Redaktion: Hans-Georg Vorndran

BlickPunkt.e Nr. 1 / Februar 2016

 

Klaus-Peter Lehmann
Ihr Brüder, um der Hoffnung Israels willen trage ich diese Kette.
Paulus als Völkerapostel

1. Thesen
Dieser Aufsatz will einige Aspekte der Berufung des Paulus zum Völkerapostel neu herauszuarbeiten.

a) Die Apostelgeschichte bezeugt den Weg des Paulus als Völkerapostel als Leidensweg für die Hoffnung Israels (Apg 28,17.20), für die pharisäische Hoffnung auf die Auferstehung der Toten.

b) Für Lukas steht das Völkerapostolat des Paulus ganz in pharisäischer Tradition. (1) Es stellt nur eine neue Variante dar, die sich auf den Weg zur Verwirklichung der Hoffnung Israels bezieht.

c) Dieser neue Weg beinhaltet, die Revolution des Reiches Gottes weltweit auszurufen, sodass durch den messianischen Völkerfrieden das Gottesvolk wieder aufgerichtet und von seinen Feinden befreit leben kann (Apg 15,16; Luk 1,71).

d) Die Botschaft vom Reich Gottes ergeht an die Synagogen, um ihnen die anbrechende Erfüllung ihrer Hoffnung anzusagen, an die Jesus-Gemeinden, um sie als die Subjekte dieser Umwälzung zu stärken, und an die politisch Mächtigen, um ihnen ihr sich abzeichnendes Ende anzukündigen.

e) Das neue Werkzeug Gottes zur Befreiung Israels ist der Leib Christi, die in Gemeinden wachsende universale Gemeinschaft versöhnter Völker, die als Antizipation des Reiches Gottes berufen ist, bei der vollen Verwirklichung aller Verheißungen Abrahams mitzuhelfen.

2. Hoffnung Israels, Auferstehung der Toten, Reich Gottes als pharisäisches Ziel und apostolischer Auftrag
a) Die Hoffnung Israels: Verheißung an Abraham, Auferweckung der Toten
Die umfassendste inhaltliche Umschreibung der Hoffnung Israels findet sich in Apg 26,6-8. Paulus spricht vor dem König Agrippa: Wegen der an unsere Väter ergangenen Verheißung stehe ich jetzt vor Gericht, zu der unser Zwölf-Stämme-Volk in Ausdauer Tag und Nacht gottdienend zu gelangen hofft. Wegen dieser Hoffnung bin ich angeklagt von Judäern, König! … Warum beurteilt ihr als unglaubwürdig bei euch, wenn Gott Tote erweckt? (2)

Paulus leidet für die Hoffnung, nach deren Verwirklichung Israel sich in seiner Geschichte seit Abraham ausstreckt. Es geht um die den Vätern mehrmals bekräftigte und erneuerte dreiteilige Verheißung an Abraham und seinen Samen: die Landverheißung, die Verheißung der Bewahrung des Volkes und die Verheißung der Völkerversöhnung in Abrahams Namen (1Mose 12,1-3). Wegen dieser allen Pharisäern gemeinsamen Hoffnung stehe er, Paulus, der nach ihrer genauesten Richtung (teen akribestateen hairesin, Apg 26,5) gelebt hat, von seinen Glaubensbrüdern angeklagt vor Gericht.

Paulus fasst diese Verheißung als Totenerweckung zusammen (Apg 26,8). Die Verheißung an Abraham ist nach pharisäischer Auslegung Auferstehungshoffnung. So umfasst die Auferstehung alle geschichtlichen Aktualisierungen der dreiteiligen Väterverheißung: die Rückführung aus dem Exil und den Aufbau des Lebens im Land (Ez 37; Apg 1,6; 15,16), was die Befreiung Israels von seinen Feinden impliziert (Luk 1,71).

b) Die Verwirklichung der Hoffnung Israels auf einem anderen Weg
Der dritte Teil der Verheißung an Abraham, die Völkerversöhnung beginnt sich für das Zeugnis des Neuen Testamentes schon jetzt dort zu verwirklichen, wo Nichtjuden anfangen wie Abraham auf die Verheißung zu vertrauen (Apg 10,45; 14,27; 15,12; Röm 4).

Mit dem Erscheinen Jesu als des ersten Auferstandenen von den Toten, der sowohl dem Volk als auch den Völkern ein Licht verkündigen wird (Apg 26,23), hat das Reich Gottes begonnen (Apg 1,3). Sein Licht hat auch in das Leben des Paulus eine Wende gebracht (Apg 26,13f), als ein Aufruf in hebräischer Sprache an ihn erging, von der Verfolgung der Jesus-Gemeinden Abstand zu nehmen und Heiden zum Gott Israels zu bekehren. Nun soll er als Apostel das Reich Gottes in die Völkerwelt tragen, ein Licht zur Erleuchtung der Heiden und zur Verherrlichung deines Volkes Israel (Lk 2,32). Die Reich-Gottes-Botschaft aktualisiert die Hoffnung Israels, setzt sie universal ins Recht, und erleuchtet die Völker, d.h. sie führt sie aus der hoffnungslosen Finsternis, in der sie leben, zur Erkenntnis des Gottes Israels (Apg 26,18; Eph 2,11f). Das Reich Gottes führt die an die Väter ergangenen Verheißungen Israels der Verwirklichung entgegen. (3)

Ihre Verwirklichung, durch die Auferstehung Jesu initiiert (Röm 4,17-25), wird nach Paulus durch die Ekklesia auf den Weg gebracht. Denn im Vertrauen auf seine Auferstehung (Apg 26,18b) vertrauen Nichtjuden wie Abraham auf die Verheißung (Röm 4,9-13), empfangen Vergebung der Sünden und Anteil am Erbe unter den Geheiligten (Apg 26,18a; Eph 3,6). Paulus: Damit sage ich nichts anderes als das, wovon sowohl die Propheten geredet haben, dass es kommen werde, als auch Moses (Apg 26,22).

Die traditionelle, von der alttestamentlichen Prophetie bis zu den Pharisäern geteilte Vorstellung vom Kommen des Reiches Gottes sieht seinen Beginn in der Umkehr Israels zu seinem Gott, der Gerechtigkeit und Friede gebietet, und seine Fortsetzung in der diesem leuchtenden Beispiel Israels folgenden Abkehr der Völkerwelt von ihrer Geschichte aus Unrecht und Krieg (Jes 2,2-5). Das Neue Testament kehrt diese Reihenfolge um. Das Reich Gottes beginnt seinem Zeugnis zufolge in den in der Auferstehungshoffnung Israels lebenden Jesus-Gemeinden aus Juden und Heiden. Ihre wachsende Zahl wird dafür sorgen, dass das Reich Gottes zuerst in der Völkerwelt verwirklicht wird. Dann wird dadurch ganz Israel gerettet werden (Röm 11,26). Die Ekklesia, für deren Aufbau Paulus seine Reisen unternimmt, bringt die Verwirklichung der Hoffnung Israels voran. Der Differenzpunkt zum orthodoxen Pharisäertum ist der Weg zu demselben Ziel, der Völkerversöhnung im Reich Gottes.

c) Paulus, ein jesuanischer Hoffnungspharisäer
Immer wieder weist Paulus auf die Auferstehung von den Toten hin, die gemeinsame Hoffnung von allen pharisäischen Juden, (4) um derentwillen er, der Pharisäer einer unorthodoxen Richtung, von seinen pharisäischen Glaubensbrüdern angeklagt werde. In seiner Rede vor dem Hohen Rat in Jerusalem appelliert er: Männer, Brüder, ich bin Pharisäer, Sohn von Pharisäern, wegen der Hoffnung und der Auferstehung der Toten werde ich gerichtet (Apg 23,7). Vor dem römischen Statthalter in Caesarea betont Paulus wiederum die gemeinsame Hoffnung mit den Pharisäern und auch die völlige Übereinstimmung seines Weges mit der Thora und den Propheten: Und ich bekenne dir dieses, dass ich gemäß dem Weg, den sie Richtung nennen, dem Gott der Väter diene, vertrauend allem, was gemäß der Thora ist und was in den Propheten geschrieben, mit der Hoffnung auf den Gott, die diese selbst hegen, eine Auferstehung wird kommen von Gerechten wie Ungerechten (Apg 24,14f).

