Urteil statt Vorurteil. Heute:
"Auge um Auge, Zahn um Zahn"
von Klaus-Peter Lehmann
Diese Worte aus der Tora (2 Mose 21,24) haben in unserer
Umgangssprache eine sprichwörtliche Bedeutung angenommen, die ihren
wahren Sinn verdreht. Sie gelten heute noch immer als die klassische Formulierung
einer strengen Vergeltung mit Gleichem und stehen so für eine widerwärtige
und verabscheuungswürdige Moral, die von mitleidloser Rachgier getrieben
wird. Weil viele nur diese Worte aus dem Alten Testament kennen, stehen
sie weithin für dessen Inhalt. In der medialen Meinungsfabrikation
dient "Auge um Auge" immer wieder als Formel, um die Politik
des Staates Israel gegenüber seinen arabischen Nachbarn zu charakterisieren.
Das dürfte eine säkulare Fortsetzung des christlichen Antisemitismus
sein. (1) Denn in der Kirche herrschte seit Jahrhunderten das Bild von
einer jüdischen bzw. pharisäischen Moral, (2) die sich vom angeblichen
Rachegott des Alten Testamentes herleitet. Bis heute spricht christliche
Auslegung vom Talionsgesetz, als ginge es hier um Vergeltung. Aber nicht
nur die rabbinische Auslegungstradition, auch der Wortlaut der Weisung
(2 Mose 21, 23-24) und die grundlegende Rechtsidee der Tora, wonach Barmherzigkeit
das Herz der Gerechtigkeit ist, stehen solcher Sicht entgegen.
Die jüdische Auslegung verwarf seit eh (3) das sog.
wörtliche Verständnis von Auge um Auge und erkannte stets auf
eine Anweisung zu adäquater finanzieller Entschädigung. Für
einen angerichteten Schaden soll dem Geschädigten vom Schädiger
ein gerechter Ersatz nach genauer gerichtlicher Schätzung ausgezahlt
werden: "Wer seinen Nächsten verwundet, ist ihm fünf Dinge
dafür schuldig: Schadensersatz, Schmerzensgeld, Heilungskosten, Entschädigung
für Versäumnis der Arbeit und Strafgeld für die Beschämung"
(Babylon. Talmud, Baba Qamma 8,1).
Ein Blick auf den Wortlaut der Weisung und ihren Zusammenhang
im Text erweist die völlige Unhaltbarkeit aller Auslegungen, die
meinen, es gehe hier um Vergeltung bzw. Rache: Wenn Männer miteinander
hadern und stoßen eine schwangere Frau, und es gehen ihre Kinder
ab, ohne dass ein Unfall geschieht, gebüßt, gebüßt
soll es werden, sobald der Gatte der Frau ihm auferlegt, und er gebe es
durch die Sühnerichter. Wenn aber ein Unfall geschieht, so gib Leben
um Leben, Auge um Auge, Zahn um Zahn, Fuß um Fuß, Brandmal
um Brandmal, Wunde um Wunde, Strieme um Strieme (2 Mose 21,22-25).
Das hebr. `ason´, das wir mit `Unfall´ wiedergeben,
umfasst jede Art von Verletzung. Dafür soll in jedem Fall eine Buße
festgesetzt werden. Wichtig ist die Feststellung, dass es sich um eine
versehentliche Körperverletzung einer unbeteiligten dritten Person
handelt. Wer wird schon einer Schwangeren vorsätzlich in den Leib
treten! Im Unterschied zu anderen Gesetzeswerken (z.B. Codex Hammurapi)
taucht dieser Fall in der Tora nicht auf. Bei Auge um Auge geht es offenbar
um die gewissenhaft festzulegende Bußleistung für einen unabsichtlich
zugefügten, aber schmerzhaften Schaden.
Mit so gib sind die Richter angesprochen. Die Einzahl
steht, weil sie Israel repräsentieren und die dem Volk von Gott am
Sinai aufgetragene Gerechtigkeit in Kraft setzen sollen (2 Mose 21, 12-14).
Sie sollen eine angemessene Wiedergutmachung aller Schäden festsetzen.
Im Hebräischen ist Auge um Auge die technische Bezeichnung für
einen gerechten Ersatz, was sich aber auch aus dem Zusammenhang logisch
ergibt. So ist es für einen Juden und auch den aufmerksamen Leser
der Bibel unmöglich, aus dieser Weisung körperverstümmelnde
Vergeltung herauszuhören.
Gerechtigkeit schloss schon im alten Israel Barmherzigkeit
ein. Jene ist undenkbar ohne diese und umgekehrt. Barmherzig ist der Gerechte
(Ps 112,4). Gerechtigkeit ohne Barmherzigkeit wird gnadenlos, Barmherzigkeit
ohne Gerechtigkeit verantwortungslos. Gerechtigkeit ist Solidarität
von Gottes Geschöpfen und erstreckt sich auf die Tiere: Der Gerechte
erbarmt sich seines Viehs, das Herz des Gottlosen ist grausam (Spr. 12,10).
Ihre Mitte ist die Hinwendung zum bedürftigen Mitmenschen: Wenn ein
Fremdling bei dir wohnt, ... so sollt ihr ihn nicht bedrücken. Wie
ein einheimischer aus eurer Mitte soll euch der Fremdling gelten ... du
sollst ihn lieben wie dich selbst" (3 Mose 19,33f). Diesem Geist
der Tora würde es zutiefst widersprechen, die Weisung Auge um Auge
als gnadenlose Rachejustiz zu lesen, statt als die erinnernde Aufzählung
der Wunden, die einem arg Geschlagenen zugefügt wurden. Jede Wunde
ruft nach Erbarmen, nach Mitleid, nach Wiedergutmachung, nach Solidarität.
