Urteil statt Vorurtei. Heute:
Erwählung

von Klaus-Peter Lehmann

Als Erwählung umschreibt die Bibel die unhinterfragbare Tatsache, dass Israel zu einer besonderen Rolle in der Menschheitsgeschichte berufen ist. Durch seine Belehnung mit den ewigen Geboten und den unkündbaren Verheißungen Gottes ist es ständiger Mahner für eine gerechte Welt und Künder des Reiches Gottes auf Erden.  (1)  Diese Bestimmung Israels ist seinsmäßig nicht begründbar und geschichtlich unableitbar. Der Glaube sieht in ihr Geheimnis der freien Liebe Gottes (5Mose 7,6-8). Ihr in der Bibel bezeugtes Ziel ist eine in der Anbetung des Gottes Israels und in seinem Frieden versöhnte Menschheit (1Mose 12,3;Ps 117,1; Jes 11,1-10; Röm 15,11f).

Diese biblische Rede von Erwählung ist streng zu unterscheiden von ihrem kirchlichen Missbrauch,  (2)  ihrer säkularen Umbildung und ihrer Psychologisierung. Diese Verfälschungen des Erwählungsgedankens sind allemal antijüdisch bzw. antisemitisch unterlegt.

Schon in der frühen Christenheit verstand sich die Kirche als „neues Israel“, mit dem Gott unter Verwerfung des alttestamentlichen Gottesvolkes einen „neuen Bund“ geschlossen habe.  (3)  Die an vielen gotischen Domen sich gegenüberstehenden Figuren der Synagoge und der Ekklesia drücken dieses Selbstverständnis aus, in dem das ungehorsame, blinde Judentum als verworfen gilt und von der herrlichen Kirche als Mandatar der Gottesherrschaft ersetzt wird.  (4)  Dieses Erwählungsbewusstsein spielte sowohl für die Kreuzzüge als auch bei der europäischen Kolonisierung ferner Kontinente eine wichtige Rolle. Die Kreuzfahrer verstanden sich als „neues Israel“, das zum gelobten Land auszog, um es von muslimischer Fremdherrschaft zu befreien und als „Erbe Christi“ in Besitz zu nehmen.  (5)  Die christlichen Kolonisatoren besonders des amerikanischen Kontinents verstanden ihre Gründungen als „neues Jerusalem“ und deuteten ihre Ansiedlung als Ankunft im verheißenen Land. So lief das kirchliche Selbstverständnis stets auf die religiöse Enteignung Israels hinaus und auf die völlige Entlegitimierung des jüdischen Volkes, denn es erklärt die Juden für spirituell und materiell enterbt, sowohl ihres Glaubens als auch ihres Landes.

Als säkularer Irrtrieb des Erwählungsgedankens kann die im Nationalismus über andere Völker sich erhebende Idee eines besonders begabten Volkstums angesehen werden. Aber auch der aus dem aristokratischen Bewusstsein sich ableitende Gedanke eines kollektiven bzw, individuellen Herrenmenschentums gehört hierher. In beiden Fällen fehlt jede sachliche Anknüpfung an die Welt der Bibel. Sowohl die Idee eines rassisch und kulturell überlegenen, zur Herrschaft über andere bestimmten Volkes als auch der aristokratische Gedanke einer im Blute begründeten Erhobenheit über andere Menschen sind als Fortsetzung der heidnisch-antiken Zweiteilung der Welt in ein zentrales Kulturvolk und es umlagernde Barbarenvölker anzusehen.  (6)  Hier von Erwählung zu sprechen, dient der religiösen Legitimation irrationaler Überlegenheitsansprüche. Weil diese Erwählungshybris sich unvereinbar mit der Erwählung des jüdischen Volkes kreuzt,  (7)  gehört Antisemitismus zum Wesen von Nationalismus wie Rassismus. Außerdem drängt die Ideologie einer religiös-kulturell einheitlichen Nation die Juden, die ihr angehören, zur Assimilation, zur Aufgabe ihres Glaubens und ihrer Identität als Volk. Der Rassismus definiert das ohne Landbesitz weltweit verstreut lebende Judentum als Parasit im eigenen Volkskörper.  (8)