Die Auferstehungshoffnung der pharisäischen Lehre verkündigt Paulus in Synagogen und Gemeinden als in der Gegenwart real anbrechend (Röm 4; 1Kor 15). Nichts trennt Paulus vom traditionellen Pharisäertum als allein die Überzeugung, dass mit den durch Jesus zum Auferstehungs- bzw. Verheißungsglauben gekommenen Heiden das Reich Gottes im Anbruch begriffen sei. Die Auferstehung von den Toten, bei den Pharisäern Lehre über die Zukunft Israels und der Menschheit, wird von Paulus verkündigt und bezeugt als im Messias Jesus, dem Erstgeborenen von den Toten und Haupt des Leibes, der Ekklesia (Kol 1,18), schon angefangenes, lebendiges, gegenwärtiges Geschehen. Sein pharisäisches Denken zeigt sich darin, wenn er ausführt, erst durch den Glauben an die Auferstehung werde das Christus-Ereignis relevant: Gibt es keine Auferstehung der Toten, so ist auch Christus nicht auferweckt worden (1Kor 15,13).

Die Differenz zur pharisäischen Orthodoxie bleibt für Paulus also getragen von einer Verbundenheit mit ihr, die alles, Hoffnung, Lehre und Tradition umfasst. Deshalb ist es einleuchtend, dass er auf seinen Reisen die Synagogen besucht und den Disput mit der jüdischen Orthodoxie sucht. Für Paulus ist diese Diskussion geboten, damit er und die Ekklesia nicht herausfallen aus ihrem Zuhause in der Synagoge. Die Hoffnung Israels, um derentwillen Paulus Ketten trägt, bindet die Ekklesia des Gesalbten Jesus fest ans pharisäische Judentum. Die Pharisäer sind und bleiben des Paulus Glaubensbrüder. Denn die paulinische Wendung zu den Völkern (Apg 13,46) ist nicht mehr als eine halachische Variante, ein anderer Weg zur Verwirklichung derselben Hoffnung. Weil Paulus immer wieder die Übereinstimmung zwischen ihm und den orthodoxen pharisäischen Juden in der Hoffnung für Israel betont, den anderen Weg aber mit dem Namen Jesu verbindet, nennen wir ihn, Friedrich Wilhelm Marquardt aufnehmend, einen jesuanischen Hoffnungspharisäer. (5)

3. Für die Hoffnung Israels unterwegs zu Synagogen und Gemeinden
Nachdem Paulus von Jerusalem aus... bis nach Illyrium das Evangelium vollständig verkündigt hat (Röm 15,9), ist er, wieder von Jerusalem aus (Röm 15,25), am Ende der Apostelgeschichte, in Rom, wohin er will (Röm 15,23) und muss (Apg 19,21; 23,11; 27,23f), angekommen, um von dort weiter nach Spanien zu reisen und dann den ökumenischen, quasi alle Völker erfassenden Bogen seiner Fahrten in Jerusalem abzuschließen, wo er das Völkerapostolat, seine Beauftragung für seine Reisen, um unter allen Völkern Gehorsam des Glaubens zu wirken (Röm 1,5), vom Gesalbten des Gottes Israels empfangen hatte. Jerusalem, der Zion, Israels Hauptstadt, in deren Namen die prophetische Hoffnung auf den Israel endgültig befreienden Völkerfrieden für immer eingraviert ist, als Ausgang und Ende der die Völkerwelt umfassenden Reisen des Paulus! Das Völkerapostolat ist 'missionsstrategisch' dem Zion zugeordnet. (6) Wir werten das als Symbolpolitik oder besser als theologische Programmatik. Die Missio des Völkerapostels ist die Friedenshoffnung Israels.

Die Reisen des Paulus verfolgen an jedem Ort zwei Ziele, den Aufbau der Jesus-Gemeinden, der messianischen Ekklesia, und den Disput bzw. Dialog über die Schriftgemäßheit der von ihm vertretenen Richtung bzw. Weges mit den Vertretern des orthodoxen Judentums in der Synagoge vor Ort.

Die Apostelgeschichte bezeichnet die Ekklesia bzw. die Wendung des Paulus zu den Heidenvölkern (13,46) einmal als Richtung (tees haireseoos tautees, latein.: de secta hac, Apg 28,22) und dann als Weg (hodos, 19,9; 22,4; 24,22). In Apg 24,14 bekennt Paulus, dass ich gemäß des Weges, den sie Richtung nennen, dem Gott der Väter diene, vertrauend allem, was gemäß der Thora ist und was in den Propheten geschrieben. D.h. die Wendung des Apostels zu den Völkern bedeutet kein Ausscheren aus der pharisäischen Treue zu Thora und Verheißungen, sondern einen anderen Weg sie zu erreichen. Paulus versteht sich als berufenes Werkzeug des Gottes Israels, um die pharisäische Hoffnung auf diesem anderen Weg zu befördern. Um diesen anderen Weg des Reiches Gottes über die Völker zu Israel geht es im Disput mit den orthodoxen Juden und in den Briefen an die messianischen Gemeinden, - als apologetische Schriftauslegung mit dem Ziel der Überzeugung der orthodoxen Pharisäer vom Weg über Völkerversöhnung im Namen Jesu dort, als Verkündigung und Schriftbelehrung mit dem Ziel der Stärkung der Gemeinden hier.

Bei einer solchen Zusammenschau von Apostelgeschichte und paulinischen Briefen gerät die große Schnittmenge theologischer Themen in den Blick. Zu diesen Topoi gehören die Rettung ganz Israels (Apg 15,16; Röm 11,26), die Abrahamskindschaft (Apg 26,6f; Röm 4,9-25), die Auferstehungs- bzw. Reich-Gottes-Hoffnung (Apg 24,15.21; 23,6; Röm 4,19-25; 1Kor 15), die Thoratreue (Apg 22,3; 25,8; 28,17; Röm 13,8-10; 15,18). Es geht uns darum, grundsätzlich herauszustreichen, dass es sich bei diesen Topoi um genuin pharisäisches Gedankengut handelt. Sein Pharisäertum in den Briefen eigens zu erwähnen, dazu besteht für Paulus kein theologischer Anlass. Es ist ja nicht Inhalt der Botschaft, sondern nur ihr Zuhause. Anders in den kontroversen Disputen mit seinen pharisäischen Brüdern. Ihnen gegenüber war es schon wichtig, bei der Neuheit des Weges über die Völker, die Treue seines Völkerapostolats zum Pharisäertum, zur Ganzheit Israels zu betonen.

Dabei unterstreicht die Apostelgeschichte, dass es nicht um eine grundsätzliche Differenz geht, sondern quasi um eine halachische Frage, eben um eine Frage des Weges. Paulus geht es darum darzulegen, dass die aktuelle messianische Welle unter den Heiden (Apg 14,27; Röm 3,21) ein Schritt des Reiches Gottes sei und in voller Übereinstimmung mit der Hoffnung der Thora, den Propheten und der Auslegung der pharisäischen Tradition steht: Er legte ihnen das Reich Gottes dar, indem er dafür Zeugnis ablegte, und suchte sie zu überzeugen was Jesus betrifft sowohl aus der Thora des Mose wie den Propheten (Apg 28,23).

Mit den Pharisäern traditioneller Observanz disputierte Paulus vom Morgen bis zum Abend (Apg 28,23) über das das aktuelle Kommen des Reiches Gottes. In den Jesus-Gemeinden kündigt er sein Kommen an (Apg 14,22; Röm 14,17). Paulus sieht sich mit seinen Briefen an die Gemeinden weiterhin treu in der Synagoge zuhause. So wie er nach der Ankündigung seiner Wendung zu den Heiden in der Synagoge zu Korinth sofort in ein Haus zog, das an die Synagoge anstieß (Apg 18,4-7). Die Ekklesia lebt an der Seite der Synagoge.

4. Ist Jesus der Messias?
Die Differenz zwischen Synagoge und Ekklesia bezieht sich wie gesagt auf den Weg des Reich Gottes zur endgültigen Befreiung Israels vor heidnischer Bedrohung, auf den Weg zum Völkerfrieden. Für die alttestamentlichen Propheten und die pharisäischen Rabbiner folgt auf die Befreiung Israels und der Weisung, die vom Zion ausgeht (Jes 2,3), die Erleuchtung der Heidenvölker. Für den Völkerapostel kehrt sich die Reihenfolge um. Für ihn ist die Erleuchtung der Völker nicht Folge, sondern Funktion, Werkzeug der Befreiung Israels. Dieser andere Weg des Reiches Gottes ist an den Namen Jesus gebunden. Jesus ist nach dem Bekenntnis der Ekklesia Messias, Sohn Gottes und Retter.

