Redaktion: Hans-Georg Vorndran

BlickPunkt.e Nr. 4 / August 2016

 

Peter von der Osten-Sacken
Der Brief an die Galater einst und jetzt

1. Hermeneutische Horizonte
1.1. Fragwürdige Ökumene
„Wird die Ausrichtung an der Tora über Bord geworfen oder nicht? Wird das über Bord geworfen, was bisher (und letztlich bis heute) das Judentum ausmacht: die Ausrichtung des gesamten Lebens an der Tora, der Weisung in den Büchern des Mose [?]“ Das ist die Frage, mit der Paulus nach der „Einführung in den Galaterbrief“ für die Ökumenische Bibelwoche 2014/15 auf der Website des Katholischen Bibelwerkes zu tun hat. Die Antwort folgt auf dem Fuß: Der Apostel erkläre den Galatern, „dass dieses ‚Gesetz’ nicht mehr ihre Basis sein kann und darf, weil es letztlich nur aufdeckt, wie und wo Menschen versagen“. Der „Quantensprung für die aus Glauben Lebenden“ bestehe demgegenüber in dem „radikale[n] Vertrauen darauf, dass Gott Menschen jeder Nation oder Religion schon ‚richtig gemacht’ hat, ehe solche Menschen es selbst mit dem Instrumentarium ihrer Tradition versuchen können“. Zwar gibt es über das Notierte hinaus weitere befremdende Aussagen. So lässt der Verfasser den Brief trotz 1,3 an eine Gemeinde geschrieben sein, die für ihn außerdem trotz 4,8–10 aus Nichtjuden und Juden besteht. Gleichwohl verdient er Dank dafür, dass er mit seinen halbseitigen Ausführungen gezeigt hat, wie wenig von dem, was in den letzten Jahrzehnten auf evangelischer und katholischer Seite an exege­tisch-theologischem Problem­bewusstsein erarbeitet worden ist, Eingang in die kirchliche Publizistik gefunden hat – es handelt sich schließlich um keinen Winkelverlag. Er hat mithin dargetan, wie sehr alle Anstren­gungen um ein Verständnis des Briefes, das nicht das Ende des Judentums einläutet, am Anfang stehen. Die gelegentlich vertretene These, die Prob­lemlage im christlich-jüdischen Verhältnis habe sich in der letzten Generation grundlegend geändert, resultiert anscheinend aus Erkenntnissen auf anderen Arbeits­feldern.
Legt man die zitierten Sätze nicht auf die Goldwaage, klingen sie zwar, als habe hier Luther persönlich seine biblische Katharina von Bora spazieren geführt, sodass sie als Text aus katholischer Feder dem ökumenischen Anlass besonders zu entsprechen scheinen. De facto stellt die „Einführung“ jedoch die Briefaussagen an wesentlichen Stellen auf den Kopf. Die Behauptung, Paulus erkläre den Galatern, dass die Tora „nicht mehr ihre Basis sein kann und darf“, ignoriert, dass sie dies für die ehemaligen Heiden nie gewesen ist. Sie lässt vor allem außer Acht, dass der Apostel den Galatern, die nichts von der Tora wussten, im Zentrum seines Briefes die Tora über weit mehr als ein Kapitel hin nahebringt, indem er sie - unter ausdrücklicher Berufung auf das „Gesetz“ (4,21) – als Kinder Abrahams in dessen Familie eingliedert (Kap. 3 und 4,21–31). Desgleichen greift er dort, wo er den Imperativ des Evangeliums zur Geltung bringt und zeigt, wie die „Freiheit eines Christenmenschen“ zu leben ist, mit dem Gebot der Nächstenliebe ausdrücklich auf die Tora/das Gesetz zurück (3. Mose 19,18 = Gal 3,14). Selbst das vermeintlich eigentliche paulinische Gesetzes­verständnis, nämlich dass das Gesetz passé sei, „weil es letztlich nur aufdeckt, wie und wo Menschen versagen“, steht für Paulus in einem soteriologischen, auf Rettung gestimmten Zusammenhang. Es ist zwar nicht gegeben, um lebendigzumachen, wohl aber schließt es in die Sünde ein, damit die Verheißung durch Jesus Christus zum Ziel komme (3,19-25). „Ist nun das Gesetz gegen die Verhei­ßungen? Das sei ferne!“ (3,21) Selbst im Galaterbrief, selbst an dessen neuralgischster Stelle, steht das Gesetz für Paulus nicht gegen die Verheißungen und damit nicht gegen das in ihnen gründende Evangelium. Ein „über Bord damit“ erfasst von all dem nichts, ganz zu schweigen davon, dass jüdisches Gesetzes­verständnis – die Tora als Ausdruck der Zuwendung und des Willens Gottes – auch nur ansatzweise in den Blick käme.
Wie lässt sich über ein solches nach wie vor geläufiges Miteinander von plakativer Aufnahme paulinischer Aussagen und Abstempelung des antiken und des heutigen Judentums hinauskommen?