So wäre die Liste der schmerzenden Wunden eine Einweisung in eine
bedacht und fürsorglich wahrzunehmende Verantwortung für den
geschädigten und leidenden Mitmenschen. (4)
Das Neue Testament zitiert einmal: Ihr habt gehört,
dass gesagt ist: Auge um Auge, Zahn um Zahn, und ich sage euch, dass ihr
dem Bösen nicht entgegenstehen sollt (Mt 5,38f). Ohne das unnötige:
"Ich aber sage euch", wie gemeinhin übersetzt wird, was
einen Gegensatz zum Alten Testament unterstellt, erkennen wir in Jesus
hier den schriftgelehrten Ausleger der alten Weisung, jede Wunde zu bedenken.
Matthäus lässt ihn für seine Gemeinde sprechen, die von
römischen Besatzungssoldaten blutig und willkürlich drangsaliert
wird. Er legt die Weisung für Verfolgte aus, die sich selbst schützen
müssen. Besser als sich der überlegenen Gewalttätigkeit
körperlich entgegenzustellen, ist eine andere Strategie, die hilft,
verletzte Augen, ausgeschlagene Zähne, Wunden und Striemen zu vermeiden:
den Feind durch Gutes-Tun zum Schweigen zu bringen (1 Petr 2,15; Röm
12,21), seine innere Entwaffnung durch eine überraschende Großmütigkeit:
Wer dich auf den rechten Backen schlägt, dem biete auch den andern
dar, ... und wer dich nötigt eine Meile zu gehen, mit dem gehe zwei
(Mt 5,41). Jeder römische Soldat konnte damals einen Juden zwingen,
sein Gepäck zu schleppen. Wenn er dich für eine Meile zur Fron
zwingt, dann gehe zwei mit ihm, sagt Jesus. Dem Überlegenen wird
die Initiative genommen, Böses mit Gutem vergolten, ein freundschaftliches
Gespräch kann entstehen. Können denn zwei miteinander wandern,
es sei denn, sie werden einig unterwegs? (Am 3.3). Stellvertretende Wiedergutmachung
von empfangenen und drohenden Wunden durch zuvorkommende Großmut.
Feindesliebe.
Die christliche Umdeutung von Auge um Auge ist schwer
zu datieren. Kirchenvater Augustin sah darin ein Gesetz der Gerechtigkeit,
nicht des Hasses. Aber auch er sprach von gerechter Vergeltung: ein Auge
und nicht zwei, ein Leben und nicht das der ganzen Familie, wie bei der
Blutrache. Der Irrtum beginnt dort, wo in dieser Weisung eine begrenzte
= gerechte Rache bzw. Vergeltung gesehen wird und nicht die Einweisung
in eine jede Wunde bedenkende mitleidvolle Verantwortung für den
schmerzvoll geschädigten Mitmenschen. So gesehen wird die Übersetzung
von Martin Buber zur allein zutreffenden: ... gib Lebensersatz für
Leben, Augersatz für Auge, Zahnersatz für Zahn, ..."
Tatsächlich kennen die nichtjüdischen Völker
im Unterschied zur Tora ein Vergeltungsrecht. Die erste Bestimmung auf
den zwölf Tafeln des ältesten römischen Gesetzeskodex lautet:
"Wenn jemand ein Körperglied zerrissen wird, soll, wenn der
Täter sich mit dem Opfer nicht vergleicht, Wiedervergeltung sein."
Der Täter soll nur das gleiche Übel erleiden, das er seinem
Opfer zugefügt hat. Die Vollstreckung obliegt dem Opfer bzw. seiner
Sippe. Was wie eine Einschränkung der Privatrache daherkommt, war
faktisch ihre Legalisierung.
Es ist ein antijüdisches Paradox der Geschichte,
dass dem Judentum, dessen Tora Mitleid, Barmherzigkeit und Gerechtigkeit
lehrt, die Rachegesinnung eines strengen Vergeltungsgesetzes unterstellt
wurde. Welches Volk neben dem jüdischen kannte in seiner Geschichte
weder Folter im Prozess noch Verstümmelungen als Strafe? Welches
Volk außer dem jüdischen musste sich so in Verdrehung der von
ihm verkündeten Wahrheit schmähen lassen? Vielmehr könnte
jede Gesetzgebung von der Tora, deren Rechtsprechung aus dem Gedenken
an die Schmerzen der Geschlagenen und Gedemütigten kommt, lernen.
1) s. Art. Was ist Antijudaismus?, Ma Nishma ?, Nr. 55,
S. 10
2) s. Art. Pharisäer, Ma Nishma ?, Nr. 57, S.3
3) Zu Zeiten des Zweiten Tempels, d.h. zwischen Rückkehr aus dem
babylonischen Exil (ca. 530 a.C.) und der Tempelzerstörung durch
die Römer (70 p.C.), genauer seit es nach dem Erfolg der makkabäischen
Erhebung (175-128 a.C.) eine Spaltung zwischen Sadduzäern und Pharisäern
gab, war es zwischen ihnen umstritten, ob Auge um Auge wörtlich zu
verstehen sei, bis sich die Auslegung der letzteren durchsetzte. Das war
nach Josephus, nachdem die Pharisäer die Mehrheit im Synhedrion erlangt
hatten.
4) Auch andere Weisungen erinnern zu ihrer Begründung ausdrücklich
an Leiden und Not des Nächsten: Wenn du den Mantel eines andern zum
Pfande nimmst, so sollst du ihm denselben zurückgeben, ehe die Sonne
untergeht; denn er ist doch seine einzige Decke, die Hülle seines
Leibes. Worauf sollte er sonst schlafen? Wenn er zu mir schreit, so werde
ich ihn erhören; denn ich bin gnädig (2 Mose 22,25ff).
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