Wir fragen nach der konkreten Bedeutung dieses Bekenntnisses, nach dem, was die Messianität Jesu ausmacht, wodurch sie sich bestimmt. Das Werk des Messias, sein befreiendes Tun für Israel und die Völker wird in den Verheißungsworten des Alten Testamentes angekündigt. Die Schrift ist der eine Bezugspunkt des Bekenntnisses, der andere eine geschichtliche Situation, ein gegenwärtiges Geschehen, das eine Perspektive auf die Verwirklichung des in den Schriften Verheißenen eröffnet.

Das Geschehen, das die Apostel allesamt überraschte, ist das Ereignis, dass Gott den Heiden eine Türe zum Vertrauen (auf die Verheißungen) aufgetan habe (Apg 14,27). Diese Tür hat sich ohne menschliches Wollen und Drängen zum Erstaunen der jüdischen Jesus-Anhänger geöffnet. Apostelgeschichte Kap. 10 berichtet von der ersten Taufe eines Heiden, des römischen Hauptmanns Cornelius: Und die Vertrauenden aus der Beschneidung, so viele ihrer mit Petrus gekommen waren, erstaunten, dass die Gabe des heiligen Geistes auch über die Heiden ausgegossen war. Denn sie hörten sie in Zungen reden und Gott hoch preisen (V. 45).

Der Lobpreis des Gottes Israels durch Unbeschnittene war für die Apostel ein Gottesgeschehen. Einmal, weil Gott zu Petrus in einer Vision sprach, und dann, weil die Apostel hier eine neue Perspektive für das Eintreffen der Verheißungen erblickten. Der Heilige Geist, ausgegossen über immer mehr Heiden, wie die Apostelgeschichte bezeugt (Apg 11,21; 13,12.43.48; 14,27; 17,4.12), eröffnete einen realistischen Ausblick: auf dem Weg über die Schalomisierung der Völkerwelt bis zum Eingehen der Vollzahl der Heiden (Röm 11,25) die Rettung Israels langfristig ins Werk zu setzen (Apg 1,5-7). Dieser Weg, diese Richtung wird schließlich ermöglichen, dass sie wieder aufbauen die zerfallene Hütte Davids (Am 9,11; Apg 15,16). Das Bekenntnis zu Jesus Christus zielt auf diesen zionistischen und völkergeschichtlichen Horizont. Es bezeichnet für die Bekennenden eine reale Utopie, theologisch: den in Jesus Christus und durch seinen Leib, die Ekklesia, real gewordenen Messianismus. Für die Apostel war es eine Erleuchtung (7) und realistisch, wegen des Zustroms so vieler verheißungsgläubig gewordener Heiden für das Kommen des Reiches Gottes auf dem Weg über die Völkerversöhnung im Leib Christi zu wirken, um dadurch die Wiedererrichtung des Königreiches für Israel (Apg 1,6; 15,16) zu ermöglichen.

5. Der Anbruch des Reiches Gottes in der gelebten Völkerversöhnung des Leibes Christi
Man kann die Apostelgeschichte verstehen als einen Bericht vom Fortgang des Reiches Gottes ausgehend von Jerusalem bis nach Rom, als die Aufzeichnung von Stationen seines Kommens. Das Wort vom Reich Gottes prägt nicht nur soziale Beziehungen um und stürzt Loyalitäten und Hierarchien zugunsten des Bandes der Liebe, die eine Fessel der Vollkommenheit ist (Kol 3,14). Es besetzt als soziales Gebilde auch einen geographischen Raum seiner Herrschaft. (8) Es geht um den realen – sozialen, politischen und geographischen - Bereich, wo die Sozialbeziehungen von Gemeinschaften aus vielen Völkern schon vom weltweiten Königtum des Gottes Israels regiert werden, weil die Menschen durch den Gesalbten vom Völkerfrieden (Schalom) ergriffen sind (Kol 3,15). Diese Abraham verheißene Völkerversöhnung bricht in der Ekklesia an, weil in ihr nicht mehr religiöse, nationale und soziale Grenzen das Miteinander prägen, sondern die zur Gottesebenbildlichkeit geschaffene Menschheit (Kol 3,10f).

Die Apostelgeschichte beginnt damit, dass der von den Toten auferstandene Jesus über das Reich Gottes redet (1,3). Reich-Gottes-Botschaft ist das die Macht des Todes erschütternde Wort der Befreiung. Er wird den Tyrannen schlagen mit dem Stabe seines Mundes und den Gottlosen töten mit dem Hauche seiner Lippen (Jes 11,4). Der Leib Jesu Christi ist durch den Thoragehorsam seiner Glieder der Ort des Endes jeder Todesherrschaft: Auferstehung. Hier wird die Thora erfüllt: Die Liebe (agapee) ist die Erfüllung der Thora (Röm 13,10). Die Liebe ist das Ende des Todes: Wer nicht liebt, bleibt im Tode (1Joh 3,14).Die Gemeinden sollen zum Leib Christi, zum Leib des Völkerfriedens  heranwachsen (Eph 2, 17-21) und durch die vollkommene Neugestaltung ihrer Sozialbeziehungen, d.h. durch die vollkommene Thoragemäßheit ihres Lebens (3Mose 19,2; Mat 5,48; Röm 13,8-10; Kol 3,14; Tit 2,14), durch die gelebte Völkerversöhnung (Gal 3,28; Kol 3,11) den aktuellen Anbruch der jüdischen Hoffnung auf das Reich Gottes durch Jesus Christos bezeugen.

Das Reich Gottes entfaltet sich gegenwärtig im Leib Christi, denn hier gilt: Da ist nicht Jude noch Grieche, da ist nicht Sklave noch Freier, da ist nicht Mann und Weib; denn ihr seid alle einer in Christos Jesus. Wenn ihr aber Christos angehört, seid ihr ja Abrahams Nachkommenschaft, Erben gemäß der Verheißung (Gal3,28f).

Die Versöhnung zwischen Juden und Heiden hat eine besondere Bedeutung. Denn in ihr manifestiert sich die Abrahams-Verheißung: Mit deinem Namen werden sich Segen wünschen alle Geschlechter der Erde (1Mose 12,3). Reich Gottes heißt, die Heiden werden von ihrem Heidentum befreit und gewinnen Anteil an den Verheißungen Israels (1Thess 1,9). Sie werden Miteinverleibte und Mitgenossen der Verheißung (Eph 3,6). Erst aus dem sozialen Sein mit Israel und seiner Hoffnung, der Abwendung von aller heidnischen Ideologie und der Hinwendung zu Israels Befreiungsethos, erwachsen die Befreiung von Unterdrückung und Patriarchalismus. Das Mit bedeutet für den Leib Christi auch, dass die jüdischen Mitglieder der Gemeinde die leiblichen Zeugen ihrer Verwurzelung im Bundesvolk sind. Nur eine gute Anzahl von gebürtigen Juden in den Jesus-Gemeinden kann ihre Verkündigung davor bewahren, wie ein heidnischer Irrweg zu erscheinen, statt wie ein pharisäischer Weg. Schriftgelehrte Juden stehen in der Kirche Jesu Christi für die Schriftgemäßheit des paulinischen Völkerapostolats, d.h. der Schriftgemäßheit der Teilhabe von Heiden an der Hoffnung Israels als Weg des Reiches Gottes. (9)

Die Sozialstrukturen der Gottesebenbildlichkeit aller Menschen im Leib Christi laufen den machtgestützten Strukturen dieser Welt zuwider. Die Botschaft vom Reich Gottes ist deshalb apokalyptisch, d.h. sie hat den Umsturz der Mächte dieser Welt zur Folge. Sie ist also imperiumskritisch, politisch revolutionär und führt ins Leiden.

6. Die Unterwanderung des Imperiums
Paulus ist Knecht und Gesandter des Gesalbten Jesus, der den Sieg der Liebe über den Tod erlitten und damit den Grundstein für das Reich Gottes, den universalen Völkerfrieden gelegt hat (1Kor 15,54ff; Eph 2,20). Er ist eingesetzt zum Gottessohn (Röm 1,5) und errichtet nun vom Himmel her sein unvergängliches Gottesreich auf Erden (Dan 7,14; Apk Joh 21,1-8). Paulus ist sein oberster Stratege, um für seinen Namen unter allen Völkern Gehorsam des Vertrauens nach dem Vorbild Abrahams zu bewirken, d.h. Gehorsam gegenüber den Geboten des Gottes Israels im Vertrauen auf die Verheißungen Abrahams (Röm 1,5; 4,9-14; 15,18).