1.2. Polemik im Galaterbrief
Schiefe Gegenüberstellungen von Gesetz und Evangelium resultieren aus jahrhundertealten, wenn nicht noch älteren Traditionen und stehen im Allgemeinen im Dienst gegenwärtiger theologischer Interessen. Oft ist es allein das Bestreben, dem Evangelium auf historisch-theologischer Basis eine Art Alleinstellungsmerkmal zu geben. Angesichts dieses oft unauflöslichen Ineinanders von antiken biblischen Texten und gegen­wärtigen theologischen Interessen erscheint es als geboten, generell zwischen dem Zugang auf den Text als historische Urkunde und seiner Wahrnehmung und Aktualisierung als kanonisches Dokument zu unterscheiden und beide Zugänge erst auf der Grundlage ihrer Unter­scheidung in Beziehung zu setzen. Eine historische Interpretation muss entsprechend bemüht sein, die Zwi­schenzeit zwischen der Abfassung des Textes und der Gegenwart so weit wie möglich auszublenden. Seine Aufnahme als kanonischen Text, d.h. in der Gegenwart und für sie, hat demgegenüber diese Zwischenzeit genauso zielstrebig einzublenden. Dass beides jeweils nicht lupenrein möglich ist und sich ein Wechselverhältnis zwischen beiden Zugängen nicht völlig ausschließen lässt, ist darin einbegriffen. Dies ist jedoch kein Grund, jene Unterscheidung nicht zu treffen.
Was speziell den Galaterbrief angeht, kommt ein Weiteres hinzu. Charakteristisch für ihn sind seine ausgeprägte Polemik und sein Bestreben, möglichst scharfe Grenzlinien zu ziehen. Beides begegnet gleich zu Beginn in Gestalt der Eventualflüche (1,6-9) und hält sich bis zum Ende durch (6,12-13). Für das  Verständnis dieses Sachverhalts ist es hilfreich, sich zunächst die möglichen Gründe und Arten direkter oder indirekter Polemik im Einzugsbereich des Neuen Testaments vor Augen zu  führen, um dann die Briefaussagen diesen Möglichkeiten zuzuordnen. Während es in der späteren Kirchengeschichte vielfach vorgeschobene, eingebildete und verleumderisch unterstellte Faktoren sind, die den Anlass oder Vorwand polemischer Aussagen bilden, handelt es sich im Neuen Testament um reale, wenn auch interpretierte Anlässe. Im Fall des Galaterbriefes besteht der Anlass der Polemik des Apostels in dem Wirken gegnerischer, vermutlich jesusgläubiger Missionare, die auf die Be­schneidung der galatischen Gemeinden als Voraussetzung ihrer Zuge­hörigkeit zum Gottesvolk drängen und anscheinend Sympathi­santen in den Gemeinden haben. Im Hintergrund steht mithin das Judentum als Attraktion für Christen – oder auch, je nach Perspektive, als Bedrohung. Der Unterschied in der Entfaltung des Evangeliums mit und ohne solchen Anlass, d.h. ohne Missionskonflikt, tritt deutlich durch ei­nen Vergleich zwischen dem Galater- und dem Römerbrief zutage. Im Galaterbrief hat der Apostel am Ende vielleicht ein Wort der Hoffnung für Israel (6,16). Im Römerbrief hingegen widmet er aus gegebenem Anlass (11,1–2.17–20) drei lange Kapitel (9–11) der Frage nach dem biblischen Gottesvolk Israel und lässt alles in ein deut­liches Wort der Hoffnung für sein Volk ausklingen (11,25–32.33–36).

