katholische judenchristliche Gemeinden in den Lagern und Quartieren am Rande des Warschauer Ghettos
von Eberhard Röhm und Jörg Thierfelder

Bei dem folgenden Text und den Abbildungen handelt es sich um den Teilabdruck des 34. Kapitels aus dem gerade erschienen letzten Band des Gesamtwerkes "Juden-Christen-Deutsche" aus dem Calwer Verlag Stuttgart. Siehe unsere Buchtipps auf Seite #. Der in diesem Kapitel mehrfach erwähnte Pfarrer Adolf Freudenberg gründete 1952 den späteren "Evangelischen Arbeitskreis Kirche und Israel in Hessen und Nassau". Wir danken den Autoren und dem Verlag für die Abdruckgenehmigung.

Wir wissen nicht allzu viel über eine kleine evangelische Gemeinde, die sich im Jahre 1942 für eine kurze Zeit am Rande des Warschauer Ghettos gebildet hatte. Adolf Freudenberg, der Leiter des Ökumenischen Flüchtlingsdienstes in Genf, der Kontakte zu den Christen in Warschau unterhielt, schrieb am 16. Juni 1942 an Pfarrer Wilhelm Vischer in Basel:

"Anfang Juni sollte wieder ein Transport von 50- bis 60-Jährigen nach Polen gehen. Aus Warschau hatten wir Bestätigung unserer Post von zwei Korrespondenten. In dem Sammellager Gartenstraße 27 werden je 50 Christen geistlich versorgt von dem Pfarrer Flatow und dem früheren Mitarbeiter von Grüber, Max Honig, der noch in Berlin die Laienordination empfangen hat. Wir haben also auch dort eine Lagergemeinde in rein jüdischer Umgebung. Durch diese beiden Korrespondenten wird unsere Hilfe sicher in der richtigen Weise verteilt werden. Pastor Flatow, Halbarier, war nach England eingeladen, hatte aber gezögert anzunehmen, sich mit einer Judenchristin verheiratet und ist deshalb als ›Jude‹ nun mit deportiert worden. In der Gartenstraße scheint leidlich Ordnung zu herrschen; Flatow scheint regelrecht als Pfarrer angestellt zu sein."147

Das von den Nazis geschaffene "Warschauer Ghetto" bestand seit Herbst 1940. In einem vier Quadratkilometer großen, ummauerten Quartier waren bis zu einer halben Million Juden aus Warschau und dem Generalgouvernement zusammengetrieben worden. Unter ihnen befanden sich etwa 2000 zum Christentum konvertierte Warschauer Juden, für die eine Kirche geöffnet blieb.148 Seit dem Frühjahr 1942 wurden auch Juden aus dem Reichsgebiet in das Warschauer Ghetto transportiert, für viele eine Art Zwischenstation auf dem Weg in den Tod. Auch unter diesen befanden sich - wie der Brief Freudenbergs zeigt - "nichtarische" Christen. Ab Juli 1942 rollten von Warschau aus täglich Züge mit 7000 bis 9000 Menschen in die Vernichtungslager.

Ernst Flatow und die Lobetaler in der evangelischen Gemeinde im Warschauer Ghetto
Nimmt man diese Information zusammen mit den wenigen Briefen, die bis zum Sommer 1942 in Lobetal (vgl. Kap. 32) und Dahlem (vgl. Bd. 4/1, Kap. 8) noch ankamen, ergibt sich ein bewegendes Bild von einer kleinen evangelischen Lagergemeinde am Rande des Warschauer Ghettos. Jener Judentransport, mit dem der von Freudenberg erwähnte Ernst Flatow deportiert wurde, ging am 14. April 1942 vom Sammelplatz Ecke Levetzowstraße und Jagowstraße in Berlin-Moabit nach Warschau ab.149 Verladebahnhof war der Güterbahnhof Grunewald.150 Die vollgepferchten Güterwagen kamen in Warschau am 16. April in der Frühe an. Adam Czerniaków, der Vorsitzende des Judenrats im Warschauer Ghetto, schrieb am selben Tag in sein Notizbuch:

"Morgens um 5 Uhr 30 auf dem Umschlagplatz. Um 6 Uhr fuhr der Zug mit den Neuankömmlingen aus Deutschland ein. Es sieht nach 1000 Personen aus. Ich begleitete den Transport zur Judaistischen Bibliothek."151

Der Briefschreiber Adolf Freudenberg kannte den evangelischen Pfarrer Ernst Flatow offensichtlich nicht persönlich. Einzelne seiner Angaben sind zu korrigieren. Flatow, der nach einer relativ langen Studienzeit in mehreren Fächern erst 1926 mit 39 Jahren in den Kirchendienst eingetreten war, hatte sich 1931 - nach wenigen Jahren Ehe - wieder von seiner Frau, einer Graphologin, getrennt. Die Ehe wurde 1935 geschieden. Flatow war bereits 1933 wegen seiner jüdischen Herkunft als Krankenhauspfarrer in Köln suspendiert worden. Er war nicht nur "Halbarier", sondern "Volljude" und hätte sich nur durch die Emigration oder durch Untertauchen retten können. Inzwischen war Ernst Flatow mit der erwähnten "Judenchristin", Irene Breslauer152, ebenfalls einer "Volljüdin", verlobt. Beide wollten 1939 gemeinsam nach England emigrieren und hatten bereits die dafür nötigen Papiere. Kurz vor Kriegsausbruch, schon auf dem Weg ins Ausland, trennte sich überraschenderweise Ernst Flatow am Grenzübergang bei Aachen von seiner Verlobten und blieb in Deutschland zurück. (Vgl. Bd. 1, Kap. 19)

Ende 1941 fand Flatow bei Pastor Paul Braune in den Hoffnungstaler Anstalten in Lobetal für wenige Monate Unterschlupf, ehe er nach Warschau deportiert wurde. Sein seelsorgerlicher Dienst in Lobetal ist mehrfach bezeugt.

Unter den 1000 Deportierten,153 die am 14./16. April 1942 von Berlin nach Warschau deportiert wurden, befanden sich nicht nur Flatow, sondern noch weitere zehn, höchstwahrscheinlich sogar weitere zwölf "Juden" aus den Hoffnungstaler Anstalten. (Vgl. Kap. 32) Die meisten von ihnen waren nicht wegen einer Behinderung nach Lobetal gekommen, sondern als Hilfesuchende, die wegen ihrer "Abstammung" arbeitslos geworden waren. Fast alle waren durch das Büro Pfarrer Grüber vermittelt worden.154 Es waren dies der 65-jährige Rechtsanwalt Dr. Benno Bernstein, der 24-jährige geistig Behinderte Ernst Simon Bischofswerder, eine Frau Melitta Bombach, der 64-jährige ehemalige Kaufmann Nathan Dann, der 59-jährige Landgerichtsrat Dr. Hermann Feder, der 58-jährige geistig Behinderte Walter Guttsmann, der 61-jährige Spediteur Arnold Kuznitzki, der 64-jährige Versicherungsvertreter Meinhold Meyer, der 51-jährige Amtsgerichtsrat Dr. Ernst Rosenstern und der 60-jährige Landarbeiter Hermann Zeidler.155

Dem noch erhaltenen Briefwechsel kann man Näheres über einzelne Schicksale und die äußeren Umstände in Warschau entnehmen. (Vgl. Anhang: Dokumente 2 und 3) Ernst Flatow fühlte sich für sie alle in besonderer Weise verantwortlich. Schon wenige Tage nach Ankunft in Warschau schickte er nach Lobetal ein erstes Lebenszeichen im Grundton eines verhaltenen Optimismus. Der Lobetaler Hausvater Richard Striedieck gab die Nachricht alsbald an alle Angehörigen der Verschleppten weiter:

"Wir liegen vorläufig in einem Massenquartier mit Verpflegung. Hört diese auf, so wird die Lage ernst, denn Arbeit gibt es fast nur für gelernte Arbeiter. Die Lebensmittel sind teuer. Bargeld ist nicht vorhanden. Paket- und Geldsendungen sind nur vom neutralen Ausland erlaubt. Den fünf Lobetaler Kameraden156 geht es sonst gut."157