Die messianische Ekklesia läutet durch ihre anarchische Existenz in ökumenischer Ausdehnung die Revolution des Reiches Gottes ein, indem sie gemäß der Verheißung das apokalyptische Geschehen des Kommens eines neuen Himmels und einer neuen Erde, in denen Gerechtigkeit wohnt (2Petr 3,13; Jes 65,17ff), aktiv erwartet. Anarchistisch ist das deshalb, weil die Ekklesia keinem politischen Herrn dieser Weltordnung Ehrfurcht entgegenbringt, sondern sich ihm nur noch abschätzend unterstellt. Ihr Herr ist Jesus als Messias, kyrios Jeesous Christos. Er ist der Herr des Königreiches der Liebe. Deshalb liebt sie in der Bruderschaft (agapan) und hat Ehrfurcht vor Gott (phobein), jedermann und den Kaiser aber schätzt sie nach dem Wert für die Allgemeinheit (timan / 1Petr 2,17). Der liegt für die menschliche, politische Ordnung in einem allgemeinen Gerichtswesen (2Petr 2,13f). (10) In einer solchen Ordnung können sich die Jesus-Gläubigen gegen Verleumdungen als Menschen erweisen, die das Gute tun, als Freie und Gottes Knechte (2Petr 2,16). Solche Ethik ist zwischenzeitlich. Ihr Horizont ist das Reich Gottes.

Die Reisen des Paulus stehen unter dem Stern des Untergangs der Herrscher dieser Welt (1Kor 2,8). Die Gründung von immer mehr Jesus-Gemeinden, die einem anderen Herrn gehorchen und sich Imperatoren nur noch taktisch unterstellen, zielt auf das Ende dieses Äons und nach den Worten Jesu mit dem Reich Gottes auf die Wiedererrichtung des Königreichs für Israel, dessen Kommen verheißen ist, dessen Zeitpunkt aber niemand weiß (Apg 1,3-8). Die sogen. Missionsreisen des zu allen Völkern gesandten Paulus sind genau besehen auch Reisen zur Unterwanderung und langfristigen Destabilisierung der Loyalitätsstrukturen des römischen Imperiums durch den Aufbau von neuen Gehorsamsstrukturen für den Gott Israels im Namen des Messias Jesus.

Eine imperiumskritische Lektüre des Neuen Testamentes ergibt sich von selbst aus der apokalyptischen Natur des Reiches Gottes. Schon die alttestamentliche Idee des Friedens als des weltweiten Schalom, der sich mit der Gerechtigkeit küsst (Ps 87,11) und ihr grundsätzlicher Unterschied zum machtgestützten Frieden aller Imperien (pax)  (11) impliziert ein nur taktisches Verhältnis aller auf Schalom Hoffenden gegenüber denen, die Macht aufgrund von siegreich beendeten Kriegen besitzen und okroyieren.

Vor diesem Hintergrund ließe sich der Entschluss oder die Einsicht des Paulus erklären, angesichts der endemischen Abgötterei in Ephesus nach Rom fahren zu müssen (Apg 19,21). Wie zur Bekräftigung erscheint ihm später noch ein Bote vom Himmel, der zu ihm sagt, dass er unter Ablegung seiner Ehrfurcht, die für Gott aufzubewahren ist, vor den Kaiser treten muss (dei parasteenai; Apg 27,23f). Die Gemeinde in Rom dagegen will er sehen (Röm 15,23). Jenes Muss ergibt sich aus apokalyptischen Strategie der Unterwanderung der Herrschaftsstrukturen dieses Äons und der Proklamierung des Herrn des kommenden Äons. Eine Reise nach Rom ins Zentrum des Imperiums liegt also nahe, wenn auch nur aus „symbolpolitischen“ Gründen. Das impliziert den Besuch des von Gott erwählten geschichtlichen Trägers der umstürzlerischen Reich-Gottes-Botschaft, der Synagoge (Apg 28), und den Besuch des aktuell aktiven Subjektes für ihre Verwirklichung, der Ekklesia (Römerbrief). Die drei Adressaten gehören der Sache nach zusammen, denn sie bezeichnen die Wurzel, das Subjekt und den Gegner der Reich-Gottes-Botschaft.

7. Apokalyptische Krise und apostolisches Leiden
a) Die Krise der Herrschaftsstrukturen
Jüdisch-messianischem Denken sind imperiumskritische Antithesen nicht fremd. Eine rabbinische Legende im babylonischen Talmud erzählt in einer surrealistischen Vision vom Messias unter den Aussätzigen und Bettlern vor den Toren Roms (Sanhedrin 98a). Dementsprechend würde Paulus in der Nachfolge des leidenden Messias Jesus in der sogen. Ewigen Stadt Rom (12) quasi unter dem Thron ihrer Tod und Verwüstung bringenden Machthaber den Sieg des Auferstandenen über alle Mächte des Todes ankündigen. Die christliche Legende erzählt vom Märtyrertod des Paulus in Rom und seiner Hinrichtung durch das Schwert. (13)

Die Ankündigung des Reiches Gottes zieht Strukturen, Ordnungen und Herrschaftsverhältnisse dieser Welt in eine Krise: die Scheidung zwischen Juden und anderen Völkern, die Knechtschaft der Sklaven unter den Freien, die patriarchale Verfügung der Männer über ihre Frauen (Gal 3,26-29). Die Einheit in Christos verwirklicht die Verheißungen an Abraham und versetzt ihnen vertrauende Heiden neben die Juden in seine Erbschaft (Röm 4). Das bedeutet eine Krise für Juden und auch Heiden. Jene sind verunsichert wegen einer bedrohlichen Öffnung der Gemeinschaft der Erwählten des Gottes Israels (Apg 21,28f), diese sehen ihre Lebensgrundlage durch die Götzenkritik der Reich-Gottes-Botschaft gefährdet (Apg 19,23-26). Auch Sklaven und Freie kommen in die Krise, denn es gibt bei ihm kein Ansehen der Person (Eph 6,9; Apg 10,34). Die Versetzung in die Bruderschaft (Philem V. 15-17) und der Verzicht auf Privilegien können scheitern und deshalb Ängste wecken. Dazu ist die Neuordnung des Geschlechterverhältnisses nach der Gottesebenbildlickeit aller Menschen ein Unruheherd, dem niemand entkommt (Eph 5,22-33). (14) Klar, dass die Botschaft der Ekklesia mächtige Gegenkräfte provozierte.

b) Die Verfolgungen des Paulus
Wir sehen Paulus auf seinen Reisen von Beginn an als Fliehenden, schließlich als Gefangenen. Er wird mit seiner Berufung, den Namen Gottes vor Heiden und Könige und die Söhne Israels zu tragen, zum Apostel und Verfolgten. Von seiner Sendung ist das nicht zu trennen, sagte doch die Stimme, die ihn berief: Denn ich werde ihm zeigen, wie viel er um meines Namens willen leiden muss (Apg 9,15f). Schon sein erster Auftritt, die Proklamation der Gottessohnschaft Jesu in den Synagogen von Damaskus, endet mit einer spektakulären Rettungsaktion, damit Paulus einem Anschlag, den Judäer auf seine Person planen, entkommt (Apg 9,20-25).

Das Provokative der Rede von der Gottessohnschaft Jesu wird erst mit einem Blick auf den im Neuen Testament so häufig Bezug genommenen Psalm 2 zugänglich. (15) Er spricht davon, dass Gott seinen Sohn auf dem Zion zum König eingesetzt hat, ihm Völker zum Erbe, die Enden der Erde zum Eigentum übergibt. Der schändlich Gekreuzigte und seine alles mögliche Fremdvolk ansammelnden Gemeinden soll der Sohn Davids, der Bringer des von Israel schon immer erhofften Schalom, des Friedens auf Erden (Luk 2,14) sein? Hier kam zu der politischen Brisanz jedes Messianismus noch sozial Anstößiges hinzu, die Identifizierung mit einem Entehrten. So endete eine von der Partei der Sadduzäer veranlasste Gefangennahme der Apostel auf Beschluss des Synhedrions mit der Auflage, nicht im Namen Jesu weiterzureden (Apg 5,17-42). Das sollte ihre Predigt nur politisch entschärfen, theologische Vorhaltungen gab es nicht.