2. Zentren des Briefes
2.1. Der Gekreuzigte und die Seinen als Same Abrahams (Kap. 3)
In Kap. 1-2 des Briefes legt Paulus dar, wie er in seiner eigenen Missionsgeschichte „die Wahrheit des Evangeliums“ (2,5.14) vertreten und durchgesetzt hat. Er meint damit die Einbeziehung der Nichtjuden in die Schar der Kinder Abrahams durch Jesus Christus und ohne ihre Verpflichtung auf die rituelle Seite der Tora, vor allem auf die Beschneidung. In Kap. 3 setzt er neu ein, um zu zeigen, inwiefern und mit welchen Konsequenzen die Teilhabe an der Abrahamkindschaft durch Jesus Christus bewirkt ist. Er beginnt dazu in 3,1– 5 mit dem Rekurs auf einen Tatbestand, in dem die Galater ihm beipflichten müssen und den er zur Grundlage der gesamten Argumentation in Kap. 3 macht: Der Apostel hat unter ihnen den gekreuzigten Christus verkündigt. Durch diese Verkündigung und ihre Annahme im Glauben haben die Galater den Geist Gottes empfangen – und nicht durch vom Gesetz gebotene rituelle Handlungen wie die Beschneidung. Wenn sie trotzdem der Versuchung erliegen, sich beschneiden zu lassen, fallen sie hinter den entscheidenden Beginn ihres Existenzwandels zurück. Sie bauen auf das „Fleisch“, auf das, was von Menschen machbar ist, nicht aber auf den Geist, d.h. auf die für das Ende der Tage verheißene und im Glauben empfangene Kraft Gottes.
Paulus begnügt sich freilich nicht damit, die existenzwendende Grund­lage der Galater in Erinnerung zu rufen. Vielmehr weist er anschließend nach, dass sie gerade so – vom Geist Gottes bestimmt – vollgültige Kinder Abrahams sind und damit zu seinen Erben gehören. Vermutlich war dies umso dringlicher, als die anderen Missionare sich leicht darauf zu berufen vermochten, dass sich Abraham noch im hohen Alter beschnitten und so den Bund Gottes mit ihm versiegelt hatte (1. Mose 17). Paulus nimmt demgegenüber seinen Ausgangspunkt bei 1. Mose 15,6: „Abraham glaubte (vertraute) Gott, und dies wurde ihm zur Gerechtigkeit angerechnet.“ Er setzt damit bei einer Aussage zwei Kapitel vor 1. Mose 17 ein (vgl. Röm 4). Er verbindet sie mit der – von ihm so ausgelegten – Verheißung (1. Mose 12,3), dass in ihm, dem glaubenden Abraham, alle Völker gesegnet werden sollen.
Der Glaubensexistenz Abrahams stellt er auf der Linie von 3,1–5 die Existenz derer gegenüber, die sich an ein anderes Wort der Tora in 3. Mose 18,5  halten, nämlich dass der, der das von ihr Gebotene tue, leben werde (Gal 3,12). Im Gegensatz zu Abraham und seinen Glaubens­kindern verortet Paulus die Täter des Gesetzes im Bereich des Fluches. Er verweist dazu auf das Schriftwort, jeder, der nicht alles im Gesetz Gebotene tue, sei verflucht (5. Mose, 27,26 = Gal 3,10) und damit aus der Nähe Gottes verbannt. Freilich fährt Paulus dann nicht so fort, wie man es erwartet, nämlich mit der Feststellung, dass die Nichtglaubenden nicht in allem Gebotenen geblieben und deshalb verflucht seien – das hätte er auch angesichts des Zeugnisses, das er sich selber für seine pharisäische, vorapostolische Zeit ausgestellt hat („untadelig“, Phil 3,6), schwerlich tun können. Vielmehr argumentiert er mit einem Rück­schluss: Dass niemand durch das Tun des Gesetzes gerechtgesprochen würde, sei klar, weil es in der Schrift, d.h. bei dem Propheten Habakuk, heißt, der aus Glauben Gerechte werde leben (2,3), das Gesetz aber nicht das Prinzip ‚Glaube’, sondern das Prinzip ‚Tun’ vertrete ( Gal 3,12). Das ist ein stilles Eingeständnis, dass man mit der Schrift beides ‚beweisen’ kann: die grundlegende Bedeutung des Zusammenhangs ‚Glaube und Leben’ und die beherrschende Stellung des Zusammen­hangs ‚Tun und Leben’. Die Gründe für die eine oder die andere Wahl liegen, wenn man denn von dieser Gegenüberstellung von Glaube und Tun ausgeht, jenseits der Bibel, sosehr die eine oder andere Wahl auch mit der Bibel in Verbindung gebracht wird und auf sie zu beziehen ist.
Aufs Eindrücklichste zeigt dies - in gewissem Sinne erneut – die Fortsetzung in 3,13-14. In 3,1 hat Paulus mit der Erinnerung an den Tatbestand eingesetzt, dass die Galater den Geist oder die Kraft Gottes durch die Verkündigung des Gekreuzigten  empfangen haben. In 3,13-14 erinnert er sie an das grundlegende Faktum, dass dieser Gekreuzigte sie von dem Fluch des Gesetzes losgekauft hat, indem er für sie zum Fluch geworden ist, auf dass sie in Christus Jesus den Segen Abrahams und durch den Glauben die Verheißung des Geistes empfingen. Mit diesen theologisch prall gefüllten Sätzen greift Paulus über die in 3,1-5 hervorgehobene Verkündigung des Gekreuzigten auf dessen Tat der Hingabe zurück. Als  Hingabe Jesu Christi für die Anderen ist sie für Paulus der Erkenntnisgrund, dass diese Anderen unter dem Fluch sind. Genauso war das Schriftwort, der aus Glauben Gerechte werde leben, für den Apostel der Erkenntnisgrund dafür ist, dass niemand durch das Tun des Gesetzes Anteil am verheißenen Erbe gewinne. Immer liegt der Schlüssel zum Verständnis der paulinischen Sätze darin, dass jetzt eine grundlegende, alles andere bestimmende und deutende Erfahrung von heilsamer, rettender Zuwendung gemacht ist. Sämtliche Aussagen sind mithin Resultat erfahrener Offenbarung (1,16; 3,23– 25), d.h. Entfaltung einer geschenkten Gewissheit.
Charakteristisch für diese Entfaltung ist der folgende Tatbestand: Ab 3,6 nimmt Paulus die Thematik „Segen/Fluch“ nach den Eventualflüchen in 1,6–9 ein zweites Mal auf, dazu an zentraler Stelle. Aber anders als dort verflucht er nicht allein diejenigen, die den Galatern „ein anderes Evangelium“ verkündigen wollen. Vielmehr stellt er gleich zu Beginn in 3,10 generalisierend alle, die aus dem Tun der Tora existieren, als verflucht hin. Dichter am Ursprung seiner Aussagen scheint er sich deshalb zu bewegen, wenn er in 3,13–14 zum Bekenntnisstil übergeht, verkündet und bekennt: „Christus hat uns vom Fluch des Gesetzes befreit, indem er (mit seinem Tod am Holz, s. 5. Mose 21,23) für uns zum Fluch geworden ist“ (3,13; vgl. unten, Abschn. 3.4.).
Nach den zentralen Christusaussagen in 3,13–14 vertieft Paulus den dargelegten Zusammenhang. Er bestimmt Jesus Christus, den Mittler und Ort des Segens Abrahams, als Samen des Erzvaters, dem die Verheißung gegeben ist. Er hebt hervor, dass das Gesetz nicht gegen die Verheißung ist, sondern in ihrem Dienst steht (s. oben, Abschn. 1.1). Und er legt dar, dass alle Glaubenden – unter Aufhebung der ethnischen, sozialen und geschlechtsspezifischen Unterschiede – Einer in Christus sind und weil zu ihm gehörig, auch Same Abrahams und verheißungs­gemäß Erben. Wir kommen auf diesen Zusammenhang zurück (s. unten, Abschn. 3.2.).

