Die zweite Familie
von Sylke Tempel
Yoram wollte schon immer einer Eliteeinheit der israelischen
Armee angehören. Drei Jahre diente er in der Zahal und kämpfte
gegen Terroristen. Heute beherrscht ihn das Gefühl, allein zu sein.
Schmal sieht er aus in seinem ärmellosen T-Shirt.
Und jung. Viel jünger als Mitte zwanzig, daran ändert auch der
Dreitagebart nichts. Die Mädchen mögen Yoram mit den eng stehenden
bernsteinfarbenen Augen und den dunklen Locken, die ihm das Aussehen eines
israelischen Jim Morrison verleihen; sie kichern und stoßen sich
mit den Ellenbogen in die Seiten, wenn er für einen Moment aus seiner
Versunkenheit auftaucht, den Oberkörper über seinen Trommeln
gerade reckt und lächelt, mehr nach innen als zu seinem schwärmerischen
Publikum.
Wer ihn so erlebt, seiner Musik völlig hingegeben,
kann sich kaum vorstellen, dass Yoram einmal einer Eliteeinheit der israelischen
Armee angehörte, trainiert darauf, in den Flüchtlingslagern
der Westbank potenzielle Attentäter aufzuspüren, mitten in der
Nacht Türen mit schweren Armeestiefeln einzutreten und vor den Augen
verängstigter Kinder Verhaftungen vorzunehmen. Oder jemanden zu erschießen.
Ich habe Yoram in einem kleinen Café in Karmi'el getroffen. Tagsüber
arbeitet er als Bedienung, abends spielt er dort mit seiner Band. Während
des Libanonkrieges im Juni 2006 waren zahlreiche Katjuschas in dem kleinen
Ort eingeschlagen. Ein beiläufiger Kommentar über die noch sichtbaren
Zerstörungen führte unvermutet zu einem langen Gespräch
über Krieg, Militär und schließlich seine eigene Armeezeit.
Erst später fiel ihm auf, dass er zum ersten Mal über diese
drei Jahre seines Lebens sprach.
Den Armeedienst hätte er sich eigentlich sparen können,
wie inzwischen so viele seiner Altersgenossen. Es reicht, dem Musterungsausschuss
zu erzählen, dass man regelmäßig kifft, um für untauglich
erklärt zu werden. Schon gar nicht hätte er in einer kämpfenden
Einheit dienen müssen. Sein Vater starb, als Yoram drei Jahre alt
war. Als Halbwaise hätte ihm das Recht zugestanden, in irgendeinem
angenehm klimatisierten Büro Akten zu verwalten oder sich als Sozialarbeiter
in Uniform um Soldaten aus prekären Verhältnissen zu kümmern.
Aber weder wollte er sich drücken und auf die "israelischste
Erfahrung" verzichten noch in der Schreibstube herumhocken. "Seit
ich denken kann", sagt Yoram, "wollte ich derselben Eliteeinheit
angehören, in der schon mein Vater und mein neun Jahre älterer
Halbbruder gedient hatten." Vielleicht, um sein eigenes Männlichkeitsideal
zu erfüllen, vielleicht, um dem Vater, den er nie richtig gekannt
hat, ein wenig näher zu sein. Genau erklären kann er es sich
heute nicht mehr. Der Tag, an dem die Mutter seinem Drängen nachgab
und im Rekrutierungsbüro die Zustimmungserklärung unterschrieb,
gibt er fast erstaunt über sich selbst zu, "war der glücklichste
meines Lebens".
Die ersten eineinhalb Jahre waren ein "reiner Abenteuerspielplatz".
Seine Einheit trainierte in der Negev-Wüste, sie lernte, ohne Wasser
und Nahrung zurechtzukommen, und absolvierte Schießübungen
auf Pappkameraden. "Die Soldaten und Soldatinnen der israelischen
Verteidigungskräfte handeln im Geist der Brüderlichkeit und
Ergebenheit für ihre Kameraden, helfen ihnen, wann immer dies nötig
ist, oder verlassen sich auf sie, allen Schwierigkeiten und Gefahren zum
Trotz, selbst wenn sie ihr eigenes Leben dafür aufs Spiel setzen
müssten", heißt es im "Code of Conduct" der
"Zva Haganat LeIsrael", der "Streitkräfte zur Verteidigung
Israels", kurz "Zahal". Das muss ihnen niemand einbläuen.