Den Nachstellungen in Damaskus folgen weitere seitens der römischen Plebs in Philippi. In Thessalonich entfachen Juden, die sich über den Auftritt des Paulus in der Synagoge ereiferten, einen Auflauf gegen ihn und seinen Gastgeber (Apg 17,5ff). Dieselben verfolgen Paulus und seinen Begleiter Silas bis nach Beröa (Apg 17,13ff). In der Götzenhochburg Athen stößt Paulus auf eine Wand aus Spott und Ironie. Er verlässt sie aus eigenem Antrieb. In Korinth lehrte Paulus 1 ½ Jahre in der Synagoge. Hier schlossen sich der Synagogenvorsteher und viele Korinther dem Paulus an. Doch bringen ihn seine judäischen Kontrahenten schließlich vor den Statthalter (Apg 18,8.11ff). In Ephesus, der Stadt der Artemis, entkommt Paulus einer aufgehetzten Volksmenge, die die Götzenstandbild-Produktion, die wirtschaftliche Grundlage des Wohlstandes der Stadt, von der Lehre des Paulus angegriffen sieht (Apg 19,23ff)..

Bei seiner Einschiffung nach Syrien weicht Paulus einem Anschlag seiner jüdischen Gegner aus und kehrt auf dem Landweg nach Troas zurück, um dann von Assus aus nach Jerusalem zu fahren (Apg 20,3.16). In Jerusalem kommt es unter dem falschen Vorwurf, er habe gegen Volk, Thora und Jerusalem geredet sowie durch Mitnahme eines Griechen, den Tempel entweiht, zu einem lebensbedrohlichen Tumult gegen ihn, aus dem ihn die römischen Besatzer durch Festnahme retten Apg 21,27ff). Seine Geißelung verhindert er mit dem Hinweis auf seine römische Staatsbürgerschaft (Apg 22,25ff). Einer weiteren Verschwörung seiner jüdischen Gegner entkommt er durch Überstellung nach Caesarea (Apg 23,12-34). Zwischen dem Druck seiner jüdischen Gegner auf die römischen Autoritäten und deren Taktieren zwischen Recht und politischer Opportunität wird die Lage für Paulus zunehmend prekär, sodass er sich schließlich beim Kaiser Berufung einlegt (Apg 25,10.25).

c) Die Annahme des Leidensweges in der Nachfolge des Messias
Bei dem Zwischenstopp auf der Fahrt von Hellas nach Jerusalem in Milet ruft Paulus die Presbyter aus Ephesus zusammen, um vor ihnen zum Abschied über die gemeinsame Berufung zur Solidarität und in die Leiden auf dem Weg zum Reich Gottes zu sprechen.

...dem Herrn dienend mit aller Niedrigkeit, Tränen und Versuchungen, die mir in den Anschlägen der Judäer widerfuhren... Juden und auch Griechen bezeugend Umkehr zu Gott und Vertrauen auf unseren Herrn Jesus... Und nun, siehe, gebunden durch den Geist breche ich auf nach Jerusalem ohne zu wissen, was mir dort widerfahren wird, außer dass der heilige Geist Stadt um Stadt mir bezeugt und sagt, dass Fesseln und Trübsale mich erwarten. Aber keines Wortes mache ich die Seele wert (timian), damit ich meinen Lauf ans Ziel bringe und den Dienst, den ich empfangen habe von dem Herrn Jesus: zu bezeugen die gute Botschaft der Gnade Gottes. Und nun, siehe, ich weiß, dass ihr mein Angesicht nicht mehr sehen werdet, ihr alle, bei denen ich vorbeikam, das Königreich anzukündigen ... In allen Stücken habe ich euch gezeigt, dass man... sich der Schwachen annehmen und der Worte des Herrn Jesus eingedenk sein müsse, dass er selbst gesagt hat: Geben ist seliger als nehmen (Apg 20,19-35).

Die willige Annahme des Leidensweges liegt für den Pharisäer Paulus in der Spur der Propheten Israels. Die Lehre von den Leiden der Endzeit nährt sich aus den geschichtlichen Bedrängnissen Israels. Davon hatte Paulus schon in Antiochien gesprochen, wo er und seine Begleiter die Seelen der Schüler stärkten, sie ermahnten im Vertrauen auszuharren und dass wir durch viele Trübsale hineingehen müssen in das Königreich Gottes (Apg 14,22). Das Kommen des Reiches Gottes ist eine Umbruch- und Krisenzeit wie die Zeiten der Erzväter. Davon spricht auch der Märtyrer Stephanus in Apg 7,9-12, von der Errettung Israels aus der Hungersnotdurch den von seinen Brüdern verstoßenen, aber von Gott erwählten Joseph. Mit dem Joseph-Midrasch weist schon Stephanus auf den anderen Weg der Ekklesia hin: So wie Joseph mit Hilfe Ägyptens seinen Vater Jakob und seine Brüder aus der Hungersnot in Kanaan errettete so wird Israel mit der Unterstützung von Heiden gerettet werden. In Joseph und seinen Trübsalen erkennt sich die von den jüdischen Brüdern abgelehnte Ekklesia bzw. der von seinen pharisäischen Brüdern mehrheitlich abgelehnte und verfolgte Paulus wieder.

Man hat manche Stellen dahingehend missverstanden, als ob der Apostel das Leiden gesucht habe, weil es heilsbedeutende Kraft für die Gemeinde habe, (16)  wie z.B. Kol 1,24f: Nun freue ich mich in den Leiden für euch und fülle an seiner Statt aus, was den Trübsalen Christi noch fehlte in meinem Fleisch für seinen Leib, der die Ekklesia ist, deren Diener ich geworden bin nach der Anordnung Gottes, die mir auf euch hin gegeben worden ist, um zu erfüllen das Wort Gottes.

Paulus redet von seinen Leiden als von Gott beauftragter Diener der Ekklesia, um durch sie das Wort Gottes, die Verheißung Abrahams, die Hoffnung Israels, (17)  ihrer Erfüllung näher zu bringen (V. 25). Als Apostel, als Diener der Ekklesia, also „als in besonderer Verantwortung existierendes Glied am Leib Christi“ (18) ist er Botschafter an Christi Statt (2Kor 5,20) und so als Mensch besonderen Freuden und Leiden ausgesetzt, die von den Leiden Christi noch übrig geblieben sind, noch fehlten: die Leiden der berufenen Diener des von Jesus Christus ins Leben gerufenen messianischen Rettungswerkes Gottes für sein Volk Israel. Diesen Ruf hat Paulus gehört und die damit verbundenen Leiden auf sich genommen – in der Freude auf die durch seine Standhaftigkeit beförderte Verwirklichung des Wortes Gottes, der Hoffnung Israels.

Paulus will als Gesandter des Messias Jesus sein Werk deutlich voranbringen, indem er die Ekklesia als Gottes Hilfe zur Befreiung Israels und zur Verwirklichung seiner Hoffnung allen Verfolgungen zum Trotz überall auf dem Erdkreis fest gründet.

8. Die Kirche Jesu Christi – eine neue pharisäische Richtung
a) Falsche Probleme durch falsche Übersetzungen
Wir haben betont, dass die Apostelgeschichte die Völkermission des Paulus nicht als christliche Unternehmung sieht, sondern als eine Variante innerhalb des jüdischen Pharisäismus, als einen anderen Weg zur Verwirklichung der Hoffnung Israels. Demgegenüber erscheinen die deutschen Übersetzungen christlich und antijudaistisch aufgeladen. Sie laufen darauf hinaus, den Juden einen falschen Glauben zu unterstellen. Für christliche Leser werden sie als Ungläubige gezeichnet. So z.B. in Apg 28,23-31, wo Paulus das Königtum Gottes darlegt, bezeugt und zu überzeugen versucht, indem er den Herrn Jesus als Gesalbten lehrt. Im Deutschen heißt es V. 24: Die einen ließen sich überzeugen..., die anderen blieben ungläubig. Angesichts der griechischen Vorlage wäre richtig: ...die anderen misstrauten (seiner Auslegung). Oder Apg 24,15 lesen wir im Deutschen von der Glaubensrichtung, die sie eine Sekte, statt dem Griechischen entsprechend von dem Weg, den sie eine Richtung nennen.

Mit derartigen Verzeichnungen wird der biblische Text in einen Assoziationsrahmen gestellt, der an christliche Verwerfungsterminologie erinnert. Dasselbe geschieht, wenn andere Stellen das griechische Weg mit Glaubensrichtung wiedergeben (9,2; 22,4; 24,22). Sogar stimmige Übertragungen wie Weg Gottes bzw. Weg des Herrn (Apg 18,25f) werden im Kontext mit den falschen Übersetzungen nachträglich verdunkelt. In dieselbe Richtung weist die Rede vom Heil, so wenn in Apg 16,17 vom Weg des Heils statt vom Weg zur Rettung (Israels) gesprochen wird. (19)

Diese Tendenz findet ihren Ausdruck auch in der gängigen Übersetzung von hairesis mit Sekte, wenn es sich um die Ekklesia handelt (24,5.14; 28,22). Wo hairesis eine traditionelle pharisäische Strömung bezeichnet (Apg 26,5), steht Richtung. Die andere große Richtung innerhalb des Judentums neben den Pharisäern, die Sadduzäer heißen Partei (Apg 5,17), ebenso wie die Pharisäer als ganze im Deutschen Partei undgriechisch hairesis heißen (Apg 15,5).