Kritisch gegenüber dem Erwählungsgedanken versteht sich die Rede vom Erwählungsbewusstsein. Sie schaut auf das Selbstbewusstsein von Menschen, die sich als Erwählte verstehen und unterstellt ihnen ein irrationales Überlegenheitsgefühl den Nichterwählten gegenüber. So sehr das für die kirchlichen und säkularen Verfälschungen des Erwählungsgedankens gilt, die biblische Überlieferung trifft das nicht. Jüdische Tradition sieht Israel das „Joch der Erwählung“ tragen. Ohne diese Unterscheidung wird die Rede vom Erwählungsbewusstsein antisemitisch, würde sie doch das Alte Testament und das Judentum zum geistigen Quell und Sündenbock eines inhumanen Überlegenheitsgefühls abstempeln.

Das rabbinische Diktum vom „Joch der Erwählung“ fasst die geschichtliche Erfahrung des jüdischen Volkes zusammen, das sich nach dem Exodus und seit der Belehnung mit der Tora am Sinai immer als Gottes erwähltes Volk wusste, weil es sich durch die Einzigkeit seines Gottes (5Mose 6,4) und den betont ethischen Charakter seiner Religion von allen anderen Völkern unterschied. Zudem wurden in den Prozessen der Völkervermischungen Gebote unumgänglich, um den religiösen Volkscharakter Israels zu bewahren. Das Verbot von Mischehen (Esra 9) aber auch der Kampf gegen die Hellenisierung (Makkabäerbücher) sollten die Einheit des Volkes im Glauben an den Gott der Gerechtigkeit erhalten.

All dies machte das Judentum als Volk und Religion schon in der Antike zu einer Besonderheit, die sich dem auswechselbaren Götterpantheon der verschiedenen heidnischen Völker und ihrer verbreiteten Heroenethik weder anpassen ließ noch wollte. Dieses Stehen Israels zu seinem einzigen Gott führte unter den Römern zu machtpolitischen Übergriffen, aber erst im christlichen Abendland zu regelmäßiger Diffamierung und Verfolgung.  (9) 

Die biblische Rede von der Erwählung bezieht sich auf keinerlei menschliche Eigenschaft, sondern meint das Aufgerufensein zu einer menschheitsgeschichtlichen Aufgabe, zu der prinzipiell auch jedes andere Volk hätte berufen werden können.  (10)  2Mose 19,5f fasst den Sinn der Erwählung Israels zusammen: Wenn ihr auf meine Stimme hört und meinen Bund haltet, so sollt ihr vor allen Völkern mein Eigentum sein; denn mein ist die ganze Erde. Ihr sollt mir ein Königreich von Priestern werden und ein heiliges Volk.

Erwählung ist Gehorsam. Die gerechten Gebote Gottes (5Mose 4,8) gründen in Seiner unhinterfragbaren moralischen Stimme. Sie zu problematisieren, wäre der erste Schritt der Unmoral und Unmenschlichkeit. Erwählung heißt, sich den unbedingten Geboten verpflichtet wissen, um der Gottesebenbildlichkeit des Menschen willen.  (11) 

Erwählung ist alternatives Leben. Israel soll nicht ein Reich mit gewaltigen Königen und kein kriegerisches Volk sein, sondern seine Verfehlungen erkennen und sich heiligen durch ein Leben nach den gerechten Geboten Gottes (3Mose 19).

Erwählung ist eine Weltaufgabe. Das von den Geboten Gottes nicht lassende Volk lebt nicht für sich, sondern vor anderen Völkern und so für sie. Denn Gott, der Herr der ganzen Erde, will, dass durch das beispielhafte, toratreue Leben seines Eigentumsvolkes alle Völker den Weg zu Frieden und Gerechtigkeit finden.

Im Fortgang des ersten Mosebuches taucht nach dem Sündenfall, der trotz der moralischen Katastrophe der Menschheit (Sündflut) im Wahn des babylonischen Turmbaus kulminiert, die Frage auf, wie Gott angesichts des mörderischen Bruderhasses (1Mose 4,1ff: Kain), der Rachgier (1Mose 4,23f: Lamech) und der Machtgelüste unter den Völkern (1Mose 10,8: Nimrod) die Menschheit dennoch auf den Weg des Friedens führen kann. Gibt es einen anderen Weg, als sich unter den vielen Völkern ein Volk zu erschaffen (Jes 43,1), zu erwählen, dass in seiner Existenz an die Tora gebunden ist, von ihr und ihren Verheißungen nicht mehr los kann, und allein durch seine bleibende Existenz alle Menschen an die ewige Gültigkeit der gerechten Gebote Gottes erinnert? So besehen erweist Gott in seiner Erwählung Israels seine Liebe zu allen Menschen.  (12)