2.2. Vertauschte Erben (4,21-31)
Am Ende des 4. Kapitels thematisiert Paulus ein zweites Mal Abraham (4,21–31). Diesmal sind es seine beiden Frauen und ihre Nachkom­menschaft, die er in den Blick rückt. Der Text, in dem dies geschieht, gehört im Hinblick auf Polemik und Abwertung zu den problema­tischsten im Neuen Testament. Paulus entfaltet den Zusammenhang 4,21-31, um die zu belehren, die unter dem Gesetz/der Tora sein, d.h. in ihrem Herrschaftsbereich leben wollen. Zu diesem Zweck erläutert er die Familienverhältnisse des Erzvaters, wie sie sich in seiner Perspektive als Apostel Jesu Christi darstellen.
Sara und Hagar stehen nach Paulus für zwei Bundschließungen Gottes – Hagar für den verskla­venden Bund vom Sinai und das jetzige, Sklavendienst leistende Jerusalem mit seinen Kindern. Sara hingegen repräsentiert das himmlische, freie Jerusalem und ist die Mutter der Kirche. Als Kinder der Verheißung siedelt Paulus die galatischen Gemeinden auf der Sara-Isaak-Linie an. Ebenso sieht er in der Ver­folgung Isaaks durch Ismael, die nicht in der Bibel, wohl aber in der jüdischen Tradition berichtet ist, eine Vorabbildung der Verfolgung der Kirche durch das jetzige Jerusalem. Die augenscheinliche Verbitterung des Apostels macht sich Luft, indem er die Aufforderung Saras an Abraham in 1. Mose 21,10 zitiert, er solle die Sklavin und ihren Sohn hinauswerfen, damit ihr Sohn nicht mit dem Sohn der Sklavin zusammen erbe. Wenn Paulus das Resümee zieht: „Deshalb, Geschwister, sind wir nicht Kinder der Sklavin, sondern der Freien“ (4,31), dann schließt dies ein, dass die Galater dann, wenn sie „unter dem Gesetz“ sein wollen, gerade nicht zu legitimen, d.h. erbberechtigten Kindern Abrahams werden, sondern vom Erbe ausgeschlossen bleiben. Zwar ist auch an dieser Stelle das Bestreben des Apostels erkennbar, die Gemeinden von unbedachten Schritten abzuhalten. Aber zumal nachdem Paulus selber in Röm 9-11 seine Ausführungen im Galaterbrief indirekt widerrufen hat, mag man mit ihm selber fragen, ob der Zweck der Abschreckung der gefährdeten Galater das Mittel der proklamierten Enterbung Israels heiligt – oder ob nicht mit dieser Proklamation der Enterbung der Synagoge durch die Kirche von Paulus der Keim zu einer Krankheit gelegt ist, die keineswegs bereits ausgestanden ist, auch wenn ihre verheerenden Folgen inzwischen in vielen kirchlichen Erklärungen benannt, bekannt und gebannt worden sind.