Diese beschriebene Übersetzungspraxis lädt die Unterschiede zwischen der Ekklesia und den anderen jüdischen Richtungen mit christlichen Antithesen auf, die einen grundsätzlichen Gegensatz von Judentum und Christentum implizieren, den das biblische Zeugnis nicht hergibt. Dem entgegen sollte die Verdeutschung der Apostelgeschichte darauf achten, die von Paulus bezeugte und im Leiden umkämpfte innerpharisäische Beheimatung der Kirche Jesu Christi und dementsprechend ihre Sendung als Auftrag für die Hoffnung Israels durch eine genaue Übersetzung textgetreu wiederzugeben.

b) Eine neue Grenze zwischen Juden und Heiden im Leib Christi
Die pharisäische Orthodoxie, die Judäer lehnten das messianische Konzept des Paulus, den Weg zur Befreiung Israels über die gelebte Völkerversöhnung in weltweit wachsenden Gemeinden aus Juden und Heiden ab. Was brachten sie gegen die Ekklesia vor? Paulus habe gegen Thora, Volk und Tempel gelehrt (Apg 6,13f; 18,13). Auch habe er einen Griechen in den Tempel mitgenommen und diesen entweiht (Apg 21,28). Dieser sicher falsche Vorwurf führt zur Gefangennahme des Paulus. Zu diesen Vorhaltungen passt die Unterredung des Paulus und seiner Begleiter mit dem Herrenbruder Jakobus und den Ältesten von Jerusalem (Apg 21,18-26). Paulus berichtet diesen, was Gott unter den Völkern durch seinen Dienst getan hat. Dabei kommt der Vorwurf der Gegner zur Sprache, Paulus lehre den Juden in der Diaspora den Abfall von Moses, ihre Kinder nicht zu beschneiden und die Zeremonialthora nicht einzuhalten. Um diesen Anschuldigungen wirksam entgegenzutreten, beschließt man, dass Paulus zusammen mit vier weiteren Männern, die ein Nasir-Gelübde geleistet haben, in den Tempel geht und sich mit ihnen weiht. Zusätzlich bekräftigt man, dass für die den Verheißungen vertrauenden Heiden, die noachidischen Gebote gelten.

Aus dieser Gemengelage wird zumindest deutlich, dass die von der Ekklesia proklamierte Öffnung für Heiden bei vielen orthodoxen Pharisäern zu Missverständnissen, Ängsten und Aggressionen geführt hatte. Die Öffnung für die Völker wurde von ihnen in der Weise missverstanden, als wolle Paulus den Zaun um Israel, die von der Thora gezogene Grenze zwischen Gottes ewigem Bundesvolk und den Heiden, einreißen. U.E. macht der falsche Vorwurf, einen Griechen in den Tempel geführt zu haben, eben dies deutlich. Nun glaubten die Gegner von Paulus den Beweis dafür zu haben.

Der geschilderte Versuch der Klarstellung des Missverständnisses zeigt, dass die Ekklesia an dieser Grenze nicht rütteln wollte: Die sich zu Jesus als dem Messias bekennenden Juden halten sich an alle Gebote der Thora. Sie sind aber im Völker-Friedens-Leib Christi mit den auf die Verheißungen Abrahams, die Hoffnung Israels, vertrauenden Heiden in der gemeinsamen Erwartung auf das durch ihre Gemeinschaft im Kommen begriffene Reich Gottes vereinigt. Die durch Christus wie Abraham vertrauenden Heiden, stehen in der Hoffnungsgemeinschaft mit Israel (Röm 4; Eph 3,6). Für sie gilt nicht die jüdische Zeremonialthora, aber die noachidischen Gebote und das Hören der Thora Moses am Sabbat in der Synagoge (Apg 15,19-21). Für die Ekklesia, den Leib Christi als die lebendige Antizipation des Reiches Gottes, gilt also weiterhin der Unterschied zwischen Juden und Heiden.

Allerdings war, was den Aposteln mit der Ekklesia vorschwebte, in der Tat etwas Neues, obwohl es das pharisäische Denken nicht verlässt. Neu war der programmatische Aufbau von messianischen Gemeinden, die die verheißene Völkerversöhnung schon jetzt leben und damit die Verheißung Abrahams weltweit verwirklichen. Diese Jesus-Gemeinden sind von außen betrachtet eine von Juden initiierte Friedensgemeinschaft vieler Völker. Von innen betrachtet ist der Leib Christi die neue Menschheit der Liebe, die antizipierte Völkerversöhnung im Geist der Hoffnung Israels. Beide Seiten gehören zusammen. Von beiden Seiten her betrachtet wollte Paulus an der Grenze zwischen Israel und den Völkern festhalten.

Paulus will keine Auflösung des Bundesvolkes, keinen erleichterten Zugang, keine Paganisierung. Er will, dass die im Alten Testament verheißene Versöhnung zwischen Israel und den Völkern in der versöhnten Gemeinschaft zwischen messianischen Juden und messianisch judaisierten Heiden, im Leib Christi, vorweggenommen wird. Er will eine Völkergemeinschaft im Geist des jüdischen Messianismus, keine Völkervermischung, eher eine Art Völkerbündnis. Diese ständig wachsende Gemeinschaft verschiedener Völker will das ewige Bundesvolk nicht vermischen, erweitern oder ersetzen, sondern ein Werkzeug sein zu seiner Befreiung durch die weltweit verkündete und vorgelebte Völkerversöhnung. Denn nurin einer weltpolitischen Atmosphäre zunehmender Sympathie für die Hoffnung Israels wird geschehen, dass Israel erlöst aus der Hand unserer Feinde ohne Furcht ihm dienen kann (Luk 1,73).

Auch von innen her betrachtet bleibt die Grenze zwischen Juden und Heiden wichtig. Paulus will religiös nichts Neues, keine Erweiterung des Judentums, keine Proselyten, auch keine neue Religionsgemeinschaft, keinen anderen Weg zu Gott neben den Juden. (20) Paulus geht es um das neue Werkzeug zur Erfüllung der Hoffnung Israels. Dieses Werkzeug hat Gott den Aposteln zugespielt. Denn haben Heiden unerwarteterweise (Apg 10,45) durch den heiligen Geist das Vertrauen in die Verheißung erlangt, dann haben sie durch Gott eine Tür zum Vertrauen gefunden, das Israel trägt (Apg 14,27). Diese gläubig gewordenen Heiden bilden mit Israel eine Hoffnungsgemeinschaft. Sie sind aber nicht Juden geworden, nicht Mitglieder des ewigen Bundesvolkes, wohl Miteinverleibte der Verheißung (Eph 3,6), aber nicht Miteinverleibte des Bundes. Gott also hat also für die Völkergemeinschaft des Leibes Christi eine neue Grenze gezogen bzw. die alte Grenze den neuen Bedingungen der versöhnten Gemeinschaft im Leib Christi angepasst. Eph 2,14 davon: Er ist unser Friede, der beide Teile zu einem Ganzen gemacht und die Scheidewand des Zaunes, die Feindschaft, abgebrochen hat in seinem Fleisch. Die versöhnte Völkergemeinschaft hat als Leib Christi mit dem Ende der Feindschaft zwischen Juden und Heiden auch die überlieferte Halacha abgetan, die der Feindschaft zwischen Israel und den Völkern geschuldet war, eben die Scheidewand des Zaunes, aber nicht den Zaun. Dabei bleibt zu unterstreichen, diese neue Grenze gibt es nur im Leib Christi, der versöhnten Völkergemeinschaft für die Verwirklichung der Hoffnung Israels. Die alte Grenze zwischen jüdischem Volk und noch heidnischen Heiden bleibt für Paulus undiskutiert in Takt. Sie ist aber nicht mehr der Rede wert. Denn für den auf das universale Friedensreich aktiv Hoffenden, für den, der in der Erwartung lebt bis die Vollzahl der Heiden eingegangen sein wird (Röm 11,26), spielt diese Grenze nur noch eine im Lichte des Reiches Gottes verschwindende eine Rolle.