Es ist nicht klar, ob die relativ optimistische Darstellung unter äußerem Zwang verfasst wurde oder ob eine Selbsttäuschung in der Euphorie der ersten Tage vorlag. Jedenfalls klagte Nathan Dann vier Wochen später auf einer offenen Karte an Fritz Buchholz in der Lobetaler Wäscherei, dass Flatow in seinen Berichten die Verhältnisse beschönige. (Vgl. Anhang: Dokument 2) Am 17. Mai 1942 schrieb er:

"Auch das ist noch milde, wenn ich sage, dass Unterbringung u. Verpflegung hier gegen die in Friedenshöhe wie Tag gegen Nacht ist. Es gibt täglich 2 3 1 Stück allzu frisches Brot, zusammen etwa 200 Gramm. Als Mittagessen 1/2 Ltr. dünne Kohlsuppe, weiter nichts. Kartoffeln, Fleisch, Fett giebt [!] es gar nicht. Außenarbeiter Tiefbau bei 12-stündiger Arbeitszeit bekommen doppelte Brotration u. doppelt warmes und besseres Essen an ihrer Arbeitsstelle, auch verhältnismäßig anständigen Lohn, womit sie sich weiter zum Essen was zukaufen können. Die Arbeit ist schwer. Die Leute werden früh um 5 Uhr p. Auto zur Arbeit hingefahren u. abends gegen 1/2 7 zurückgebracht. Mich hat man abgelehnt, da hierzu nur Leute bis zu 60 Jahren genommen werden u. ich es auch wohl kaum hätte schaffen können. […] Jetzt lerne ich kennen, dass Hunger weh tut u. welche verheerende Wirkung er hat. Ich bin immer müde u. sehr langsam. Habe täglich Kopfschmerzen u. beim Treppensteigen zittern mir die Knie. […] Lieber Buchholz, ich appelliere an Deine Anständigkeit u. die menschlich freundschaftliche Art, die Du mir gegenüber gezeigt hast. Hilf mir, so weit Du irgend kannst u. helfe rasch. Ich möchte nicht, dass es mit mir so wird wie mit Guttsmann aus Hoffnungstal, dessen Exitus zwischen heute u. morgen erwartet wird. Vielleicht, u. ich hoffe es sehr, interessiert sich Pastor Braune für meinen Fall u. hilft mit. Vor allem Brot brauche ich sehr u. etwas Marmelade oder Schmalz. Vielleicht gehst Du zu Schöpke nach dem Altersheim um von ihm zu bekommen [? Text schwer lesbar] die harten Brotkanten, die die alten zahnlosen Leute ja doch nicht essen können und schickst mir wöchentlich davon als Päckchen oder 1000 Gr. Brief. Letzteres soll sicherer sein. Mußt aber vormittags hingehen, nachmittags ist meist nichts mehr da. Schöpke ist ein anständiger Mensch u. wird mich nicht verelenden lassen."158

Auch andere bestätigen die katastrophalen Verhältnisse, wie zum Beispiel der ehemalige Landgerichtsrat Dr. Hermann Feder. In einem Brief an seine Kinder vom 5. Mai 1942 schreibt er, sowohl Unterkunft als auch Ernährung seien schlecht.159 Am ausführlichsten schilderte der ehemalige Amtsgerichtsrat Dr. Ernst Rosenstern in einem vierseitigen Brief vom 14. Juni 1942 an Hausvater Richard Striedieck die Situation. In diesem Brief, der zugleich das letzte Lebenszeichen der Lobetaler Gruppe aus Warschau war, erfährt man auch Näheres über kirchliche Angebote:

"Warschau, d. 14.VI., Gartenstr. 27 T 5
Sehr geehrter Herr Hausvater,
Wir sind nun zwei Monate hier in Warschau und waren im ganzen 1000 Personen, die hier in einem früheren Bibliotheksgebäude außerhalb des Ghettos untergebracht sind, den arischen Wohnbezirk aber bei Todesstrafe nicht betreten dürfen. Es sind ungefähr 30 bisher gestorben. Wir bekommen täglich 2 3 125 g Brot und eine sehr wässerige Suppe, so dass wir alle sehr dünn geworden sind. Es gibt zwar allerhand hier zu kaufen, aber wir sind ganz ohne Geld. Außerdem ist hier eine furchtbare Inflation. Eine Reichsmark sind gleich zwei Zloty. Ein 2 Kilobrot kostet etwa 13 Zloty. Ein Ei kostet 2 Zloty 50. Hundert g Wurst kosten etwa 10 Zloty. Herr Guttsmann aus Friedenshöhe ist vor etwa zwei Wochen gestorben. Herr Kuznitzki war wegen Gesichtsrose im Krankenhaus und ist geheilt hierher zurückgekehrt. Bischofswerder ist gleich in den ersten Tagen zusammen mit anderen jungen Menschen weggekommen nach einem Arbeitslager, woher er nicht schreiben darf. Feder arbeitet mit draußen, hat aber zur Zeit einen bösen Fuß. Flatow arbeitet bei einer Firma im Büro. Ich bin hier im Hause beim Ordnungsdienst beschäftigt. Von dem arischen Teil von Warschau habe ich bisher so gut wie nichts gesehen. In dem Ghetto, in welchem etwa 600000 Menschen leben sollen, sind die Menschen sehr eng zusammengepfercht und es herrscht für unsere Begriffe unermessliches Elend. Lebensmittelkarten gibt es hier nicht. Geistlich betreut werden wir hier durch Herrn Konsistorialrat Loth, Königsstraße 19, der uns schon wiederholt besucht und für uns gesorgt, insbesondere Gottesdienste mit Abendmahlsfeier abgehalten hat; er ist ein älterer Herr, dessen Tochter in Berlin verwitwet ist. Da die Lebensmittel für uns nicht ausreichen, verkaufen wir unsere Kleider und Wäsche, um uns etwas Nahrung zukaufen zu können. Etwa zehn v.H. der Leute in unserem Heim sind krank, teilweise haben sie üble Krankheiten. Ich liege mit Herrn Feder auf einer Pritsche in einem Saale, in dem 200 Menschen wohnen. Ich bitte alle Menschen zu grüßen, die sich meiner wohlwollend erinnern und bin meinerseits beauftragt, von allen Herren, die aus Lobetal hier sind, Grüße zu übermitteln. Ergebenst Ihr Dr. Rosenstern."160

Dahlemer Kontakte nach Warschau
Noch von einer dritten Seite aus, neben den Hoffnungstaler Anstalten und dem Ökumenischen Rat in Genf, gab es für wenige Monate einen intensiven brieflichen Austausch mit den protestantischen "Nichtariern" am Rande des Warschauer Ghettos. Adolf Freudenberg hatte im zitierten Brief vom 16. Juni 1942 an Wilhelm Vischer neben Ernst Flatow auch Max Honig, einen früheren Mitarbeiter in der Wohlfahrtsabteilung im Büro Pfarrer Grüber,161 genannt. Er gehörte zum Dahlemer Helferkreis (vgl. Bd. 4/1, Kap. 8) und wurde zusammen mit seiner Frau Ruth sowie einer weiteren Dahlemerin, Else Kayser, bereits an Karfreitag, 3. April 1942, mit dem 12. Transport von Berlin nach Warschau deportiert.162 Höchstwahrscheinlich waren sowohl Max Honig als auch Else Kayser vor ihrer Deportation als Laien in Dahlem ordiniert worden. Regelmäßig berichteten sie aus Warschau in Briefen an Helene Jacobs über ihr Ergehen und ihre seelsorgerliche Arbeit. Jacobs gab ihre Informationen in Auszügen an Einzelne wie Helmut Gollwitzer oder auch in Form von gesammelten Auszügen an den Helferkreis weiter. So erfahren wir aus einem Brief von Helene Jacobs an Helmut Gollwitzer vom 2. Mai 1942 Einzelheiten aus verschiedenen Karten und Briefen aus Warschau:

"Wir wissen nicht, wie lange die Adresse gilt. Anfangs hieß es, es sei nur eine Durchgangsstation. Aber soweit ich höre, steht noch nicht fest, ob und wann es weitergeht. Honigs und Frau K.[ayser] betreuen 76 bzw. 32 Personen aus einem Dauerheim in [Berlin-] Weissensee (wie es heißt, Geistesschwache, das ist merkwürdig!), die mit ihnen dorthin gekommen sind. Die Nachrichten haben vielfach einen erstaunlich freudigen und mutigen Ton. Immer wieder aber die dringliche Bitte um Geld. Man kann von hier aus nichts schicken. Vielleicht ist es vom neutralen Ausland aus möglich. Manche schreiben um Lebensmittel oder Sachen zum Tauschen. Dann kommen von H. auch enttäuschte bittere Karten, warum sie keine Antwort von uns bekämen. Es geht offenbar eine Flut von Briefen und Karten hin und her, und wir hatten vielleicht besonders Pech, dass unsere sehr lang unterwegs waren. Es scheint auch notwendig, die Tr.[ansport] Nr. anzugeben, was wir anfangs nicht wussten. Bei den Vorigen ([nach] Piaski) müssen wohl verkehrstechnische Schwierigkeiten entstanden sein, durch die die Ernährung noch besonders verschlechtert wurde. Man hörte von sehr traurigen Nachrichten, dass sie ohne Gepäck usw. seien. In W.[arschau] scheint es nicht so zu sein. In einem Brief heißt es: Das Komitee (ich weiß nicht, was das für eine Fürsorgekommission ist, ob es aus eigenen Leuten gebildet ist) sorgt rührend für uns, kann uns aber mit Geldmitteln, selbst den geringsten, nicht unterstützen, die aber als [= für] zusätzliche Kost unbedingt erforderlich sind."163

Vielleicht waren die Empfänger der Briefe und Karten in Berlin sich der Gefahr, in die sie sich damit begaben, nicht bewusst oder nahmen dieses einfach in Kauf. Aus späterer Zeit ist bekannt, dass die Gestapo besonders die Empfänger von Postsendungen aus den östlichen Ghettos genau registrierte, um dadurch noch versteckte Juden und jüdische Sympathisanten im Reichsgebiet ausfindig zu machen.164

Hilfe durch den Weltrat der Kirchen für die Christengemeinde am Rande des Warschauer Ghettos
In ihrem zusammenfassenden Bericht dachte Helene Jacobs beim Ausdruck "neutrales Ausland" an den Ökumenischen Rat der Kirchen in Genf, konkret an Adolf Freudenberg, den Leiter des Ökumenischen Flüchtlingsdienstes, den viele Berliner Deportierte aus seiner Dahlemer Zeit noch kannten. (Vgl. Bd. Bd. 3/1, Kap. 22) So wurde Freudenberg in einem Brief von Franziska Liefmann vom 8. Mai aus Warschau an Helene Jacobs ausdrücklich erwähnt:

"Die Lichtgestalt165 bitte herzlich zu grüßen und ihr zu sagen, dass es von hier aus nicht möglich ist, an A.[dolf] Fr.[eudenberg] oder Fifi zu schreiben. Es müsste also schon von dort aus geschehen. Ihre alte, nicht klein zu kriegende Fr.[anziska]."