3. Zur heutigen Rezeption des Briefes
Die damit betretene Ebene der kanonischen Wertigkeit des Textes, in diesem Fall seiner Wirkungsgeschichte, umschließt einen weiten Be­reich. Nur einige zentrale Zusammenhänge können hervorgehoben wer­den.
3.1. Segenlose Ansprüche
Nach Aussage des Galaterbriefes ist der Segen Abrahams und mit ihm der Segen des Gottes der Väter auf die Kirche gekommen. Ungeachtet dessen hat auf einer Sicht des christlich-jüdischen Verhältnisses, wie sie in 4,21-31 zum Ausdruck kommt, erkennbar kein Segen geruht. Wer vermöchte die hochmütige Selbstgewissheit und die Verachtung des Anderen, die dieser Text und verwandte Zusammenhänge bereits in den Tagen des Apostels (Röm 11,17-20) und dann mehr noch später auf christlicher Seite bewirkt haben, als segensreiches Wirken zu verstehen? Zwar ist die Ablehnung von Christen und Juden zu Beginn wechselseitig und läuft in der Sache auf die jeweilige Bestreitung der Selbstdeutung des Anderen hinaus. Auch mögen die verbalen Ausdrucksformen die­ser wechselsei­tigen Bestreitung in vieler Hinsicht gleich krass gewesen sein; und ebenso hat es nach Ausweis des Neuen Testaments in der Anfangszeit einzelne Gewaltakte von jüdischer Seite aus gegeben. Gleichwohl haben auf die Länge der Zeit die Juden die Kosten dieses Verhältnisses getragen. Über weite Strecken der Kirchengeschichte hin hat nicht die Synagoge die Kirche verfolgt, vielmehr hat umgekehrt nur zu oft der vermeintliche Isaak (die Christenheit) den vermeintlichen Ismael (die jüdische Gemeinschaft) entrechtet, verfolgt und vertrieben und zahllose Jüdinnen und Juden getötet, sosehr es auch immer wieder Phasen eines friedlichen Miteinanders gegeben hat.
Am Ende lauert hinter einer Sicht, die Israel die legitime Kindschaft bestreitet und es vom Erbe ausschließt, der überhebliche Anspruchs, im Besitz der absoluten Wahrheit zu sein und sie gegenüber dem Anderen geltend machen zu sollen und zu können, gegebenenfalls bis hin zur Bestreitung seines Existenzrechtes. Die jüdischen Denker Franz Rosenzweig und Martin Buber haben je auf ihre Weise die schiefe Ebene eines solchen absolutistischen Verständnisses der christlichen Tradition im Verhältnis zum Judentum korrigiert. Rosenzweig hat das bekannte Wort geprägt, für Juden gelte der Anspruch Jesu im Johannesevangelium, niemand komme zum Vater denn durch ihn (14,6), deshalb nicht, weil sie bereits beim Vater seien. Buber wiederum hat in dem bekannten Religionsgespräch mit dem Neutestamentler Karl Ludwig Schmidt im Januar 1933 in Stuttgart eine verwandte Orien­tierung durch die Feststellung gegeben, der Jude brauche nicht durch das Christentum und der Christ nicht durchs Judentum, um zu Gott zu gelangen. Dies klingt in der Sache wie eine im Wandel der Zeiten vorgenommene Anwendung des Galater­briefes mit seiner These, die Völker müssten nicht erst Juden werden, um zur Nachkommenschaft Abrahams zu gehören.

