Familientradition
Eine Begegnung mit der jüdischen Theologin und Feministin Susannah
Heschel
von Ingo Way
Susannah Heschel schaut ungläubig von ihrer Getränkekarte
auf. Sie kann einfach nicht fassen, dass in einem Café in Berlin-
Mitte ein Getränk namens "Pharisäer" angeboten wird.
"Das ist der ganz selbstverständliche Alltags-Antisemitismus,
der überhaupt niemandem auffällt", sagt die 1956 geborene
Inhaberin des Eli-Black- Lehrstuhls für Jüdische Studien am
Dartmouth College in New Hampshire. Das Getränk - Kaffee mit Rum
- erlaubt es, Alkohol zu sich zu nehmen, während man scheinbar bei
einem harmlosen nachmittäglichen Heißgetränk sitzt. Abstinenz
heucheln, aber sich dem Rausch hingeben, so wie es vermeintliche Pharisäer
tun. "Die Bezeichnung ,Pharisäer' für diesen speziellen
Kaffee entstand im späten neunzehnten Jahrhundert, einer Hochphase
des europäischen Antisemitismus", erklärt Heschel. In dieser
Zeit kennt die Historikerin sich aus. Ihr Hauptwerk Der jüdische
Jesus und das Christentum schrieb sie über den Gelehrten und Reformrabbiner
Abraham Geiger (1810-1874). Geiger eckte damals bei christlichen Theologen
an, indem er darauf hinwies, dass auch Jesus ein Jude, ein Pharisäer
gar, gewesen sei. Nach Geigers Überzeugung habe Jesus keine originäre
Lehre begründet; die vermeintlich christliche Ethik sei in Wahrheit
jüdisch, alle Aussagen Jesu seien genuine jüdische Tradition,
weitaus älter als der Zimmermannssohn aus Nazareth.
Diese Re-Judaisierung des Christentums wurde in den 1880er-Jahren
vor allem von deutsch-national angehauchten Theologen mit einer oft aggressiven
Ent- Judaisierung gekontert. "Es war die Zeit der ,wissenschaftlich'
begründeten Rassentheorie eines Houston Stewart Chamberlain",
sagt Heschel, die sich lieber für einen Latte Macchiato entscheidet.
Die Idee eines "arischen" Jesus findet sich schon bei Chamberlain
selbst. Jesus habe, Chamberlain zufolge, gar nicht aus Judäa gestammt,
sondern aus Galiläa, einem Gebiet, in dem seinerzeit kaum Juden gelebt
hätten. Somit sei Jesus auch kein Jude gewesen. Diese Idee wurde
in Deutschland etwa von dem Theologen Franz Delitzsch oder dem Bibelforscher
Paul Haupt aufgenommen und gegen Abraham Geiger in Stellung gebracht.
Heschel: "Die Rassentheorie wurde herangezogen, um die christliche
Theologie zu modernisieren. Denn die Rassentheorie galt damals als modern.
Diese Leute haben sich nicht abgesprochen, es gab keinen Startschuss oder
dergleichen. Das Thema kam zu dieser Zeit einfach an verschiedenen Orten
gleichzeitig auf."
Der Versuch, Jesus zu "arisieren", war keine
zeitbedingte Kuriosität, die sich selber ad absurdum geführt
hätte. Diese Traditionslinie setzte sich bis ins Dritte Reich fort.
1939 wurde in Deutschland das "Institut zur Erforschung und Beseitigung
des jüdischen Einflusses auf das Christentum" gegründet,
das mit den Deutschen Christen in Verbindung stand. Susannah Heschel beschäftigt
sich in ihrem nächsten Buch, Der arische Jesus, ausführlich
mit diesem unrühmlichen Kapitel christlicher Theologie. Die amerikanische
Ausgabe erscheint voraussichtlich im März, eine deutsche Übersetzung
ist bislang noch nicht geplant.
Susannah Heschel ist nur auf einer kurzen Stippvisite
in Berlin, fliegt noch am selben Tag weiter nach London, zu einem Vortrag.
Am Abend zuvor hat sie im Centrum Judaicum in der Oranienburger Straße
bei einer Veranstaltung des Abraham- Geiger-Kollegs an den hundertsten
Geburtstag ihres Vaters, Abraham Joshua Heschel, erinnert.
Abraham Heschel war neben Martin Buber und Emmanuel Lévinas
einer der bedeutendsten jüdischen Philosophen des vergangenen Jahrhunderts.
Geboren im polnischen Warschau, studierte er in den zwanziger und dreißiger
Jahren in Berlin und erlangte hier seinen Doktorgrad, bevor er von den
Nazis gefangen genommen und nach Polen deportiert wurde. Ihm gelang schließlich
die Flucht über Großbritannien in die USA. Dort führte
er seine Studien über die jüdischen Propheten fort, engagierte
sich in der Bürgerrechtsbewegung und gegen den Vietnamkrieg. Ein
guter Freund der Familie war Martin Luther King, mit dem Abraham Heschel
1965 am Marsch nach Montgomery teilnahm, auf dem gegen die Rassentrennung
protestiert wurde. "King hat mich, neben meinem Vater, am stärksten
beeinflusst", erinnert sich Heschel. "Sein dezidiertes Christentum
hat mich dazu gebracht,mich stärker mit meinem Judentum auseinanderzusetzen.