Zahal ist alles andere als eine Anstalt für Kommissköpfe. Vorgesetzte
werden nicht militärisch gegrüßt; niemand käme auf
die Idee, ihnen beim Mittagessen einen Platz im Speisesaal freizuräumen.
Offizierscasinos gibt es nicht, alle erhalten dasselbe ziemlich ungenießbare
Kantinenessen (und manche von ihnen "Care"-Pakete ihrer Mütter).
Offiziere und Ausbilder lassen sich nicht mit ihrem Rang ansprechen, sondern
mit dem Vornamen. Um die Rekruten zu einer Truppe zusammenzuschweißen,
in der jeder rückhaltlos für seine Kameraden einsteht, reichen
ein paar Monate, in denen sie Märsche mit schwerem Gepäck absolvieren,
in der Wüste zelten und sich Unterkünfte teilen, die mit ihrer
notorischen Unordnung und den Postern an den Wänden eher den Jugendzimmern
ähneln, denen sie gerade entwachsen. Ab jetzt ist es gleichgültig,
ob einer erst jüngst als Neueinwanderer in Israel ankam oder ob seine
Vorfahren schon hier geboren wurden, wer von ihnen im Kibbuz aufgewachsen
ist, wer aus den Villenvororten Tel Avivs oder den Entwicklungsstädten
der Negevwüste stammt.
Die Armee wurde zu Yorams neuer Familie. Im März
2002 wird seine Einheit in die Westbank verlegt. Die Al-Aksa-Intifada
geht in ihr zweites Jahr. In den Städten der West Bank liefern sich
militante Palästinenser und die israelische Armee fast täglich
Gefechte. In den israelischen Städten jagen sich allein in diesem
Monat zwölf Selbstmordattentäter in die Luft. Sie aufzuspüren,
bevor sie sich den Sprengstoffgürtel umschnallen, das ist die Aufgabe
seiner Spezialeinheit. "Und wie findet man sie?", will ich wissen.
"Meistens durch Spitzel. Ich war erstaunt, wie viele Palästinenser
dem Inlandsgeheimdienst Schin Bet zuarbeiten." Sobald die Informationen
nachgeprüft sind, wird Yorams Truppe losgeschickt. Mitten in der
Nacht, mitten in die gefürchtetsten Orte, die Flüchtlingslager
nahe Ramallah, Kalkilia oder Tulkarem: ein Gewirr aus unüberschaubaren
Gassen, die sich nach den winterlichen Regenfällen in Schlammpfade
verwandeln, in denen die Stiefel mit einem schmatzenden Geräusch
stecken bleiben. Die Häuser übereinandergeschachtelt wie Baumpilze
- man muss jedes Fleckchen ausnutzen für die beständig wachsenden
Familien -, die unverputzten Mauern zugekleistert mit einer Ahnengalerie
des Todes, Fotos der "Märtyrer", in der Hand die Maschinenpistole
oder den Koran, im Hintergrund die goldene Kuppel des Felsendoms. "Du
schleichst dich rein, du weißt, dass man von jedem Dach aus auf
dich schießen kann, und du fühlst dich nicht als Held. Dir
pocht das Herz bis zum Hals vor Angst."
Im Training war alles viel einfacher: anpirschen, das
Haus des Verdächtigen sichern, die Tür eintreten, um ihm keine
Chance zur Flucht zu lassen. Verhaften. Die Überlegenheit liegt in
der Überraschung. Aber niemand hat sie auf den Ausdruck im Gesicht
der Kinder vorbereitet, "die stumm vor Entsetzen auf uns und unsere
Gewehre starren, wenn wir ihren Vater oder Bruder mitnehmen". Wie
sollte einer wie Yoram auch wissen, was ihn da erwarten würde? Seine
Schulzeit hat er in einem musischen Gymnasium unter anderen wohlbehüteten
und sorgfältig geförderten Kindern verbracht. Er interessierte
sich für Kunst, nicht für den Konflikt mit den Palästinensern.
