"Nur durch die Wahrheit wird aus Erinnerung Orientierung!"
Ratsvorsitzender Bischof Wolfgang Huber in Yad Vashem
Am ersten Tag seiner Reise ins Heilige Land hat der
Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) am 11. April die Gedenkstätte
Yad Vashem besucht. Nachfolgend der Wortlaut des Grußwortes, das
der Vorsitzende des Rates der EKD, Bischof Wolfgang Huber, bei dieser
Gelegenheit sprach:
"Der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland
unternimmt eine Begegnungsreise durch das Heilige Land. Das geschieht
in dieser Form zum ersten Mal. Wir werden viele Menschen treffen, alte
Kontakte auffrischen, neue Begegnungen erleben, wir werden von Schwierigkeiten
der christlichen Kirchen hören, aber auch Klärungen und Fortschritte
der Verständigung feiern können. Aber der Morgen des ersten
Tages unserer Reise führt uns - nach der freundlichen Begrüßung
gestern Abend durch den deutschen Botschafter, den Propst und die deutsche
evangelische Gemeinde - zuerst hierher, nach Yad Vashem, an den Ort der
Erinnerung und der Mahnung.
Diese Gedenkstätte ist für mich persönlich
bei jedem Besuch in Jerusalem ein wichtiges Ziel. Heute ist Yad Vashem
für den gesamten Rat der EKD und alle, die mit uns gekommen sind,
gleichsam unser Tor nach Israel, und das aus Gründen, die für
uns unumgänglich sind. Wir wollen die Stätten des Heils hier
in Jerusalem und im Heiligen Land nicht betreten, ohne zuvor die Stätte
der Erinnerung an das Unheil der Shoah aufzusuchen und unsere Herzen für
diese Erinnerung zu öffnen. Als Delegation aus Deutschland wollen
wir unseren Weg durch Israel hier beginnen, in Achtung und Respekt vor
den Opfern von Willkür, Grausamkeit und tötender Gewalt, verübt
durch das nationalsozialistische Deutschland. In Demut und Beschämung
beugen wir uns vor dem unendlichen Leid, das von Deutschen, auch von Christen
in Deutschland ausgegangen ist, und das in dieser Gedenkstätte Gesicht
und Namen, Anschauung und Konkretion erhält. Hier in Yad Vashem bekennen
wir uns dazu, dass uns das Einmalige und Unvergleichliche dieses Geschehens
bewusst ist. Miteinander wollen wir unseren Glauben und unsere Kraft dafür
einsetzen, dass sich etwas Derartiges nie wiederholt. Miteinander treten
wir auch klar und entschieden denjenigen entgegen, die den Völkermord
am europäischen Judentum leugnen wollen oder sich der politischen
Verantwortung verweigern, die daraus folgt.
Wir wollen am Beginn unseres Besuchs in Israel anknüpfen
an die berühmten Sätze, die der Rat der Evangelischen Kirche
in Deutschland im Oktober 1945 in seinem Stuttgarter Schuldbekenntnis
formuliert hat, als er sich dazu bekannte, dass auch durch uns "unendliches
Leid über viele Völker und Länder gebracht worden"
ist und dass wir in den finsteren Zeiten der nationalsozialistischen Herrschaft
"nicht mutiger bekannt, nicht treuer gebetet, nicht fröhlicher
geglaubt und nicht brennender geliebt haben". Erst Jahre später
wurde das "Schuldbekenntnis der Kirche" bekannt, das Dietrich
Bonhoeffer bereits im Jahr 1940 formuliert hatte und in dem es heißt:
"Die Kirche bekennt, die willkürliche Anwendung brutaler Gewalt,
das leibliche und seelische Leiden unzähliger Unschuldiger, Unterdrückung,
Hass, Mord gesehen zu haben, ohne ihre Stimme für sie zu erheben,
ohne Wege gefunden zu haben, ihnen zu Hilfe zu eilen. Sie ist schuldig
geworden am Leben der Schwächsten und Wehrlosesten Brüder Jesu
Christi". "Brüder Jesu Christi" hatte Bonhoeffer später
in seinem Manuskript ausdrücklich hinzugesetzt. Er wollte damit den
Bezug auf die Juden deutlich machen und die kirchliche Schuld an der Shoah
zur Sprache bringen. Heute machen wir das zu unserem eigenen Bekenntnis.