Im Neuen Testament werden die Jesus-Gemeinden als Erwählte angesprochen (Eph 1,4; Kol 3,12). Gemeint ist die Vereinigung von Beschnittenen und Unbeschnittenen (Kol 3,9-11) zum Leib Christi, in welchem die Feindschaft zwischen Juden und Heiden durch ihre Versöhnung überwunden ist (Eph 2,14-16) und die neue Menschheit in Gottesebenbildlichkeit anhebt (Eph 4,24; Kol 3,10). Auch diese endzeitliche Erwählung in Jesus Christus ist seinsmäßig nicht begründbar und geschichtlich unableitbar. Sie wurzelt aber in der Erwählung Israels und ist ihr aufgepfropft (Röm 11,17). Hier wie dort sieht der Glaube an das Reich Gottes in dem unableitbaren Wirken von gerechten Menschen in einer ungerechten Welt die ihrem Sieg entgegengehende Güte Gottes walten. In ihm wird sich der erwählend handelnde Gott Israels als Herr der Geschichte erweisen.

Das Unverständnis des Erwählungsgedankens und seine Auslegung als Anmaßung und Selbstüberhebung des jüdischen Volkes gegenüber den anderen Völkern kann als Urquell des Antijudaismus angesehen werden. Erst sein Verständnis als Annahme einer zuvor ungewollten Berufung in eine ethische Weltaufgabe schafft Raum für die Erkenntnis, welches ewig zukunftsträchtige Geschenk der Menschheit mit der Erschaffung des Gottesknechtes Israel (Jes 44,1f) gemacht ist.

  1. Dem Volk der Erwählung ist ein ganz bestimmtes Territorium verheißen, das das Kernland für das messianische Weltreich, das Reich Gottes für diese Erde, darstellt (Schalom Ben.Chorin, Die Erwählung Israels, München 1993, S. 92).

  2.  Die traditionelle kirchliche Erwählungslehre, nach der Gott Israel verworfen hat, weil es Gottes Sohn nicht erkannte, sondern tötete, und die Kirche an seiner Stelle erwählt hat, nennt man Substitutionstheorie oder Enterbungslehre.

  3. Als neutestamentliche Begründung für diese Sicht muss oft Joh 14,6 herhalten: Jesus sagt zu ihm: Ich bin der Weg und die Wahrheit und das leben; niemand kommt zum Vater außer durch mich. Dazu bemerkte Franz Rosenzweig: „Es kommt niemand zum Vater - anders aber, wenn einer nicht mehr zum Vater zu kommen braucht, weil er schon bei ihm ist. Und dies ist der Fall des Volkes Israel.“

  4. Am Straßburger Münster, am Bamberger Dom und am Freiburger Münster z.B. stehen sich Synagoge und Ekklesia antipodisch gegenüber. Immer kontrastiert eine mit zerbrochener Lanze und verbundenen Augen ausstaffierte Synagoge in geknickter Gestalt eine stolz aufrecht stehende Figur der Kirche mit herrischem Blick und funktionstüchtigem Speer.

  5. Papst Urban II. verwendete auf seinen Kreuzzugspredigten 1096 auf dem Konzil zu Nimes das Bild vom ausziehenden „neuen Israel“ und von Abraham, der seines Vaters Haus verlässt.

  6. Ägypter, Chinesen, Griechen und Römer u.a. betrachteten ihre Kultur als Mittelpunkt der Welt und die umliegenden Völker als bedrohliche, minderwertige Barbaren.

  7. Keiner hat die Konsequenzen des nationalistischen und rassistischen Wahns folgerichtiger formuliert als Adolf Hitler in seinen Tischgesprächen mit Rauschning: es könne nicht zwei auserwählte Völker, die Juden und die Deutschen, geben und deshalb müsse das jüdischeVolk verschwinden.