In einer Eliteeinheit zu dienen, war etwas Abstraktes, etwas, das nichts
mit einem Feind zu tun hatte, sondern höchstens mit der Fähigkeit,
die erforderlichen Prüfungen zu bestehen. Die besetzten Gebiete hätten
auch auf dem Mond liegen können, Orte wie Ramallah, Kalkilia, Bethlehem
oder gar die Flüchtlingslager, nur wenige Kilometer von seinem Zuhause
entfernt, hat er vor seinem Armeedienst nie besucht. "Von dort kamen
Terroristen, die sich in unseren Städten in die Luft sprengten, und
ich glaubte fest daran, dass wir alles Recht der Welt haben, sie daran
zu hindern", sagt er. Flüchtet ein Verdächtiger, sind ihre
Befehle klar. Zweimal "Stopp!" rufen, dann wird geschossen.
Bei einem ihrer nächtlichen Einsätze werden sie angegriffen.
Yorams Truppe stellt einem der Bewaffneten nach, hetzt ihm hinterher durch
die gespenstisch stillen Gassen, ruft ihn an, aber er bleibt nicht stehen.
Einer seiner Kameraden schießt, der Mann bricht zusammen. Und dann?
"Die übliche Routine; wir müssen überprüfen,
ob der Gegner tot ist." "Was macht ihr, wenn er nur verletzt
ist?" Die Antwort kommt leise. "Er war tot. Aber er war kein
Mann, sondern ein Halbwüchsiger. Noch viel jünger als wir."
Als sie in jener Nacht in ihre Unterkunft zurückkehren,
werden sie mit einer Art "Galadiner" empfangen. Ihr Vorgesetzter
lobt sie für die "erfolgreich ausgeführte Operation".
In Yorams Gesicht ist noch die Fassungslosigkeit zu lesen, die er damals
empfunden haben muss. "Ich dachte nur: Was gibt es hier zu feiern?
Wir haben eben jemanden getötet." Bevor sie irgendwann vor dem
Morgengrauen in ihre Betten kriechen, spricht Yoram den Schützen
an. "Was mache ich jetzt damit? Ich habe jemanden umgebracht?",
fragt der nur. Danach wird nie wieder ein Wort darüber verloren.
Aber jetzt beginnen Zweifel an ihnen zu nagen. "Manchmal saßen
wir im Jeep, die Gefangenen mit gefesselten Händen und verbundenen
Augen zu unseren Füßen. Und dann haben wir uns gefragt, wer
eigentlich recht hat. Sie kämpfen für ihre Sache, und wir? Was
machen wir eigentlich hier?"
Ihre Einsätze führen sie trotzdem weiter durch.
Yoram wird ausgezeichnet, weil er unter Beschuss einen verwundeten Kameraden
auf dem Rücken aus der Gefahrenzone trägt. Seiner Mutter erzählt
er davon nichts. Was soll man sagen, was erklären? Wie soll man die
Kluft überbrücken zwischen dem Leben in Uniform irgendwo in
den palästinensischen Gebieten und der zivilen Welt mit ihren harmlosen
Vergnügungen? "Jene Nacht war für mich der Beginn eines
langsamen Abschieds von meiner zweiten Familie", sagt er. "Ich
liebe Israel. Und ich würde wieder in die Armee gehen. Aber das Gefühl,
völlig allein zu sein, ging seither nie mehr weg."
Der Text ist ein Auszug aus Sylke Tempels neuem Buch "Israel.
Reise durch ein altes neues Land". Es erscheint am 1. April im Rowohlt
Verlag Berlin (254 S., 19,90 Euro).
Israels Armee:
Die "Verteidigungsstreitkräfte Israels" (Zahal) gingen
am 31. Mai 1948 aus den Untergrundorganisationen wie Hagana und Palmach
hervor. Der Militärdienst beträgt 21 Monate für Frauen
und drei Jahre für Männer. Derzeit gehören den drei Teilstreitkräften
Heer, Marine und Luftwaffe knapp 170.000 Männer und Frauen (davon
etwa 110.000 Wehrpflichtige) an sowie rund 445.000 Reservisten.
Jüdische Allgemeine, 28.3.2008
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