Ähnliche, mit großen Hoffnungen verbundene Anfragen häuften sich in den folgenden Tagen. Am 16. Mai schrieb Franziska Liefmann: "Hoffentlich tritt Ad. Fr. recht bald in Erscheinung." Und am 24. Mai: "Ob Martha und Ad. Fr. schon von sich hören ließen? Hier kommt einiges an, auch soll noch so manches nachkommen."166

In Berlin war man nicht untätig. Am 15. Juni ging per Kurier von Gertrud Staewen, Berlin-Dahlem, an Adolf Freudenberg in Genf die verschlüsselte Information und Bitte:

"Honer [Tarnname für Max Honig] schreibt, dass dort annährend 100 Christen in seiner Betreuung sind. Die Amtshandlungen hat er größtenteils selbst zu erledigen. P. Loth, der Königstr. 19 wohnt, besucht ihn recht häufig. Er ist auch bereit, Sendungen entgegenzunehmen, entweder für bestimmte Personen oder natürlich auch für die Gemeinschaft der Hundert. Honer schreibt auch von gemeinsamen Sonntagen mit Katholiken. Wir bitten sehr, uns mitzuteilen, was Sie für dort tun können."167

Die Antwort aus Genf kam prompt. Am 25. Juni schrieb Adolf Freudenberg an Gertrud Staewen:

"Von Deiner Vertreterin erhielten wir zweimal Nachricht und waren sehr dankbar dafür. Mit Honer und Freunden stehen wir in Verbindung und hoffen, dass die erste Hilfe bald ankommt. Außer uns kümmern sich auch schwedische Freunde um sie. Es ist wenig, was wir tun können, zeigt ihnen aber immerhin unsere Verbundenheit. Jede Nachricht von dort ist wichtig."168

In Genf hatte man noch genauere Informationen über die Protestantengruppe in Warschau. In einer Aktennotiz heißt es:

"Aus einem Bericht vom 11. 7.: Sie wären im Gebäude der geräumten jüdischen Hauptbibliothek untergebracht. Seitens der deutschen Behörden würde zwischen ihnen und den polnischen Juden in der Behandlung doch ein erheblicher Unterschied gemacht, sie würden besser behandelt als die anderen und viele von ihnen hätten Arbeit, die ihnen einiges Geld und vor allem auch warmes nahrhaftes Essen einbrächte.

Zwei ärztliche Kräfte seien auch dabei, ein Medizinalrat Dr. Hoch und ein Fräulein Philipp. Beide seien evangelisch. Im Zimmer der letzteren fänden regelmäßig Gottesdienste statt. Dies alles würde als ein besonderes Zeichen der Hirtentreue Gottes und wohl auch vieler Fürbitte betrachtet. […]

Ein alter Konsistorialrat Loth darf die nichtarischen Christen besuchen, während der zuständige Superintendent dazu keine Erlaubnis erhalten hat."169