3.2. Aufhebung der Unterschiede
Für Paulus bedeuten die Hingabe Jesu Christi „für uns“ am Kreuz und die Hingabe der Glaubenden an ihn Erfüllung und Einschnitt zugleich. Erfüllung ist beides, weil damit die Abraham in der Bibel Israels gegebene Verheißung Wirklichkeit zu werden beginnt. Einschnitt ist es, weil die Zeit der anfangsweise erfüllten Verhei­ßung der Tora die Zeit der Tora als forderndes und den Menschen in seiner Sünde festhaltendes Gesetz zu einem heilsamen Abschluss führt. Paulus verwendet, um den Wechsel der Zeit zum Ausdruck zu bringen, in 3,23–25 das Bild des antiken ‚Pädagogen’ , dem der unmündige Knabe zur Beaufsich­tigung und zur Vermittlung von Verhaltensregeln anvertraut wird, bis er volljährig ist (EWNT 3, Sp. 4). In 4,1–7 nimmt der Apostel das Motiv des Zeiteinschnitts erneut auf. Er erweitert das verwendete Vergleichs­material und hebt hervor, dass der unmündige Erbe bis zu dem vom Vater vorgesehenen Zeitpunkt dem Verwaltungspersonal unterstellt ist und sich, obwohl virtuell ihr Herr, in nichts von ihnen unterscheidet. Erst zu dem genannten Zeitpunkt erhält er die rechtlich relevante Stellung als Sohn und Erbe. Die dann überwundene Zeit der Unmündigkeit bezeichnet Paulus als Zeit, in der die künftigen Söhne/Kinder Abrahams „unter dem Gesetz“ verwahrt sind (3,23; 4,5). In 3,26 qualifiziert Paulus die Sohn- oder Kindschaft, die für ihn mit dem Glauben an das Evangelium beginnt und die der Zeit der Unmün­digkeit ein Ende setzt, als Gottessohnschaft bzw. Gotteskind­schaft. An ihr haben alle teil, die glauben und durch die Taufe in Jesus Christus hineingenommen sind. Durch diese Zugehörigkeit zu ihm sind sie Einer in Christus und damit (wie er und mit ihm) Same Abrahams und der ihm gegebenen Verheißung gemäß Erben (3,26–29). Darin, dass sie in ihm Einer sind, ist im Übrigen auch der von Paulus gebrauchte Begriff der Gottessohnschaft, der begrifflich Christinnen auszuschließen scheint,in der Sache zum Begriff der Gotteskindschaft verwandelt - so wie im Rahmen dieser Aussagen der Begriff „Bruder“ nur in der Bedeutung „Geschwister“ Sinn macht.
In die zuletzt beschriebene Argumentationsfolge in 3,26-29 eingebettet ist eine Zusage, die fraglos von Beginn an zu den besonders lockenden Seiten des paulinischen Evangeliums gehört hat: In Jesus Christus, in den die Glaubenden und Getauften hineingenommen sind, sind alle ethnischen (Juden/Griechen), sozialen (Herr/Sklave) und geschlechts­spezifischen (Mann/Frau) Unterschiede aufgehoben. Paulus selbst hat in seinen Briefen vor allem die Bedeutung der Gleichstellung von Juden und Nichtjuden in der Gemeinde Jesu Christi entfaltet, die Frage der Konsequenzen für die Stellung von Sklaven (1 Kor 7,17–24; Phlm) und Frauen in der Gemeinde (1 Kor 11,2–16) gelegentlich berührt. In neuerer, politisch brisanter Zeit ist die bahnbrechende Feststellung der Unterschiedslosigkeit von Juden und Nichtjuden in der Gemeinde Jesu Christi zu einem wichtigen Orientierungsmerkmal und zugleich zu einem Stein des Anstoßes geworden.
Im 23. März 1933 beraubte das NS-Regime auf der Grundlage einer Abstimmung im Reichtstag die jüdischen Deutschen ihrer Staatsbürgerschaft, am 7. April 1933 erließ es den sogenannten Arierparagrafen und verfügte damit die Entlassung der jüdischen Beam­ten aus dem Staatsdienst. Als daraufhin die von den Deutschen Christen dominierte Synode der Kirche der altpreußischen Union, die etwa die Hälfte der Protestanten in Deutsch­land vertrat, den Paragrafen in die kirchliche Gesetzgebung übernahm und ihre Pfarrer jüdischer Herkunft in den Ruhestand versetzte, initiierte Pfarrer Martin Niemöller den Pfar­rernotbund, dem bis zum Jahresende etwa ein Drittel der Pfarrerschaft beitrat. In den Debatten um Recht- und Unrecht­mäßigkeit des Kirchen­gesetzes nun spielte jene Stelle Gal 3,28 eine wesentliche Rolle, so z.B. in dem Gutachten der Marburger Theologischen Fakultät von 1933. Wenn das Schriftwort galt: „In Jesus Christus ist weder Jude noch Grieche …“, dann war eine Ausgrenzung der Pfarrer und im weiteren Verlauf auch der anderen Christinnen und Christen jüdischer Herkunft eine Missachtung des Evangeliums, d.h. eine Verleugnung sei­ner in Taufe und Glaube befreienden Kraft. Blut im rassistisch-völkischen Verständnis der Nationalsozialisten war mithin für die Deut­schen Chris­ten selbst dicker als Taufwasser – paulinisch gesehen ein schwerlich zu übertreffender Sieg des Fleisches über den Geist. Die neue Familie Gottes, erweitert um die Völker und geleitet vom Prinzip der Einheit und Gleichheit der Verschiedenen in Christus, war zerstört.
Dies ist zu beklagen und als Unrecht zu benennen, aber kein Grund zur Überheblichkeit. Wie lange haben die Kirchen gebraucht (und brauchen zum Teil immer noch), um die paulinische Freiheitsbotschaft hinsicht­lich der beiden anderen Paare „Freier und Sklave“ und „Mann und Frau“ in der Gemeinde Jesu Christi evangeliumsgemäß zu leben – nicht länger von den „Zwängen der Welt“ (4,3) bestimmt, sondern in einen Prozess der Verwandlung hineingenommen. Die Kraft des paulini­schen Evan­geliums erweist sich deshalb nicht dadurch, dass es sich gegen das Judentum und sein – gleichfalls angefochtenes – Leben in der Treue zur Tora wendet. Vielmehr richtet sich das Evangelium als Erstes an die christliche Gemeinde selber und fragt sie nach Manifestationen des Geistes und der Kraft (1. Kor 2,4) in den genannten und weiteren Beziehungen. Diese Wirkungen des Geistes  werden von Paulus alsbald im Anschluss an Kap. 3–4 in Gal 5,13–6,10 entfaltet, insbesondere in 5,22. Den dortigen Katalog durch die Menschenrechte (und –pflichten) zu interpretieren steht der Kirche wohlan – in Übereinstimmung mit der Weisung des Apostels in Phil 4,8: „Was wahrhaftig ist, was ehrbar, was gerecht …, darauf seid bedacht!“ In diesem Sinne ist „die Wahrheit des Evan­geliums“ eine Kraft, die ihre ganze befreiende Wucht zuallererst an der Gemeinde Jesu Christi selber erweisen will, um von dort aus durch die verbal, sakramental und ethisch gelebte Dreiheit „Glaube, Hoffnung, Liebe“ weiterzuwirken in der nicht niederdrückenden, sondern auf ihre Weise befreienden Gewissheit, dass alles menschliche  Wissen (und Tun) Stückwerk ist (1. Kor 13,9).