Denn erst diese Wahrhaftigkeit lässt aus der Erinnerung
Orientierung für die Gegenwart erwachsen. Es sind doch nicht abstrakte
Zahlen von Juden, die im Dritten Reich um ihr Leben gebracht wurden, sondern
es sind Väter und Mütter, Kinder und Geschwister, es sind Schneider
und Ärzte, Hausfrauen und Musiker, die in den Tod getrieben wurden.
Man muss die einzelnen Gesichter, die persönlichen Biographien erinnern,
um den Abgrund zu spüren, an den uns diese Gedenkstätte führt.
Erst die Wahrheit und die Würde eines jeden einzelnen Lebens macht
die Erinnerung konkret, erst die Wucht eines nachvollzogenen individuellen
Schicksals kann zur Orientierung werden für die Verantwortung und
die Aufgabe, die wir auch in die nächste und übernächste
Generation zu tragen haben, wenn die Zeitzeugen und Überlebenden
nicht mehr unter uns sind.
Ich komme auch als Berliner Bischof hierher nach Yad Vashem.
Ich komme aus der Stadt, von der das Unheil ausging. In Berlin fand die
unsägliche Wannseekonferenz statt; hier lebten Menschen wie Hitler
und Himmler, Heydrich und Eichmann. Aber zugleich verbinde ich mit Berlin
auch die Erinnerung an die Synode der EKD in Weißensee, bei der
im Jahr 1950 zum ersten Mal namens der evangelischen Kirche die Schuld
an der Verfolgung der Juden in Europa ausdrücklich benannt und eingestanden
wurde. Die Synode erklärte ihre Bereitschaft, angesichts dieser Schuldgeschichte
neu und anders über das jüdische Volk, über unseren in
diesem Volk geborenen Erlöser Jesus Christus und über den christlichen
Antijudaismus nachzusinnen. Die evangelischen Kirchen in Deutschland haben
seither viele wichtige Schritte unternommen, um den Ungeist antijüdischen
Denkens aus unseren Gebeten und Liedern, aus unserem Glauben und unserer
Theologie zu tilgen. Immer wieder haben sich einzelne Landeskirchen, aber
auch die EKD als ganze unzweideutig gegen alle Formen des Antisemitismus
ausgesprochen.
Aber diese Aufgabe begleitet uns auch in die Zukunft:
Das immer wieder neue Aufflackern von Antisemitismus in Deutschland beschämt
uns. Wir treten als Kirchen deutlich dagegen ein, in großer Solidarität
mit den jüdischen Gemeinden und dem Zentralrat der Juden in Deutschland.
Damit diese Verpflichtung gegenwärtig bleibt, müssen auch unsere
Kinder und Kindeskinder wissen, welche Verantwortung auf unser aller Schultern
liegt. Die Wahrhaftigkeit in der Begegnung mit unserer Geschichte ist
der einzige Weg in die Zukunft, um aus Erinnerung Orientierung werden
zu lassen. Auch in Zukunft stellt sich die evangelische Kirche ihrer historischen
Verantwortung, sie wird der erinnernden Wahrheit auch weiterhin die Ehre
geben. Sie wird deshalb an der tiefen Solidarität mit Israel festhalten
und sich an dem Mühen um Gerechtigkeit und Frieden nach Kräften
beteiligen. Dabei vertrauen wir auf den HERRN, der will, "dass Güte
und Treue einander begegnen, Gerechtigkeit und Frieden sich küssen,
dass Treue auf der Erde wachse, und Gerechtigkeit vom Himmel schaue"
(Psalm 85, 11 f.)."
Quelle: epd
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