So entschied ich mich schließlich dazu, Wissenschaftlerin zu werden
und mich mit Jewish Studies zu beschäftigen, obwohl ich ursprünglich
Journalistin werden wollte." Ihr 1972 verstorbener Vater hätte
sie in dem einen wie in dem anderen Entschluss unterstützt. "Er
hat mich immer bestärkt, in allem, was ich tue. Ich kann mich an
keinen einzigen Streit erinnern."
Auch ihre Hinwendung zur feministischen Theologie sieht
Heschel in keiner Weise als Opposition gegen den übermächtigen
berühmten Vater, sondern eher als Fortführung von dessen humanen
Intentionen. Sie entwickelte eine weibliche Perspektive auf die jüdische
Theologie und schrieb 1983 das Buch On Being a Jewish Feminist, das, worüber
sie damals selber erstaunt war, großen Anklang auch bei konservativen
und orthodoxen (männlichen) Juden fand. "Ein orthodoxer Radiomoderator
rief mich damals an, um mir mitzuteilen, wie interessant er es fand, zum
ersten Mal etwas über die Situation jüdischer Schwuler und Lesben
zu lesen. Damit hatte er sich zuvor nie beschäftigt."
Berlin war Susannah Heschel immer schon aus den Erzählungen
ihres Vaters präsent. "Als ich in den achtziger Jahren zum ersten
Mal in Berlin war, mit einem Stipendium des Goethe-Instituts, wunderte
ich mich, dass in dieser Stadt fast nichts an den Holocaust erinnert.
Außer einer Gedenktafel am Wittenbergplatz mit den Namen verschiedener
KZs gab es kein Mahnmal." Zumindest Westberlin hatte keine Ähnlichkeit
mit dem Berlin, das ihr Vater ihr geschildert hatte.
Ganz anders dann Ostberlin. "Hier sah alles noch
so aus, wie es in der ersten Jahrhunderthälfte ausgesehen haben muss.
Die Universität, die Staatsbibliothek, die Museumsinsel ... Ich konnte
mir auf einmal vorstellen, wie mein Vater durch diese Straßen gegangen
ist, auf dem Weg von einem Institut ins nächste." Bei ihrer
damaligen Suche in ostdeutschen Archiven stieß sie auch zum ersten
Mal auf Unterlagen über jene protestantischen Theologen, die Nationalsozialismus
und Christentum miteinander verbinden wollten. So fand sie ihr drittes
Lebensthema, neben modernem jüdischen Denken und feministischer Theologie:
der deutsche Protestantismus und seine Opposition zum Judentum.
Seither war sie noch etliche Male in Deutschland, um zu
forschen und um Freunde und Kollegen zu besuchen. Sie war Martin-Buber-Professorin
für Jüdische Religionsphilosophie an der Goethe-Universität
Frankfurt am Main. Zuletzt war sie im Jahr 2000 hier, als ihr der erste
Abraham-Geiger-Preis des Potsdamer Rabbinerkollegs verliehen wurde. Doch
irgendwann hat sie die Lust verloren, nach Deutschland zu kommen. "Es
gibt ein bestimmtes Argument, das mir nur hier begegnet ist, nie in den
Vereinigten Staaten. In Diskussionen über Antisemitismus heißt
es oft: ,Du bist voreingenommen, weil du jüdisch bist.'" Das
wurde ihr zum Beispiel in der Auseinandersetzung mit der feministischen
Theologin Christa Mulack vorgehalten, die Jesus als Überwinder des
jüdischen Patriarchalismus dargestellt hatte. (Eine These, die von
Franz Alt in seinem Buch Jesus, der erste neue Mann popularisiert wurde.)
Als Heschel, schließlich selbst Feministin, bereits vor Jahren die
Benachteiligung von Frauen im Judentum kritisiert hatte, sei es ihr allerdings
nie darum gegangen, das Christentum gegen das Judentum auszuspielen und
Letzteres als etwas darzustellen, das zu überwinden sei. Sie bekam
den Eindruck, dass in Deutschland nicht die Bereitschaft bestand, überhaupt
nur darüber zu diskutieren, warum Mulacks Feminismus im Unterschied
zu Heschels antisemitisch sei. Doch inzwischen ist Heschel gegenüber
dem deutschen Wissenschaftsbetrieb wieder etwas versöhnlicher eingestellt,
denkt sogar darüber nach, im nächsten Jahr wieder eine Zeitlang
in Deutschland zu lehren. Viel habe sich hier getan in den letzten Jahren,
meint Heschel. Trotz des "Pharisäers".
Jüdische Allgemeine, 8.3.2007
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