3.3. Geistliche Abrahamkindschaft?
Paulus beschließt den Zusammenhang 3,26-29, indem er zur Abrahamkindschaft der ans Evangelium Glaubenden zurückkehrt. Weil sie Einer in Christus sind und dieser selbst Same Abrahams ist, darum sind auch sie selber es und der an Abraham ergangenen Verheißung gemäß Erben (3,29). Nun hat allerdings die Gewissheit, dass auch die Glieder der Gemeinde Jesu Christi Kinder Abrahams sind, im weiteren Rahmen des jüdisch-christlichen Gesprächs eine kräftige kalte Dusche erhalten. So hat Edna Brocke in einem Artikel in der Zeitschrift „Kirche und Israel“ (24, 2009, S. 157-162: Aus Abrahams Schoß? Oder warum es keine „abrahamitischen Religionen“ gibt) bestritten, dass sich Christen legitim zur Nachkommenschaft Abrahams rechnen dürften. In biblischer Tradition sei sie ethnisch, d.h. durch leibliche Volkszuge­hörig­keit, begründet. Deshalb könnten allein die leiblichen Nachkommen Abrahams, d.h. Isaak und Ismael und mit ihnen Juden und Muslime, für sich reklamieren, zu Abrahams Samen zu gehören. Christen stünden demgegenüber außerhalb dieser Abrahamzu­gehörig­keit.
Nun können kalte Duschen durchaus ihr Erfrischendes, ja ihr heilsam Aufschreckendes haben. In diesem Sinne mag die Skepsis gegenüber einer christlichen Abrahamkindshaft zunächst noch verstärkt werden. In der bereits berührten jüngeren deutschen Geschichte und Kirchen­geschichte gab es eine Situation, in der Christinnen und Christen ihre Abrahamkindschaft wie nie zuvor im Sinne eines „Erweises des Geistes und der Kraft“ hätten unter Beweis stellen können. So wurden in der NS-Zeit den Vornamen der jüdischen Deutschen in ihren Personal­ausweisen in einem Akt der Willkür ein „Sara“ oder „Israel“ hinzugefügt, um sie als Jüdinnen und Juden zu identifizieren und auszugrenzen. Hätten damals – im Nachhinein eine wohlfeile und doch nicht abzuweisende Erwägung – Christinnen und Christen nichtjüdi­scher Herkunft ihrem Namen – ihrem christlichen Selbstverständnis nach wahrheitsgemäß – ebenfalls einen der beiden Namen hinzugefügt, sie hätten ein für allemal ihre Abrahamkindschaft versiegelt. Diese Überlegung geschieht, wie angedeutet, aus der Distanz von 80 Jahren und besagt nicht, dass die später Geborenen in jener Situation Einsicht und Mut zu einem solchen strafrechtlich relevanten Schritt gehabt hätten. Aber die Erwägung vermag doch eine Richtungsangabe zu sein, unter welchen Voraussetzungen allein sich – ungeachtet des Neins von Edna Brocke – von einer christlichen Abrahamkindschaft sprechen lässt. Sie ist schwerlich anders zu denken denn als eine bleibende und schützende, je und dann auch kritisch-solidarische Verbundenheit mit den älteren und jüngeren Ge­schwis­tern der Abrahamfamilie, zuerst mit den Juden und auch mit den Muslimen und beides je auf seine Weise. Wenn es denn, wie es der Galaterbrief bezeugt, nach dem Neuen Testament, eine spirituelle Abraham­kindschaft gibt und die Christenheit daran mit Paulus festhält, dann kann sie es mithin begründet nur in dem Maße, in dem sie diese Gabe durch ein Leben in der Kraft des Evan­ge­liums bewährt.
In der Frage, ob es überhaupt Sinn macht oder vertretbar ist, von einer spirituellen Abrahamkindschaft zu sprechen, geben die Ergebnisse der historisch-kritischen Forschung, die Bibel Israels und die jüdische Tradition gleichermaßen Anlass zu weiteren Überlegungen. Der historisch-kritischen Forschung, auf jüdischer wie auf christlicher Seite,  ist Abraham als historische Gestalt im enge­ren Sinne bekanntlich mehr und mehr entglitten. Er ist zu einem Ahnherrn geworden ist, der erzäh­lerisch kreativ gestaltet ist und dem Ringen um die Gewissheit von Ursprung und Identität des jüdischen Volkes entstammt. Man wird die ethnisch-leibliche Ab­stammung deshalb schwerlich zu einem solchen Aus­schließ­lichkeitsmerkmal machen können, wie es in dem zitierten Artikel geschieht. Dies gilt umso mehr, als dieses Merkmal mit dem Gewinn von Proselyten allemal durchbrochen ist. Denn die Beschnei­dung stellt anders als die Geburt von einer jüdischen Mutter keine ethnische Verwandtschaft im leib­lichen Sinne her, sondern ist, auch wenn sie „am Fleisch“ vollzogen wird, ein symbolischer, von der Spiritualität seiner Deutung bestimmter Akt. Ohne die begleitenden, konstitutiven Worte wäre er bestenfalls die Beseitigung einer Phimose. Im Fall von Proselytinnen beschränkt sich der leiblich-symbolische Akt  dazu auf ein Tauchbad, das schwerlich in einem krassen Gegensatz zur Taufe steht. So haftet der Stellung­nahme Edna Brockes vielleicht doch etwas von dem alten „Wir ja - ihr nicht“ an, sosehr die Verfasserin durch christliche Ansprüche dieser Art provoziert sein mag und die christliche Seite mit Recht dazu zwingt, sich über die Bedingungen ihrer Rede von Abrahamkindschaft Rechenschaft abzule­gen. Im Horizont der berührten Fragen gehört es im Übrigen zu den ermutigenden Erfahrungen, dass sich vor Jahr und Tag, als mit phantasiereichen Unterstellungen propagiert wurde, die Beschneidung eines jüdischen Säuglings unter Strafe zu stellen, umgehend auch von kirchlicher Seite dagegen protestiert wurde.