9. Verstockung und Rettung
a) Verstockung: die Aufbewahrung Israels für seine von Gott verheißene Rettung
Die Synagogengemeinde in Rom reagiert auf die messianische Auslegung der Thora und der Propheten durch Paulus gespalten (Apg 28,23-25). (21) Hier am Ausgang der Apostelgeschichte, die den Fortgang des Reiches Gottes in der römisch beherrschten Ökumene bezeugt, legt Paulus am Ende seines bezeugten Wirkens die Situation zwischen der Ekklesia und dem orthodoxen Judentum mit einem Wort des Propheten Jesaja aus. Es handelt sich um ein sogen. Verstockungszitat:

Geh zu diesem Volk und sprich: Hören werdet ihr und nicht verstehen, und sehen werdet ihr und nicht erkennen. Denn das Herz dieses Volkes ist verstockt, und ihre Ohren sind schwerhörig geworden, und ihre Augen haben sie geschlossen, damit sie nicht etwa mit den Augen sehen und mit den Ohren hören und mit dem Herzen verstehen und sich bekehren und ich sie heile (Apg 28,26f; Jes 6,9f).

Außer Buber, der entsprechend dem hebräischen Text von Verfettung des Herzens redet und der Einheitsübersetzung, die Verhärtung vorzieht, übersetzen alle deutschen Übersetzungen mit Verstockung. Die englische King James Version überträgt mit woxed gross, was man mit wachsverfettet wiedergeben kann. Verstockung lenkt die Aufmerksamkeit eher auf die angeblich hartnäckige Uneinsichtigkeit der Juden, ein altes antijüdisches Vorurteil. Die Meinung des Textes, dass es sich hier um eine vorübergehende Maßnahme Gottes handelt, wird so ausgeblendet.

Der Fortgang des Jesaja-Zitates lässt daran aber keinen Zweifel. Er gehört zur Interpretation des zitierten Textes dazu und macht deutlich, dass es sich um eine vorläufige Maßnahme Gottes in seiner Geschichte mit Israel handelt, deren Ziel die Rettung Israels ist:

Zu verfetten ist das Herz dieses Volkes, seine Ohren zu verstopfen , seine Augen zu verkleben, sonst könnte es mit seinen Augen sehen, mit seinen Ohren hören, in seinem Herzen unterscheiden, umkehren und Genesung würde ihm! Ich sprach: Bis wann, mein Herr? Er sprach: Bis dahin, dass Städte verheert sind, kein Insasse mehr, Häuser, kein Mensch mehr darin, des Menschen Boden verheert zu Öden. Entfernen will der Ewige den Menschen, groß wird die Verlassenheit im Landesinnern. Dann, wenn nur noch ein Zehntteil darin ist und es wieder zur Abweide ward: der Eiche gleich, der Steineiche gleich, von denen beim Fällen ein Stumpf blieb: ein Stumpftrieb ist Same der Heiligung (Jes 6,9-13, Buber).

Der Fortgang des Jesaja-Wortes macht klar, was die sogen. Verstockung meint: eine Aufbewahrung eines Restes von Israel, der für ganz Israel steht, bildlich eines Stumpfes, aus dem zu einer späteren Zeit das Volk der Heiligung wieder neu aufblühen wird. Die Idee eines Restes, der nach den katastrophalen Einschlägen durch die Weltmächte Assur und Babylon bleiben wird (Jes 9,3; 10,21; 11,11), eines Restes, durch den als aufbewahrten, stellvertretenden Spross ganz Israel für die geschichtliche Zukunft gerettet wird. So wie bei Jesaja das Verfetten der Herzen Israels und das Verkleben seiner Augen und Ohren keine endgültige, sondern eine vorübergehende Maßnahme Gottes in seinem heilsgeschichtlichen Plan ist, so auch bei Paulus.

Allerdings schaut der Apostel des Messias Jesus einen anderen Fortgang als der Prophet Jesaja. Diesen Fortgang breitet Paulus in Röm 11,25-32 aus. Der erste Abschnitt spricht davon, dass die Verhärtung (pooroosis) des der Reich-Gottes-Auslegung des Paulus unfolgsamen Teils der Juden aufgehoben werden wird, wenn die Fülle der Völker in die messianische Gemeinschaft der Völkerversöhnung eingetreten ist: Und so wird ganz Israel gerettet werden (Röm 11,26). (22) Der zweite Abschnitt ist eine theologische Reflexion dieses Weges Gottes zur Rettung ganz Israels: Sowohl ganz Israel als auch die Völker haben Zugang zum Reich Gottes, diese jetzt durch die Unfolgsamkeit eines Teils der Juden (Feinde um euretwillen, Röm 11,28; Apg 13,46-48), Israel, wenn die Reich-Gottes-Bewegung die ganze Völkerwelt ergriffen haben wird.

Dieser Weg zur Rettung Israels lässt sich als Fortgang des Jesaja-Zitates am Ende der Apostelgeschichte lesen. So erweist sich das, was die christliche Theologie früher Heilsplan nannte, als der von Paulus verkündete andere Weg zur Rettung Israels. Er steht auf dem Boden der prophetischen Verheißungen und der pharisäischen Tradition (Rettung ganz Israels), (23) variiert aber den Weg zu diesem Ziel, wie die selbstständige aktualisierte Fortführung des Jesaja-Wortes in Röm 11,25-27 erneut belegt. Genau besehen deutet Paulus, was er im Römerbrief ausführt, auch schon zum Abschluss der Apostelgeschichte an.

b) Die Rettung Israels liegt jetzt bei den Völkern
Das erschließt sich aber erst einer wortgetreuen Übersetzung:
Kund also sei euch, dass den Völkern gesandt worden ist dieses Rettungsmittel (sooteerion) Gottes. Sie werden gehorchen. (Apg 28,28).

Diese Übersetzung zeigt die Irrwege, auf die gelenkt wird, wenn sooteerion mit Heil übersetzt wird. (24) Als sei von einem Heil die Rede, das von den Juden auf die Heiden-Kirche übergegangen wäre. So legt es die herkömmliche Übersetzung nahe. Als habe Paulus erklärt, Israel sei als erwähltes Volk durch die Kirche ersetzt worden. So hatte sich die antijudaistische Substitutionstheorie bis ins biblische Zeugnis hineingefressen. Es verhält sich demgegenüber aber so, dass den Völkern ein Rettungsmittel zugesandt worden ist, ein Mittel zur Befreiung Israels. Gottes Mittel zur Befreiung Israels ist die Ekklesia, der Leib des Retters Jesus, die Kirche Jesu Christi. Ihr apostolisches, für Israels Hoffnung werbendes Wirken unter den Völkern wird das Reich Gottes weiter ausbreiten bis die Fülle der Völker in es eingetreten ist. Durch die von der Kirche Jesu Christi universal verbreitete Völkerversöhnung (1Mose 12,3; Röm 4; Kol 3,10) wird Israel gerettet werden und ohne Furcht vor Feinden (Luk 1,74) seinem Dienst Gottes nachgehen können.

Die Kirche Jesu Christi, die für die Hoffnung Israels in der Welt eintritt und leidet, ist das messianische Rettungsmittel Gottes zur Befreiung seines Volkes. Das ist der Auftrag, den Paulus von seinem Herrn Jesus, dem Messias, angenommen hat und der der grundlegende Auftrag der Kirche Jesu Christi bleibt.

