Redaktion: Hans-Georg Vorndran

BlickPunkt.e Nr. 2 / April 2016

 

Alexander Deeg
Selbstverständlich und Israel-sensibel

Lust und Last – Ambivalenzen im Jahr 2015
Das Jahr 2015 ist im Blick auf den christlichen Umgang mit dem Alten/Ersten Testament im deutschsprachigen Bereich ein Jahr der Ambivalenz. Große Lust am Alten Testament trifft auf eine heftige Problematisierung dieser Schriftensammlung, die als „Tanakh“ die schriftliche Tora des Judentums bildet. Zunächst zur Problematisierung: Seit dem Frühjahr 2015 sorgt die akademische „Provokation“ Notger Slenczkas, die bereits im Jahr 2013 entstand, für Aufsehen. Slenzcka stellt in Aufnahme einer Linie neuprotestantisch-liberaler Theologie die Frage, ob das Alte Testament heute noch mit Recht als Teil des christlichen Kanons betrachtet und entsprechend in den Kirchen gepredigt werden könne.

Die Argumente Slenczkas sind vielfach diskutiert worden. Eine subjektiv zugespitzte und aus der geschichtlichen Verankerung gerissene Christologie verbindet sich mit einer dominant historischen Betrachtung der Bibel. So erscheint das Alte Testament als „vor-christlich“ und für den christlich Glaubenden letztlich nur als mehr oder weniger zufälliger historischer Kontext des ‚Christus‘. Slenczka verkennt die theologische Bedeutung, die dieses (historisch selbstverständlich ‚vor-christliche‘!) Zeugnis des Alten Testaments für die Bestimmung christlicher Identität hat. Ohne das Alte Testament hinge nicht nur das Neue in der Luft (vgl. nur Matthäus 1!), sondern auch christliche Existenz insgesamt. Die These, dass sich im Verhältnis der Testamente ‚Vorchristliches‘ zu ‚Christlichem‘ verhalte, ist ein Konstrukt. Das ‚Christliche‘ trägt von Anfang an und bleibend die Signatur des ‚Jüdischen‘, ist eingeschrieben in eine Geschichte, die zugleich die Geschichte einer anderen Religion ist. Das Alte Testament ist daher weit mehr als ein formaler „Platzhalter für die vorchristliche Gotteserfahrung aller Zeiten“, wie Notger Slenczka meint. Vielmehr ist christliche Existenz nur spannungsreich zu verstehen: Christen sind nicht Israel und erfahren sich – durch das Christusereignis – doch als Adressaten von Israels Verheißung und Hoffnung. Das heißt aber: Wir können nicht Christen sein, ohne auf das Judentum bezogen zu bleiben. Und daraus folgt, so schwierig und theologisch mühsam das auch sein mag: Auch das jüdische „Nein“ zu Jesus als dem Christus ist ein beständiger Teil christlicher Identität, der mit dem christlichen „Ja“ in Spannung steht. Dietrich Bonhoeffer schrieb: „Der Jude hält die Christusfrage offen.“ Das ist anstrengend – und zugleich verheißungsvoll, weil wir damit auch mit der Frage, wer ‚Christus‘ ist und was er bedeutet, nie zu Ende kommen, sondern immer genötigt sind, neu zu suchen und zu fragen.

Es geht bei der scheinbar harmlos-akademischen Frage nach der Kanonizität des Alten Testaments um nicht weniger als die Grundfrage christlicher Identität und die Basis jeder Beziehung zum gegenwärtigen Judentum in seiner Vielfalt. Daher auch verwundert es nicht, dass die Diskussion mit einiger Schärfe geführt wurde und wird. Interessant ist aber, dass uns gerade 2015, jenseits der professoralen Problematisierung des Alten Testaments, eine überaus erfreuliche Lust an diesen Texten begegnet. Im Kirchenjahr 2014/15 wurde die Revision der Ordnung der Lese- und Predigttexte in den evangelischen Kirchen erprobt. Die wesentliche Neuerung besteht darin, dass nun nicht mehr nur rund ein Sechstel der Texte aus dem Alten Testament stammen, sondern etwa ein Drittel, sich also der Umfang des Alten Testaments innerhalb der Lese- und Predigttexte fast verdoppelt hat. Damit nimmt die Revision eine Forderung auf, die sich aus dem Kontext des christlich-jüdischen Dialogs, aber u.a. auch aus einer empirischen Vorstudie ergab. Diejenigen, die Gottesdienste gestalten, wünschen sich vor allem ‚mehr Altes Testament‘. Damit geht die Begeisterung, das Alte Testament zu lesen und zu predigen, einher mit der Erfahrung vieler Gemeindeglieder. Texte aus dem Alten Testament werden vielfach eben nicht als fremd und problematisch empfunden, sondern als unmittelbar ansprechend und überaus nahe. Die meisten Tauf-, Konfirmations-, Trau- und Beerdigungssprüche stammen aus dem Alten Testament, und die „Losungen“ der Herrnhuter Brüdergemeine gehören zu den weltweit meistverkauften Büchern.