3.4. Vom Tole zum Märtyrer
Wie angedeutet ist das Scharnier, in dem die Tür des Galaterbriefes schwingt, die Verkündigung der Hingabe Jesu Christi am Kreuz. Das leibliche Auge sieht in dem am Kreuz Hängenden einen Gescheiterten, das biblische geschulte einen Verfluchten (5. Mose 21,23). So - im Zeichen dieses Wortes aus der Tora - hat Paulus den Gekreuzigten wohl bereits in seiner Zeit als Pharisäer und dann auch als Apostel gesehen, mit einem freilich gravierenden Unterschied. Im Zeichen der Gewissheit, dass der schmählich Gehängte lebe, sah sein geistliches Auge etwas anderes: verflucht nicht um seinetwillen, sondern „uns“, den Glaubenden zugute, auf dass sie in einer fluchfreien Zone lebten. Hier hat Luthers bekanntes Wort vom „fröhlichen Wechsel“ zwischen Christus und Christen im Tragen der Schuld seinen Ort.
Im Judentum hat seit der Antike das von 5. Mose 21,23 bestimmte Verständnis des Gekreuzigten vorgeherrscht. Am deutlichsten kommt dies in seiner Bezeichnung als „Tole“ zum Vorschein, eine vulgäre Wiedergabe des hebräischen Ausdrucks talui/Gehängter in 5. Mose 21,23 (vgl. JüdLex IV/2, Sp. 969). Die Erfahrungen, die die jüdische Gemeinschaft mit dem Gekreuzigten im Laufe der Kirchengeschichte durch dessen Anhänger gemacht hat, haben sein abwehrend-abwer­tendes Verständnis als Tole nachhaltig verstärkt. Umso bemerkens­werter ist es, dass in dieses jüdische Jesusverständnis in den letzten beiden Jahrhunderten eine Bresche geschlagen worden ist. Wohl am ein­drücklichsten ist dies durch Marc Chagall geschehen. Auf zahlreichen Bildern, von denen die „Weiße Kreuzigung“ das bekannteste ist,  hat er über Jahrzehnte hin den nach biblischer Maßgabe Verfluchten und damit Ausgegrenzten in sein jüdisches Volk und dessen Geschichte zurück­geholt, indem er ihn als Symbolfigur für das Geschick des Volkes in Leiden und Verfolgung gemalt hat. Deutlicher lässt sich kaum zum Ausdruck bringen, dass man den Gekreuzigten nur noch mit seinem Volk haben kann und nicht gegen es. In der Tiefe stimmt dies mit dem paulinischen Verständnis des Nazareners überein. Denn wenn er sein Leben für Juden und ‚Griechen’/Nichtjuden hingegeben hat, dann kön­nen die, die zu ihm gehören, zwar mit Blick auf einzelne Verhal­tens­weisen, nicht aber generell gegen die einen oder anderen sein.

4. Ausblick: Begonnene Zukunft
Paulus thematisiert im Galaterbrief an zentraler Stelle die an Abraham ergangene Verheißung, in ihm würden alle Völker gesegnet werden, und ebenso die Erbschaft, die mit der Zugehörigkeit zu ihm erlangt wird. Aber er ist bemerkenswert zurückhaltend darin, die Begriffe „Segen“ und „Erbe“ in direktem Zugriff inhaltlich zu füllen. Was den Segen angeht, lässt sich zwar der Sinn aus dem Verlauf von Kap. 3 erschließen. Nach der zentralen soteriologischen Aussage in 3,13–14 besteht er in der Gabe des Geistes, den die Galater durch den Glauben an den verkündigten Gekreuzigten empfangen haben (vgl. 3,1–5.14). Der Segen ist damit identisch mit der Neuschöpfung, die ihnen zuteilgeworden ist (6,15). Völlig unbestimmt bleibt hingegen die Größe „Erbe/ Erbschaft“. Will man diese Lücke nicht durch die volleren Aussagen des Hebräerbriefes (11,8-16 u.a.) oder auch durch die knappe Bemerkung in Röm 4,13 schließen, so scheint es, dass im Brief an die galatischen Gemeinden der Ton ganz auf der Zusage liegt: Die Erbschaft ist mit der Sendung des Sohnes und mit der die Kindschaft anzeigenden Gabe des Geistes bereits angetreten (4,1-7), und sie  will deshalb in den von Paulus in Kap. 5–6 angedeuteten Bahnen gelebt sein. Die entscheidenden Größen, die den Freiheitsbrief des Apostels bestimmen – Glaube, Geist, Kind­schaft, Segen, Erbe – sind Elemente der paulinischen apokalyptischen Eschatologie und bringen die verheißene Zukunft in die Gegenwart. In diesem Sinne erinnert der Brief an die Galater mit seiner Verkündigung, Lehre und Lebensweisung, dass diese Zukunft nicht durch die Rückkehr in die Vergangenheit zu gewinnen ist (vgl. 4,8-11), sondern dass sie bereits begonnen hat.

Dr. Peter von der Osten-Sacken, Prof. em. für Neues Testament und Christlich-Jüdische Studien an der Humboldt-Universität Berlin. Von 1974 bis 2007 leitete er das Institut Kirche und Judentum. Er zählt zu den Mitbegründern des Programms Studium in Israel. Zwischen 1975 und 1995 veranstaltete er in Jerusalem regelmäßig Blockseminare mit Studierenden in Zusammenarbeit mit dem Institut Ratisbonne und israelischen Kollegen und Kolleginnen.


Geringfügig redigierter Nachdruck  aus: Begegnungen. Zeitschrift für Kirche und Judentum, Heft 2/2014, S. 4-12.

 

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