Anmerkungen

  1. Paulus unterstreicht seine Zugehörigkeit zum Pharisäertum (Apg 23,1.6; 25,8; 26,22; 28,17). Auch die Anrede Ihr Brüder nehmen ernst, nicht als Betonung, aber als selbstverständliche Ansprache unter Schulgenossen und Gleichgesinnten.
  2. Mit Jankowski sehen wir in den griechischen ioudaioi des Neuen Testamentes, die gewöhnliche mit Juden übersetzt werden, Judäer, eine Richtungsbezeichnung, die sich mit dem orthodoxen Pharisäertum deckt (Gerhard Jankowski, Und dann auch den Nichtjuden, Apostelgeschichte 9,32-21,14, Texte & Kontexte, Nr. 98/99, 2003, s. 86)
  3. Als Gottesgeschehen ist das Kommen des Reiches Gottes zugleich das Ziel und die Kraft der Bewegung seiner Selbstverwirklichung. Als Ziel ist es die Hoffnung Israels. Im Neuen Testament ist die Kraft der Verwirklichung des Reiches Gottes der heilige Geist, der in der Ekklesia wirkt. Diese ist aufgrund der in ihr gelebten Völkerversöhnung  Antizipation des Reiches Gottes, d.h. das Reich Gottes in seinem Kommen und damit auch die Kraft seiner Verwirklichung.
  4. Ein wichtiges Anliegen der Pharisäer ist der Nachweis der Totenauferstehung in der Thora. Die Glaube an die Auferstehung unterscheidet die Pharisäer von den Sadduzäern und rückt Jesus und seine Jünger an die Seite der Pharisäer (Lk 20,27-38).
  5. F.-W. Marquardt, Was dürfen wir hoffen, wenn wir hoffen dürften? Eine Eschatologie, Bd. 2, Gütersloh 1994, S. 289
  6. Vgl. E. W. Stegemann, Anpassung und Widerstand. Anmerkungen zu einer neue imperiumskritischen Lektüre des Paulus, Kirche und Israel 1.14, Neukirchener Verlagsgesellschaft 2014, S. 12
  7. Apg 10 schildert, wie Petrus in einer einleuchtenden Vision klar wird, dass die ethische Frage, Gottesfurcht und Gerechtigkeit, das eigentlich Verbindende oder Trennende zwischen Menschen ist. Apg 9 schildert, wie Paulus unter einem himmlischen Licht seine Beauftragung zum Völkerapostel erfährt.
  8. Marquardt, a.a.O., S. 339. Die historisch-kritische Schule spricht hier theologisch ausgehöhlt von einem „Itinerar“.
  9. Wäre demnach eine Kirche Jesu Christi ohne jüdische Gemeindemitglieder ein Widerspruch in sich?
  10. Während die Wertschätzung bei phobein absolut ist (Gottesfurcht), ist sie bei timan relativ, abwägend. Das Bedeutungsfeld geht von ehren bis taxieren. Der Imperativ, den Kaiser zu ehren, bezieht sich im Neuen Testament demnach auf die Wertschätzung seiner Verdienste. Der von Luther bis in unsere Zeit unterstellte Obrigkeitsgehorsam lässt sich nicht halten.
  11. Arnaldo Momigliano, italien. Geschichtswissenschaftler, betrachtete „pax romana“ als reine Propagandaformel, die nach gewonnenen Kriegen die Ära unter Kaiser Augustus verklären sollte (Internet).
  12. Romulus aeternae nondum formaverat urbis moenia = Romulus hatte noch nicht die Mauern der ewigen Stadt erbaut (Tibull, carmen 2,5,23). Eine Anmaßung, die an das 1000jährige Reich erinnert.
  13. Als römischem Bürger blieb Paulus die Kreuzigung erspart.
  14. Vielleicht sollte man Text des Epheserbriefes weniger an die Verwirklichung von Rollenbildern denken. Die Anweisungen des Paulus könnten sich auch der Erkenntnis von geschlechtsspezifischem Fehlverhalten verdanken. Den Männern fehlt die Liebe, die dienende Solidarität mit ihren Frauen. Den Frauen fehlt die Achtung vor ihren Männern. Dem entsprechen die Vergleiche, der Männer mit dem seiner Kirche als seinem Leib dienenden Christus, der Frauen mit der ihrem Diener Christus sich unterstellenden Kirche. So wäre aus dem wechselseitig korrespondierenden Entfremdungsverhältnis die Weisung in ein gegenseitiges Unterstellungsverhältnis entwickelt worden.
  15. Luk 3,22 parr; Apg 13,33; Hebr 1,2
  16. G. Bornkamm, Paulus, Stuttgart 1969, S.179
  17. Nach meiner Beschäftigung mit den Verheißungen Abrahams in der ganzen Bibel bin ich zu folgender Überzeugung gelangt: Das Wort Gottes enthält nicht mehr als die Hoffnung Israels, die Hoffnung Israels enthält nicht weniger als das Wort Gottes.. Begründung: Das Wort Gottes sind die Verheißungen des Alten Testamentes. Die Verheißungen des Alten Testamentes sind die von den Propheten immer neu aktualisierten Verheißungen an Abraham. Die Sendung Jesu Christi ist ist eine erneute Aktualisierung der Verheißung an Abraham (Luk 1,54f.71ff), um über die gelebte Völkerversöhnung in der Ekklesia die Verwirklichung der Verheißung Abrahams, der Hoffnung Israels, voranzutreiben. Die Verwirklichung der Hoffnung Israels ist das Reich Gottes in seiner Fülle. Das Reich Gottes ist das Wort Gottes.
  18. K. Barth, KD IV/2, S. 680
  19. Dasselbe griechische Wort sooteeria übersetzen Zürcher, Luther und EÜ in Luk 1,71 mit Errettung, während alle drei in Apg 28,28 Heil wählen. In Luk 1,69, wo sooteeria durch den Kontext mit 1,71 bestimmt ist, übersetzt EÜ mit Retter, während Zürcher und Luther Heil vorziehen. In Luk 1,69 steht allerdings das Pronomen heemin = uns, wodurch der Bezug auf Israel bewahrt bleibt. Wenn am Anfang des lukanischen Doppelwerkes das messianische Werk Jesu Christi als 'Errettung Israels von seinen Feinden' (Luk 1,71) bestimmt wird, so wird das auch noch an seinem Ende gelten. Wo sooteeria absolut gebraucht wird, ist der Bezug auf Israel und die Bedeutung Rettung (seines Volkes) immer mitzudenken. Alttestamentlich gibt es kein Reich Gottes ohne die Befreiung Israels: wenn die Macht des Zerstörers des heiligen Volkes ein Ende hat, wird sich dies alles erfüllen (Dan 12,7). Dass das im Neuen Testament anders sein sollte, erscheint ausgeschlossen.
  20. Dass Paulus in Röm 11 „einen Ansatz zu einer Zwei-Wege-Theologie eröffnet“ ist m.E. exegetisch unhaltbar (s. Pieper, Streit um den christlichen Kanon, Blickpunkt.e Nr. 4, August 2015, S. 9).
  21. Zur jesuanisch-messianischen Thora- und Propheten-Exegese des Paulus s. Luk 24,27; Apg 18,5; 19,8; 28,23. Zur zwiefältigen Reaktion in den Synagogen-Gemeinden s. Apg 13,43.50; 14,4; 17,4; 28,25.
  22. Hier kann es sich nicht um eine vordergründige Bekehrung der Juden zu Jesus Christus handeln. Allerdings geht es schon darum, dass, wenn die Hoffnung der Ekklesia sich erfüllt und die Fülle der Völker sich der Hoffnung Israels (und der Halacha Jesu wie Mk 12,28-34; Röm 13,8-11) anschließt, auch der große Teil der Juden, die der mit dem Namen Jesu verbundenen Reich-Gottes-Auslegung des Paulus ablehnend gegenüberstand, diese nun mit anderen Augen sehen müsste. Allerdings wäre das kein Bekenntnis zu Jesus Christus, als dem kommenden messianischen Retter, sondern eine nachträgliche Anerkennung seines messianischen Befreiungswerkes durch seinen Leib der Völkerversöhnung, nachdem er die Rettung für Israel gebracht hat.
  23. Im Babylonischen Talmud lesen Ganz Israel hat Teil an der kommenden Welt... Und diese sind's, die nicht teilhaben an der kommenden Welt: Wer sagt: Die Belebung der Toten lässt sich nicht aus der Weisung belegen, und : Die Weisung ist nicht vom Himmel,... (Sanhedrin XI, 1f). Nach diesen drei pharisäischen Kriterien für die Teilhabe am Reich Gottes, gehört Paulus eindeutig dazu. Zum letzten Kriterium vgl. Röm 7,12.14.
  24. Übersetzungen mit Heil führen oft auf Abwege oder richten wie in unserem Fall oft Unheil an. Noch ein Beispiel. Apg 13,47 zitiert Jes 49,6: Ich habe dich zum Licht der Heiden gesetzt, damit du zum Heil gereichest bis an das Ende der Erde. Wie üblich steht das deutsche Heil für das griechische sooteeria, was genauer retten im Sinne von wiederherstellen meint. Im hebräischen Text steht allerdings jschuathi, was Befreiung bedeutet, also immer eine geschichtlich-politische Befreiungstat Gottes in Analogie zum Exodus erinnert.

Klaus-Peter Lehmann, Jg. 1946, studierte Theologie bei Gollwitzer und Marquardt und war bis zu seinem Ruhestand Pfarrer der Nordelbischen Kirche in Hamburg. Aktiv im jüdisch-christlichen Dialog mit zahlreichen Veröffentlichungen in kirchlichen Zeitschriften und Buchveröffentlichungen. Er lebt seit 2005 in Augsburg.

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