Wo hat die vielfache Begeisterung für das Alte Testament ihren Ursprung? 1984 sprach der evangelische Systematische Theologe Friedrich Mildenberger vom „Überschuss des Alten Testaments“. Im Alten Testament begegnen sich Lebens- und Glaubensthemen, so die These, die im Neuen Testament nicht vorkommen. So ist im Alten Testament von der Welt weit umfassender die Rede als im Neuen. Das Verhältnis von Mensch und Tier, Mensch und Umwelt kommt zur Sprache. Auch die Geschichte wird in all ihrer Ambivalenz reflektiert – und die Frage, wo und wie sich Gott in ihr wahrnehmen lässt. Darüber hinaus begegnen sich weisheitliches Nachdenken über die Zeit, das Schicksal, die Wechselfälle des Lebens. Soziale Fragen werden thematisiert – etwa in den Geboten der Tora oder in den Büchern der Propheten. Dies alles drückt sich in einer Fülle von Textformen aus: leidenschaftliche Klage, poetisch artikuliertes Gottvertrauen, bewegende Narrationen, schwungvolle Hymnen, detailreiche Gesetzestexte…

Freilich: Gerade bei dieser Begeisterung für das Alte Testament gilt es ein Problem im Auge zu behalten, das etwa Notger Slenczka in seinem umstrittenen Diskussionsbeitrag zu Recht wahrnimmt: die Gefahr der Vereinnahmung des Alten Testaments. Die Texte könnten für so evident und nah gehalten werden, dass Christen nicht mehr erkennen, dass die ersten Adressaten andere und sie selbst nur Hinzugekommene sind zu dem „Bund der Verheißung“ (Epheser 2,12) und zu den Texten, die von ihm zeugen.

Die christliche Predigt des Alten Testaments
Hermeneutisch gilt es, sich im Spannungsfeld zwischen Vereinnahmung und Distanzierung zu bewegen. Wann immer die Frage nach der christlichen Predigt des Alten Testaments gestellt wurde und wird, rückt ein Aspekt dieser Spannung besonders in den Blick: das Verhältnis der Christusbotschaft zum Alten Testament.

Dabei zeigt schon diese Formulierung eine grundlegende Problematik: Sie tut einerseits so, als ob es die Christusbotschaft jenseits des Alten Testaments überhaupt gäbe; andererseits meint sie, die Vielfalt des Alten Testaments singularisch reduzieren zu können. Gesucht wird dann eine Art Generalschlüssel zum Verhältnis der Testamente. Der Alttestamentler Horst-Dietrich Preuß hat bereits 1984 in seinem Buch „Das Alte Testament in christlicher Predigt“ einige der klassischen Modelle vor Augen geführt und problematisiert. Etwa das Modell, durch das das Alte Testament als Verheißung der neutestamentlichen Erfüllung gegenübergestellt und damit zum bloßen Vorläufer degradiert wird. Oder die verschieden akzentuierten antithetischen Modelle, in denen die Testamente z.B. im Verhältnis alt vs. neu, Gesetz vs. Evangelium etc. bedacht werden.

Vor diesem Hintergrund haben andere gefordert, man müsse die Texte des Alten Testaments zunächst in ihrer „Eigenaussage“ wahrnehmen, sie nicht christlich überfremden und damit in ein Raster einfügen, das diesen Texten zunächst nicht entspricht. Diese Forderung hat einen wahren Kern und gebietet vor allem christliche Vorsicht gegenüber jeder Tendenz unreflektierter Vereinnahmung. Das Problem aber ist, dass es die „Eigenaussage“ so nicht gibt. Menschen lesen immer in Kontexten. Interpreten gehören immer in eine Auslegungsgemeinschaft.

Was folgt aus dem bis hierher Gesagten für die Predigt des Alten Testaments? Zwei Adverbien sind es, die die Predigt des Alten Testaments m.E. kennzeichnen sollten. Es geht darum, das Alte Testament selbstverständlich und Israel-sensibel zugleich zu predigen und so die Gefahren der Distanzierung und der Vereinnahmung zu vermeiden.

(1) Selbstverständlich: Die Texte des Alten Testaments sind lebendig – in Kunst, Kirche, Frömmigkeit. Sie sind wirksam und daraus folgt: Man kann das Alte Testament ganz selbstverständlich predigen. Wie man die Losungen ganz selbstverständlich lesen kann. Ich brauche keinen gewaltigen christologischen Aufwand, um die Worte, Bilder und Geschichten des Alten/Ersten Testaments als Worte zu hören, die gegenwärtig im christlichen Kontext sprechen. In Predigten zu alttestamentlichen Texten muss nicht notwendig „Christus“ noch irgendwie erwähnt und explizit untergebracht werden, wie das früher oft gefordert wurde. Sie erklingen ohnehin im christlichen Kontext, der in jedem Gottesdienst eröffnet wird „im Namen des einen Gottes, des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes“.

(2) Israel-sensibel: Aber gerade angesichts der Selbstverständlichkeit gilt auch: Das Alte Testament ist ein Text, der nicht anders als Israel-sensibel gelesen und gepredigt werden kann. Der Begriff stammt von dem katholischen Pastoraltheologen Heinz-Günther Schöttler und verweist darauf, dass diese Texte zunächst die Texte anderer sind und wir nur sekundär zu Adressaten werden. Materialiter bedeutet diese Verbindung für Schöttler, in den Texten des Alten Testaments beides neu zu entdecken: die Erfüllungslücke und den Verheißungsüberschuss. Christenmenschen müssen nicht behaupten, dass die Verheißungen alle erfüllt seien (was angesichts der Welt, wie sie ist, nur eine Reduktion der Verheißungen auf die fromme Innerlichkeit unter Ausblendung der Realitäten dieser Welt bedeuten könnte). Nein, die Verheißungen sind nicht erfüllt, aber „bestätigt“ (vgl. 2Korinther 1,20). Damit führt die Erfüllungslücke hinein in den Verheißungsüberschuss. Es gibt etwas zu hoffen für Christenmenschen. Die neue Welt Gottes ist im Kommen. In diese Dynamik führt christliche Predigt des Alten Testaments immer neu ein – und damit auch in die verheißungsvolle, unabgeschlossene Geschichte von Christen und Juden mit dem einen Gott.

Alexander Deeg Professor am Institut für Praktische Theologie an der Universität in Leipzig und Herausgeber der Göttinger Predigtmeditationen.

JungeKirche 1/2016

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