Anmerkungen:
147 Adolf Freudenberg an Wilhelm Vischer (16. 6. 1942). AÖR: General Correspondence, Box 111 (Wilhelm Vischer).
148 Vgl., auch zum Folgenden, Enzyklopädie des Holocaust, Bd. III (1995), Artikel "Warschau", 1522-1549, bes. 1533.
149 Zum Sammlungsort vgl. Diekmann (1993), 226. (Den Hinweis verdanken die Verf. Jan Cantow). Vgl. außerdem die Abschrift eines anonymen Berichts über den 12. und 14. Transport von Berlin nach Warschau (20. 4. 1942). EZA: 50/110, Bl. 119f. Zum Termin vgl. Rürup (1995), 316.
150 Der Berliner Senat enthüllte am 18. Oktober 1991 neben dem Eingang zum Bahnhof Berlin-Grunewald ein von Karol Broniatowski entworfenes Mahnmal zusammen mit einer Tafel, die an "mehr als 50000 Juden Berlins" erinnert, die "zwischen Oktober 1941 und Februar 1945 vorwiegend vom Güterbahnhof Grunewald aus in die Vernichtungslager deportiert wurden".
151 Czerniaków (1986), 243.
152 Die Verlobte hieß Irene Breslauer, nicht Ilse Breslauer, wie Sigrid Lekebusch versehentlich schreibt. Vgl. Lekebusch (2006), 263. - Irene Breslauer änderte in der Emigration ihren Nachnamen in Irene Bradley. Vgl. Straub/Kienle (1982), 12.
153 Nach Rürup (1995), 316, umfasste der 14. Transport von Berlin nach Warschau nur 211 oder gar nur 65 Personen. Der Rest der 1000 Deportierten mag aus andern Teilen Deutschlands gekommen sein.
154 Vgl. Cantow (1999), 33; Cantow (2001), 35. Cantow nennt die Namen von 25 Personen jüdischer Herkunft, die vom Büro Pfarrer Grüber von Januar 1939 bis Dezember 1940 in die Hoffnungstaler Anstalten vermittelt wurden.
155 Alle Angaben nach einer Zusammenstellung von Pastor i.R. Hans-Heinrich Albrecht aufgrund der Heimbewohnerakten. Schr. an die Verf. (26. 4. 1990). Vgl. auch die alphabetisch geordneten biographischen Daten zu den genannten Personen bei Cantow (2001), 64-110.
156 Flatow erwähnt nur die unmittelbar aus Lobetal Deportierten. Tatsächlich waren aber mit demselben Transport am 13./15. April 1942 aus anderen Einrichtungen der Hoffnungstaler Anstalten noch mindestens weitere sechs Personen deportiert worden. Vgl. Cantow (1999), 49f.; Cantow (2001), 54f.
157 Zitat aus einem Brief von Paul Braune an Pastor Reck (23. 4. 1942). Das Original des Briefes ist nicht mehr vorhanden. Zur Weitergabe der Nachricht vgl. Hausvater Richard Striedieck an Frau Bernstein (24. 4. 1942). AHtA: ohne Bestandsnummer; vgl. auch Heimbewohnerakte Benno Bernstein.
158 Nathan Dann an Fritz Buchholz (17. 5. 1942). Die Postkarte ist am 22. 5. 1942 in Warschau abgestempelt. AHtA: EA 600.
159 Vgl. AHtA: Personalblatt Hermann Feder.
160 Ernst Rosenstern an Hausvater Richard Striedieck. AHtA: AbP Ernst Rosenstern.
161 Vgl. Ludwig (1988), 156.
162 Vgl. Schäberle-Koenigs (1998), 279; Ludwig (1988), 166; Ludwig (2006/Kayser), 335. Mit Ludwig ist wohl das von Schäberle-Koenigs angenommene Datum des Abtransports (2. 4. 1942) in 3. April 1942 zu korrigieren. Nach einem anonymen Bericht aus Warschau vom 20. 4. 1942 ist der 12. Berliner Transport am 5. 4. 1942 gegen 8 Uhr in Warschau angekommen. Vgl. Abschrift eines Berichts aus Warschau (20. 4. 1942). EZA: 50/110, Bl. 119f.
163 Helene Jacobs an Helmut Gollwitzer (2. 5. 1942). EZA: 686/3259. Teilweise auch zitiert bei: Schäberle-Koenigs (1998), 292.
164 Vgl. Dagoni/Kohn (1982), 1-5.
165 Mit der "Lichtgestalt" ist Gertrud Staewen gemeint.
166 Auszugsweise Abschrift mehrerer "Karten von Frau Landmann" [alias Franziska Liefmann] (8. 5. 1942; 16. 5. 1942; 24. 5. 1942). EZA: 50/110, Bl. 120 + 120R. Ebenso EZA: 686/987.
167 Kuriertext von Gertrud Staewen an Adolf Freudenberg (15. 6. 1942 / Eingang 22. 6.). AÖR: European Central Office for Inter-Church Aid 1922-1945, B2 / 3 (Akte: Gertrud Staewen)
168 Adolf Freudenberg an Gertrud Staewen (25. 6. 1942). AÖR: Inter-Church Aid,
B2 /3.
169 Aktennotiz Adolf Freudenberg (Sept. 1942). AÖR: Inter-Church Aid B2 /3.

Eberhard Röhm/Jörg Thierfelder: "Juden-Christen-Deutsche" Band 4/2 (1941-1945), Calwer Taschenbibliothek 104, Calwer Verlag Stuttgart 2007, 773 Seiten, 19,90 EUR wie jeder Teilband (ISBN 3-7668-3887-3) - Das Gesamtwerk (alle sieben Teilbände) in Schuber, 3589 Seiten, 99 EUR

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