  8. Schon nach der Reconquista 1492 in Spanien, als die Juden vertrieben oder zur Taufe gezwungen wurden, redete man dort von der limpiezza de sangre / Reinheit des Blutes, die es Juden unmöglich machte der erzwungenen Anpassung nachzukommen. Damit war der Gedanke einer totalen und unentrinnbaren, weil im Blut begründeten Minderwertigkeit geboren, die charakterliche und soziale Eigenschaften umfasst.

  9. Caligula wollte im Jerusalemer Tempel seine Kaiserstatue aufstellen lassen. Als sich das judäische Volk gegen die Verwandlung seines Heiligtums in einen Götzentempel wehrte, schickte er eine Armee, deren Eingreifen nur durch eine List Agrippas, des judäischen Vasallenkönigs, verhindert wurde. Zu einer ähnlichen Konfrontation kam es unter dem Statthalter Pontius Pilatus, der die Judäer zwingen wollte, Kaiserbildern göttliche Verehrung zu zollen. Insgesamt verhielt sich die heidnische Antike gegenüber dem religiösen Widerstand der Juden verständnislos, verärgert und tyrannisch. Erst das christliche Abendland bildete eine regelrechte antijüdische Ideologie aus (s. Anm. 3-5).

  10. Der Talmud überliefert dazu folgenden Midrasch: „Ehe Gott das heilige Gesetz Israel auf dem Sinai offenbarte, erschien er den anderen  Nationen und bot es ihnen an. Die Nachkommen des Esau fragten, was darin geschrieben sei. Gott antwortete: es steht darin geschrieben, nicht zu töten. Die Nachkommen Esau’s stießen es zurück, indem sie ausriefen: unser Leben beruht auf dem Schwerte; vom Schwerte lebte der Vater; wir wollen dieses Gesetz nicht. Die Ismaeliten fragten, was darin geschrieben sei. Gott antwortete: es steht darin geschrieben, nicht zu rauben. Die Ismaeliten wiesen es ab, indem sie riefen: Die unserm Vater geweissagte Bestimmung war, mit allen im Krieg zu sein. Unser Leben beruht auf der Beute; wir wollen es nicht annehmen. Eben so fragten und eben so antworteten die anderen Nationen, und alle schlugen es aus.“ (Jalkut 211a). Bedenkenswert an der Erwählung Israels ist die Behauptung, sie beruhe auf einer Kundgebung zum ganzen Volk, d.h. auf einer nationalen Offenbarung. Die anderen Religionen beruhen auf einer persönlichen Offenbarung, eine schwache und anfechtbare Grundlage. Eine nationale Offenbarung ist nicht anfechtbar. Denn sie als Fiktion zu fabrizieren ist undenkbar. Allein diese Überlegung spricht für die Einzigartigkeit einer außerordentlichen Erfahrung, die Israel als Volk begründete: Forsche doch einmal in früheren Zeiten nach, die vor dir gewesen sind, seit dem Tag, als Gott den Menschen auf der Erde schuf; forsche nach von einem Ende des Himmels bis zum andern Ende: Hat sich je etwas so Großes ereignet wie dieses, und hat man je solche Worte gehört? Hat je ein Volk einen Gott mitten aus dem Feuer im Donner sprechen hören, wie du ihn gehört hast, und ist am Leben geblieben? Oder hat je ein Gott versucht herzukommen und sich ein Volk mitten aus einem Volk herauszuholen? (5Mose 4,32-34). Eigenartigerweise sind der Exodus und die Sinaikundgebung als die nationale Identität Israels begründendes Ereignis nie ernstlich angezweifelt worden, auch wenn es sich einer historisch-archäologischen Beweisbarkeit entzieht (Drei Millionen Zeugen. Die Offenbarung am Berg Sinai: Hat der Ewige wirklich direkt zu den Israeliten gesprochen?, Jüdische Allgemeine, 1. 6. 2006, S. 14).

  11. Der Talmud spricht von dieser Wahrheit in folgendem Diktum: „Teuer ist Israel Gott, denn es wurde sein Sohn genannt und ist Träger des heiligen Gesetzes. Teuer ist jeder Mensch Gott, denn er ist sein Ebenbild.“ D.h. Israel erinnert die Menschheit an ihre Gottesebenbildlichkeit, denn nur die Tora spricht so vom Menschen (1Mose 1,27; 5,1f).

  12. Gott liebt in Israel nichts anderes als das Menschengeschlecht (H. Cohen, Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums, S. 173).

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